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06.02.2025, 16:00 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 1: Erste Vorbemerkung

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© congerdesign auf Pixabay

300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren –  darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

*

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

(Johann Wolfgang von Goethe: Gefunden, 1813/15)

Jede Woche werden neue Bestseller-Listen erstellt. Die Feuilletonisten drehen Buchdeckel für Buchdeckel um, um den Roman des Jahres, wenn nicht des Jahrhunderts, zu entdecken. Die Germanisten diskutieren in ihren Seminaren den Literaturkanon der Epochen und die Bibliothekare bauen akribisch und unverdrossen an der globalen Bibliothek, dem kulturellen Gedächtnis der Welt.

Es scheint, als werde nichts dem Zufall überlassen. Jedes Buch wird offenbar wahrgenommen, auf seine Bedeutung geprüft und entsprechend bewertet. Dem Filter der Experten kann im Grunde nichts entgehen; zu engmaschig ist das Netz geknüpft, mit dem sie ihre Fänge an Land ziehen und einem staunenden Publikum präsentieren. 

Aber die Schatzsucher des Literaturbetriebs sind auch seine Totengräber. „Was nicht gleich einschlägt“, konstatiert ein Literaturkritiker, „ist sofort von gestern.“

So schaut man zurück und reibt sich die Augen, was schon alles im Orkus des Vergessens liegt. Über die Gründe des Verschwindens muss von Fall zu Fall berichtet werden, wenn diese überhaupt sichtbar zu machen sind.

Ein Kanon trägt traditionell den Charakter einer gewissen Verbindlichkeit in sich. Das mag man schätzen oder auch nicht. Beim Lesen ist jedenfalls immer wieder ein Abenteuer möglich. Lesen ist gefährlich: Man wird verzaubert, entführt, gefangen genommen. Man könnte wie Don Quijote durch übermäßiges Lesen sogar den Verstand verlieren.

Der Mensch konserviert die Erfahrung der Welt seit Jahrhunderten in Büchern. Sammelt sie, verschenkt sie, legt Bibliotheken an. Sie wecken unsere „Neu-Gier“, wir wollen sie unbedingt lesen, vielleicht sogar besitzen. Aber es gibt so entsetzlich viele. Deshalb muss man notgedrungen auswählen, sonst bekommt man Probleme mit der Statik der Wohnung. Vielleicht auch mit seinem Lebenspartner. Also braucht man eine Auswahl, ein System, eine Ordnung. Dabei spielt natürlich eine Rolle, mit vielen Büchern man durchs Leben kommt. Das ist höchst individuell. Manche Menschen besitzen kein einziges Buch, andere eine umfangreiche Bibliothek. Auch zum Immer-Wieder-Lesen.

Was soll man überhaupt lesen? Diese Frage wird häufig gestellt. Die Antwort kann nur lauten: Alles. Wer liest, freut sich über Entdeckungen. Wer nicht liest, reagiert auch nicht auf Empfehlungen.

Viele Menschen besitzen aber die gleichen Bücher. Offenbar sind wir also nicht so verschieden, wie wir glauben. Oder es gibt andere Gründe wie eine Pflichtlektüre und einen Kanon. Wie oft schon wurde verkündet, der Kanon sei tot. Und dann taucht doch der Wunsch nach verbindlicher Lektüre, nach Übereinstimmung und Bedeutung, ebenso regelmäßig wieder auf.

Mögen Literaturinteressierte das Normative, eine Antwort auf die Frage, was unentbehrlich scheint und was nicht? Man muss sich nichts vormachen. Ohne Listen, ohne einen Kanon, gerät vieles in Vergessenheit, selbst die sogenannten Klassiker. Ob ein Werk Bestand hat, hängt häufig weniger von seiner literarischen Qualität ab als vielmehr davon, wie es rezipiert wurde.

Ein Kanon ist jedenfalls immer eine Provokation, die auf Widerspruch wartet. Eine sportliche Herausforderung. Er ist launisch, verwirrend, unvollständig. Und er beruht auf vielen Fragen, die letztlich alle auf eine einzige hinauslaufen: Wer darf, wer muss unbedingt hinein und wer nicht? Es ist das Türsteher-Prinzip der Literaturgeschichte.

Der Nachteil an Büchern, die keiner kennt, ist, dass sie keiner kennt. Und man kann mit Recht behaupten, dass wer schon den Kanon nicht wahrnimmt, auch keinen Schattenkanon benötigt. Oder vielleicht doch? 

Der Schattenkanon ist meines Erachtens eine Notwendigkeit: Eine Empfehlungsliste mit Büchern, die aus dem Blick geraten sind. In den Schatten gerutscht. Zu Unrecht, sonst wäre das Projekt überflüssig. Denn natürlich ist es gut, wenn bestimmte Dinge – auch Bücher – vergessen werden. Wäre es anders, würde es uns noch mehr überfordern, als wir es ohnehin schon sind. Wir haben, so scheint es, wenig Zeit. Da hilft vielleicht eine Auswahl. Ob man damit am kollektiven Gedächtnis einen Anteil hat, es vielleicht sogar erweitert, oder man nur zum eigenen Vergnügen auf Entdeckungsreise geht, sei dahingestellt. Es gibt keine roten Linien, die lesend nicht zu überschreiten wären.

Damit der Zugriff einfach und möglichst einleuchtend ist, bedeutet das: Die Texte müssen für die Lektüre weitgehend zugänglich sein. Man kann nichts empfehlen, das niemand lesen und überprüfen kann. 

Die Zahl der Bücher ist übersichtlich. Es ist eine Shortlist. Niemand will sich mit einer Vielzahl von Empfehlungen beschäftigen.

Es geht ausschließlich um deutschsprachige Texte und nicht um Übersetzungen.

Dieser Kanon beschränkt sich auf erzählende Texte. Es sollen nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Es handelt sich um unentdeckte Bücher bekannter Autoren. Die genannten Autoren (und ihre Bücher) werden in den gängigen Literaturgeschichten nicht oder selten erwähnt.

Die zeitlichen Grenzen werden bei 1700 und 2000 gezogen. Dreihundert Jahre sind ausreichend für eine Betrachtung.

 

Lesen Sie nächste Woche (13.2.25), warum ein Kanon immer auch einen Gegenkanon impliziert.

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