„Humans of Prague“. Von Veronika Siska
Veronika Siska wurde 1976 in Prag/Tschechoslowakei geboren und emigrierte 1984 mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Westdeutschland. Sie wuchs in München auf und studierte nach dem Abitur ein Jahr französische Sprache und Kultur in Paris, anschließend Germanistik und Slawistik in München und Prag. Zur Zeit promoviert sie über tschechische Nationalmythen an der Universität Regensburg, arbeitet zudem als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Tschechischen. 2003 war sie eine der Gewinnerinnen des Literaturwettbewerbes Europa schreibt. Ich bin der, der angekommen ist der Humboldt-Universität Berlin und veröffentlichte ebenfalls Literaturwissenschaftliches. Seit drei Jahren pendelt sie familienbedingt zwischen München und England.
Mit der folgenden Erzählung beteiligt sich Veronika Siska an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Prag, Ende der Neunziger. Das Zwischengeschoss der Metrostation Můstek, direkt unter dem Wenzelsplatz. Eine Halle, von Dienstleistungswaben durchzogen, das Licht dort weder grün noch gelb. Einheimischen kann es nicht schnell genug gehen, sie stürzen sich die Rolltreppe hinab, Touristen legen ihren Kopf in den Nacken, kneifen die Augen zusammen und wechseln ihren Blick zwischen Stadtplan und Ausgangsbeschriftung. Abgeschlagen sehen sie alle aus.
Beim Aufgang zur Vodičkova die öffentlichen Toiletten, drei offene Panzerglastüren nebeneinander, die Piktogramme abgehängt, dafür jeweils ein handgeschriebener Zettel auf der rechten und der linken Tür. Wer kein Tschechisch kann, ist hier verloren. Die mittlere Tür führt in das kleine Zimmer der Toilettenaufsicht, diese thront in dessen Mitte und beobachtet mit Adleraugen die Schalterfenster zu beiden Seiten. Sie hat unter ihrem blauen Kittel ein Bein über das andere geschlagen und gibt mit dem Fuß der Jazzsängerin Jana Koubková den Takt an, die blechern aus dem kleinen Transistorradio zu ihren Füßen tönt.
Ich: im Laufschritt in meiner Geldbörse kramend, werfe fünf Kronen auf den kleinen weißen Porzellanteller, der in der Durchreiche liegt und schnappe im Vorbeilaufen nach dem ausgelegten Toilettenpapier. Es riecht nach Chlor und Salpetersäure.
Verrichteter Dinge wasche ich mir die Hände, überlege, was ich mit der halben Stunde anfange, bevor ich ins Kino gehe. Aus dem Wasserhahn fließt nur kaltes Wasser, die Seife ist zermatscht. Die Spiegel vor den fünf Waschbecken sind abmontiert und die Löcher in den hellblauen Fliesen nur provisorisch zugeschmiert.
„Sind Sie total bescheuert?“ schreit eine Frauenstimme draußen vor der Toilette, es hallt im ganzen Zwischengeschoss. „Sie sehen doch, dass das der Eingang für Männer ist!“ Ich versuche, meine nassen Hände schnell an der Jeans abzureiben, sie werden nicht trocken, nur klebrig, gehe schnell um die Ecke und stoße vor dem Schalterfenster mit einer Dunkelhaarigen zusammen. Sie macht einen Schritt zur Seite, um mich durchzulassen, weicht mir mit ihrem Blick aus und murmelt „I’m sorry“. Hinter mir höre ich sie durch den Waschbereich laufen, die Kabinentür fällt ins Schloss.
