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24.01.2025, 11:46 Uhr
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9. Ichenhauser Synagogengespräch: Rafael Seligmann spricht mit Klaus Ceynowa

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Seit 2022 finden in der ehemaligen Synagoge in Ichenhausen, heute ein Museum und Haus der Begegnung, die Ichenhauser Synagogengespräche statt. Die Gespräche haben das Ziel, „von jüdischen Werten ausgehend aktuelle Debatten mit Strahlkraft in die Gesellschaft [zu] tragen, nicht zuletzt angesichts eines immer lauter werdenden Antisemitismus“. Angestoßen wurden sie von dem Schriftsteller, Journalisten, Politologen und Historiker Dr. Rafael Seligmann gemeinsam mit Prof. Dr. Klaus Wolf, Germanist und Lehrprofessor für bayerische Literatur an der Universität Augsburg sowie Vorsitzender der Stiftung zum Erhalt der einstigen Synagoge. Die Gespräche finden vierteljährlich mit prominenten Gästen statt. Das neunte Gespräch führte Rafael Seligmann am 10. Oktober 2024 mit dem Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek Dr. Klaus Ceynowa.

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RAFAEL SELIGMANN: Lieber Herr Ceynowa, ich muss mit einem kleinen Tadel beginnen: Sie haben uns nur zehn Minuten von ihrem „Reich“, der Bayerischen Staatsbibliothek, berichtet. Ich könnte Ihnen zwei Stunden zuhören und bin sicher, den meisten hier Anwesenden ergeht es ebenso. Würden Sie sich beruflich als „leidenschaftlichen Menschen“ bezeichnen? 

KLAUS CEYNOWA: Ja, in gewisser Weise schon. Ich habe ursprünglich Philosophie im Hauptfach in Münster studiert und wurde darin promoviert. Das war Ende der 1980er-Jahre. In Bielefeld gab es eine spezielle Arbeitsagentur für geisteswissenschaftliche Fachberufe. Da bin ich nach der Promotion hin und der Berater sagte: „Herr Ceynowa, Philosophie – da müssen Sie Klinken putzen. Aber ich sehe, Sie kommen aus Paderborn, da sitzt ja Siemens/Nixdorf. Wir schulen Sie um zum Systemtechniker!“ Da habe ich gesagt, das kann es jetzt aber auch nicht sein. Es war mir zwar schon immer klar: Ich will nicht Philosophieprofessor werden, weitere einsame Jahre an einer Habil-Schrift zu werkeln, das ist nichts für mich. Aber irgendetwas in einem kulturellen Umfeld sollte es schon sein. Irgendwie hat es dann geklappt, dass ich in die sogenannte Referendariatsausbildung für das Bibliothekswesen reinkam. Wenn Sie sich einmal lösen von dem, was Sie studiert haben, fragen Sie sich natürlich, was bringen Sie aus dem Studium mit. Wir „lernen“ ja nichts in den Geisteswissenschaften. Wenn Sie Medizin studieren und Chirurg werden, dann können Sie beispielsweise einem Kind den halbabgerissenen Daumen wieder annähen. Solche Erfolgserlebnisse haben Sie nicht in den Geisteswissenschaften. Man hat aber sehr schnell festgestellt: Was man durch das Üben in einem solchen Studiengang lernt, ist ein vergleichsweise fixes analytisches Denken. Und auch die Routine darin: bei allem, was man tut, zwei Schritte zurückzutreten, die Dinge aus der Distanz