Die spitze Stimme schreit ihr immer noch hinterher und trifft nun mich mitten ins Gesicht: „Wie kann man nur so bescheuert sein? Rechts Frauen, links Männer!“ So, wie sie jetzt vor mir steht, sieht die Klofrau älter aus, ich schätze sie auf siebzig, auch magerer und kleiner. Ich atme tief ein und werfe meine Haare nach hinten: „Was erlauben Sie sich eigentlich ... “ stottere ich, doch weiter komme ich in meinem Was-fällt-Ihnen-ein-wir-sind-nicht-mehr-im-Sozialismus-Spruch nicht, denn während ich schnappend Luft hole, faucht sie kampfbereit weiter: „Latscht die blöde Kuh doch tatsächlich zu den Männern rein! Soll ich sie an die Hand nehmen und ihr hinterher noch den Arsch abwischen oder wie?“ Mein Kopf fängt an zu kribbeln, doch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, verschwindet sie in ihrem kleinen Raum, lässt die Münzen, die sich auf beiden Seiten auf den ausgelegten Tellern angesammelt haben, klimpernd in ihre Kitteltaschen fallen und als sie sieht, dass ich sie immer noch anstarre, knallt sie die dicke Glastür hinter sich zu und schneidet Jana Koubková mitten im Scat ab.
Das Zwischengeschoss der Metrostation Můstek, die grünliche Beleuchtung dort: zu jeder Tageszeit gleich. Vor dem Eingang der Spielhalle immer der gleiche Mann im grauen T-Shirt und schwarzen Sakko, er hat es wohl aufgegeben, die Touristengrüppchen anzusprechen oder er wartet auf die Nacht. Non Stop steht auf der Eingangstür. Auch die Frau hinter dem Ticketschalter der Metro, schätzungsweise Ende zwanzig, sehe ich hier regelmäßig. Ihr Teint passt nicht zum totblondierten Haar und die Brille nicht zum Gesicht. Heute ist sie besonders schlecht gelaunt. „Ja dann kaufen Sie sich eben eine Tageskarte für heute und wenn Sie wissen, was Sie genau wollen, kommen Sie halt nochmal!“ schreit sie gerade gegen die Glasplatte, als ich an der langen Warteschlange vor dem kleinen Fenster in der Wand vorbeigehe. Das betrifft mich nicht, denke ich, und langsam beruhigt sich mein Puls.
Das Musikgeschäft betrete ich durch den Eingang aus dem Zwischengeschoss. Zwanzig Minuten habe ich nun, bevor der Film beginnt, zwanzig Minuten um festzustellen, ob mir meine Entdeckung von letzter Woche auch als Studioaufnahme gefällt oder nicht.
Jazz ist auf der gleichen Etage, keiner weit und breit, aus den Lautsprechern tönt Jiří Stivíns Tenorsaxofon, ich kneife die Augen zusammen, auch hier Neonlichter.
Ich suche das Regal zunächst unter S, dann unter Y ab, schnappe mir The Garden und stehe an der Kopfhörertheke.
„Könnte ich mir das bitte schnell anhören?“
Der Verkäufer lächelt mich an. Langsam holt er ein Gerät aus seiner Schublade und friemelt unbeholfen an der Diebstahlsicherung der CD herum. Schließlich hat er es doch geschafft, die CD aus der Sicherung zu pulen. „Yvonne Sanchez – ist die gut? Ich hab’ schon paar Leute ’ne CD von ihr kaufen sehen.“
„Ich glaube schon“, sage ich und seufze innerlich. Und denke: noch fünfzehn Minuten, das schaffe ich.
Ich höre mir den ersten Song bis zur Hälfte an, zappe weiter, den zweiten, höre die Finger über die Saiten gleiten, den dritten. Ich lege die Kopfhörer auf die Theke.
„Ich würde das Album dann gern nehmen.“
„Hat Ihnen also gefallen?“ Der Verkäufer begutachtet die CD, die er aus dem Player holt, von beiden Seiten.
„Ja“, sage ich, „die Frau ist wirklich gut, ich habe sie letzte Woche live gesehen.“
„Hier? In Prag meine ich?“ Ich nicke und sehe auf meine Uhr, doch den Verkäufer scheint das nicht zu stören.
„Wo kommt sie denn her?“
„Sie ist halb Kubanerin, halb Polin“, sage ich, „wohnt hier in Prag.“
„Kubanerin!“ Der Verkäufer scheint beeindruckt, greift jetzt auch nach der CD-Hülle und studiert das Booklet. „Die ist aber hübsch! Wie alt ist sie denn?“ Jetzt muss ich schmunzeln.
„Ich weiß nicht, ich kenne sie ja nicht persönlich. So um die vierzig vielleicht?“
„Ach. Das würde aber gut passen! Ich bin nämlich grad fünfzig geworden. Glauben Sie, ich würde ihr gefallen?“ Der Verkäufer macht einen Schritt nach hinten, damit ich mir ein Bild machen kann. Ich grinse und versuche, mir die beiden nebeneinander vorzustellen. „Wer weiß? Vielleicht schon?“
„Ich hätte auch was zu bieten, hab’ grad ’n Wochenendhaus auf dem Land geerbt. Hässlich bin ich auch nicht – bisschen dünn vielleicht ... Denken Sie, sie würde so einen Kerl nehmen wie mich?“ Jetzt muss ich laut lachen.
„Na hören Sie mal, was gibt es da zu lachen!“, sagt er und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn vielleicht beleidigt habe. Aber er lächelt weiter, legt die CD zurück in die Hülle, schiebt sie zurück in die Diebstahlsicherung und reicht sie mir über die Theke. Ich greife nach ihr, aber er lässt sie nicht los.
„Meine Mutter hat es mir vererbt. Beziehungsweise geschenkt, also das Wochenendhaus meine ich, sie ist nämlich noch gar nicht tot. Seltsam, nicht? Und ich hab’ mich noch nicht mal bedankt, dabei arbeitet sie nur wenige Schritte von hier ...“ Er sieht an mir vorbei, fixiert etwas hinter mir, doch als ich mich umdrehe um nachzusehen, ist da nichts. „Ich glaub’, sie kriegt noch mal ’nen Herzinfarkt so wie sie sich immer über andere Leute aufregt und über ihre kleine Rente und dass vor ’89 alles besser war ...“ Ich muss kurz an die Toilettenfrau von vorhin denken, die Ähnlichkeit zwischen beiden scheint mir plötzlich unverkennbar. Vielleicht sollte man einfach beide an die Hand nehmen und einen Spaziergang zum Wochenendhaus mit ihnen machen. Ich schüttle unwillkürlich den Kopf und das Bild ist samt den im Moos sprießenden Pilzen brav aus meinem Kopf verschwunden.
Endlich lässt der Verkäufer von der CD ab, zuckt mit den Schultern und das Lächeln ist jetzt doch aus seinem Gesicht gewichen. Ich gehe zur Kasse ohne mir sicher zu sein, dass er das mitbekommen hat. Als ich mich noch einmal umdrehe, lächelt er wieder vor sich hin, nickt gedankenverloren mit dem Kopf zum Rhythmus von Ein ganz normaler, gewöhnlicher Tag um halb sechs und stapelt CDs. Ich lächele auch. Ohne noch einmal auf die Uhr schauen zu müssen weiß ich, dass ich den Film verpasst habe.
**
Das Zwischengeschoss der Metrostation Můstek, im Farbspektrum irgendwo zwischen laubgrün und sandgelb. Erst Monate später, kurz vor dem Ende meines Prager Studienjahres, verirre ich mich wieder in diese öffentliche Halle, aus den Lautsprechern des kleinen Kiosks dudelt Jamie Collum. Von Weitem gafft mir an der Stelle der öffentlichen Toiletten ein riesiges Loch aus der Wand entgegen, die Kabinen sind samt Toilettenschüsseln und Waschbecken aus der Wand gerissen, die Männer- ist mit der Damentoilette verschmolzen. Die Bauabsperrung hat jemand zur Seite geschoben und in roten Graffitibuchstaben Fuck Capitalism auf die noch vorhandenen hellblauen Fliesen gesprüht. Fast bin ich schon an der Baustelle vorbei, da entdecke ich in der hintersten Ecke ein tragbares Radio. Klein ist es und unter dem Baustaub fast unsichtbar.
„Humans of Prague“. Von Veronika Siska>
Veronika Siska wurde 1976 in Prag/Tschechoslowakei geboren und emigrierte 1984 mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Westdeutschland. Sie wuchs in München auf und studierte nach dem Abitur ein Jahr französische Sprache und Kultur in Paris, anschließend Germanistik und Slawistik in München und Prag. Zur Zeit promoviert sie über tschechische Nationalmythen an der Universität Regensburg, arbeitet zudem als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Tschechischen. 2003 war sie eine der Gewinnerinnen des Literaturwettbewerbes Europa schreibt. Ich bin der, der angekommen ist der Humboldt-Universität Berlin und veröffentlichte ebenfalls Literaturwissenschaftliches. Seit drei Jahren pendelt sie familienbedingt zwischen München und England.
Mit der folgenden Erzählung beteiligt sich Veronika Siska an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Prag, Ende der Neunziger. Das Zwischengeschoss der Metrostation Můstek, direkt unter dem Wenzelsplatz. Eine Halle, von Dienstleistungswaben durchzogen, das Licht dort weder grün noch gelb. Einheimischen kann es nicht schnell genug gehen, sie stürzen sich die Rolltreppe hinab, Touristen legen ihren Kopf in den Nacken, kneifen die Augen zusammen und wechseln ihren Blick zwischen Stadtplan und Ausgangsbeschriftung. Abgeschlagen sehen sie alle aus.
Beim Aufgang zur Vodičkova die öffentlichen Toiletten, drei offene Panzerglastüren nebeneinander, die Piktogramme abgehängt, dafür jeweils ein handgeschriebener Zettel auf der rechten und der linken Tür. Wer kein Tschechisch kann, ist hier verloren. Die mittlere Tür führt in das kleine Zimmer der Toilettenaufsicht, diese thront in dessen Mitte und beobachtet mit Adleraugen die Schalterfenster zu beiden Seiten. Sie hat unter ihrem blauen Kittel ein Bein über das andere geschlagen und gibt mit dem Fuß der Jazzsängerin Jana Koubková den Takt an, die blechern aus dem kleinen Transistorradio zu ihren Füßen tönt.
Ich: im Laufschritt in meiner Geldbörse kramend, werfe fünf Kronen auf den kleinen weißen Porzellanteller, der in der Durchreiche liegt und schnappe im Vorbeilaufen nach dem ausgelegten Toilettenpapier. Es riecht nach Chlor und Salpetersäure.
Verrichteter Dinge wasche ich mir die Hände, überlege, was ich mit der halben Stunde anfange, bevor ich ins Kino gehe. Aus dem Wasserhahn fließt nur kaltes Wasser, die Seife ist zermatscht. Die Spiegel vor den fünf Waschbecken sind abmontiert und die Löcher in den hellblauen Fliesen nur provisorisch zugeschmiert.
„Sind Sie total bescheuert?“ schreit eine Frauenstimme draußen vor der Toilette, es hallt im ganzen Zwischengeschoss. „Sie sehen doch, dass das der Eingang für Männer ist!“ Ich versuche, meine nassen Hände schnell an der Jeans abzureiben, sie werden nicht trocken, nur klebrig, gehe schnell um die Ecke und stoße vor dem Schalterfenster mit einer Dunkelhaarigen zusammen. Sie macht einen Schritt zur Seite, um mich durchzulassen, weicht mir mit ihrem Blick aus und murmelt „I’m sorry“. Hinter mir höre ich sie durch den Waschbereich laufen, die Kabinentür fällt ins Schloss.
Die spitze Stimme schreit ihr immer noch hinterher und trifft nun mich mitten ins Gesicht: „Wie kann man nur so bescheuert sein? Rechts Frauen, links Männer!“ So, wie sie jetzt vor mir steht, sieht die Klofrau älter aus, ich schätze sie auf siebzig, auch magerer und kleiner. Ich atme tief ein und werfe meine Haare nach hinten: „Was erlauben Sie sich eigentlich ... “ stottere ich, doch weiter komme ich in meinem Was-fällt-Ihnen-ein-wir-sind-nicht-mehr-im-Sozialismus-Spruch nicht, denn während ich schnappend Luft hole, faucht sie kampfbereit weiter: „Latscht die blöde Kuh doch tatsächlich zu den Männern rein! Soll ich sie an die Hand nehmen und ihr hinterher noch den Arsch abwischen oder wie?“ Mein Kopf fängt an zu kribbeln, doch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, verschwindet sie in ihrem kleinen Raum, lässt die Münzen, die sich auf beiden Seiten auf den ausgelegten Tellern angesammelt haben, klimpernd in ihre Kitteltaschen fallen und als sie sieht, dass ich sie immer noch anstarre, knallt sie die dicke Glastür hinter sich zu und schneidet Jana Koubková mitten im Scat ab.
Das Zwischengeschoss der Metrostation Můstek, die grünliche Beleuchtung dort: zu jeder Tageszeit gleich. Vor dem Eingang der Spielhalle immer der gleiche Mann im grauen T-Shirt und schwarzen Sakko, er hat es wohl aufgegeben, die Touristengrüppchen anzusprechen oder er wartet auf die Nacht. Non Stop steht auf der Eingangstür. Auch die Frau hinter dem Ticketschalter der Metro, schätzungsweise Ende zwanzig, sehe ich hier regelmäßig. Ihr Teint passt nicht zum totblondierten Haar und die Brille nicht zum Gesicht. Heute ist sie besonders schlecht gelaunt. „Ja dann kaufen Sie sich eben eine Tageskarte für heute und wenn Sie wissen, was Sie genau wollen, kommen Sie halt nochmal!“ schreit sie gerade gegen die Glasplatte, als ich an der langen Warteschlange vor dem kleinen Fenster in der Wand vorbeigehe. Das betrifft mich nicht, denke ich, und langsam beruhigt sich mein Puls.
Das Musikgeschäft betrete ich durch den Eingang aus dem Zwischengeschoss. Zwanzig Minuten habe ich nun, bevor der Film beginnt, zwanzig Minuten um festzustellen, ob mir meine Entdeckung von letzter Woche auch als Studioaufnahme gefällt oder nicht.
Jazz ist auf der gleichen Etage, keiner weit und breit, aus den Lautsprechern tönt Jiří Stivíns Tenorsaxofon, ich kneife die Augen zusammen, auch hier Neonlichter.
Ich suche das Regal zunächst unter S, dann unter Y ab, schnappe mir The Garden und stehe an der Kopfhörertheke.
„Könnte ich mir das bitte schnell anhören?“
Der Verkäufer lächelt mich an. Langsam holt er ein Gerät aus seiner Schublade und friemelt unbeholfen an der Diebstahlsicherung der CD herum. Schließlich hat er es doch geschafft, die CD aus der Sicherung zu pulen. „Yvonne Sanchez – ist die gut? Ich hab’ schon paar Leute ’ne CD von ihr kaufen sehen.“
„Ich glaube schon“, sage ich und seufze innerlich. Und denke: noch fünfzehn Minuten, das schaffe ich.
Ich höre mir den ersten Song bis zur Hälfte an, zappe weiter, den zweiten, höre die Finger über die Saiten gleiten, den dritten. Ich lege die Kopfhörer auf die Theke.
„Ich würde das Album dann gern nehmen.“
„Hat Ihnen also gefallen?“ Der Verkäufer begutachtet die CD, die er aus dem Player holt, von beiden Seiten.
„Ja“, sage ich, „die Frau ist wirklich gut, ich habe sie letzte Woche live gesehen.“
„Hier? In Prag meine ich?“ Ich nicke und sehe auf meine Uhr, doch den Verkäufer scheint das nicht zu stören.
„Wo kommt sie denn her?“
„Sie ist halb Kubanerin, halb Polin“, sage ich, „wohnt hier in Prag.“
„Kubanerin!“ Der Verkäufer scheint beeindruckt, greift jetzt auch nach der CD-Hülle und studiert das Booklet. „Die ist aber hübsch! Wie alt ist sie denn?“ Jetzt muss ich schmunzeln.
„Ich weiß nicht, ich kenne sie ja nicht persönlich. So um die vierzig vielleicht?“
„Ach. Das würde aber gut passen! Ich bin nämlich grad fünfzig geworden. Glauben Sie, ich würde ihr gefallen?“ Der Verkäufer macht einen Schritt nach hinten, damit ich mir ein Bild machen kann. Ich grinse und versuche, mir die beiden nebeneinander vorzustellen. „Wer weiß? Vielleicht schon?“
„Ich hätte auch was zu bieten, hab’ grad ’n Wochenendhaus auf dem Land geerbt. Hässlich bin ich auch nicht – bisschen dünn vielleicht ... Denken Sie, sie würde so einen Kerl nehmen wie mich?“ Jetzt muss ich laut lachen.
„Na hören Sie mal, was gibt es da zu lachen!“, sagt er und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn vielleicht beleidigt habe. Aber er lächelt weiter, legt die CD zurück in die Hülle, schiebt sie zurück in die Diebstahlsicherung und reicht sie mir über die Theke. Ich greife nach ihr, aber er lässt sie nicht los.
„Meine Mutter hat es mir vererbt. Beziehungsweise geschenkt, also das Wochenendhaus meine ich, sie ist nämlich noch gar nicht tot. Seltsam, nicht? Und ich hab’ mich noch nicht mal bedankt, dabei arbeitet sie nur wenige Schritte von hier ...“ Er sieht an mir vorbei, fixiert etwas hinter mir, doch als ich mich umdrehe um nachzusehen, ist da nichts. „Ich glaub’, sie kriegt noch mal ’nen Herzinfarkt so wie sie sich immer über andere Leute aufregt und über ihre kleine Rente und dass vor ’89 alles besser war ...“ Ich muss kurz an die Toilettenfrau von vorhin denken, die Ähnlichkeit zwischen beiden scheint mir plötzlich unverkennbar. Vielleicht sollte man einfach beide an die Hand nehmen und einen Spaziergang zum Wochenendhaus mit ihnen machen. Ich schüttle unwillkürlich den Kopf und das Bild ist samt den im Moos sprießenden Pilzen brav aus meinem Kopf verschwunden.
Endlich lässt der Verkäufer von der CD ab, zuckt mit den Schultern und das Lächeln ist jetzt doch aus seinem Gesicht gewichen. Ich gehe zur Kasse ohne mir sicher zu sein, dass er das mitbekommen hat. Als ich mich noch einmal umdrehe, lächelt er wieder vor sich hin, nickt gedankenverloren mit dem Kopf zum Rhythmus von Ein ganz normaler, gewöhnlicher Tag um halb sechs und stapelt CDs. Ich lächele auch. Ohne noch einmal auf die Uhr schauen zu müssen weiß ich, dass ich den Film verpasst habe.
**
Das Zwischengeschoss der Metrostation Můstek, im Farbspektrum irgendwo zwischen laubgrün und sandgelb. Erst Monate später, kurz vor dem Ende meines Prager Studienjahres, verirre ich mich wieder in diese öffentliche Halle, aus den Lautsprechern des kleinen Kiosks dudelt Jamie Collum. Von Weitem gafft mir an der Stelle der öffentlichen Toiletten ein riesiges Loch aus der Wand entgegen, die Kabinen sind samt Toilettenschüsseln und Waschbecken aus der Wand gerissen, die Männer- ist mit der Damentoilette verschmolzen. Die Bauabsperrung hat jemand zur Seite geschoben und in roten Graffitibuchstaben Fuck Capitalism auf die noch vorhandenen hellblauen Fliesen gesprüht. Fast bin ich schon an der Baustelle vorbei, da entdecke ich in der hintersten Ecke ein tragbares Radio. Klein ist es und unter dem Baustaub fast unsichtbar.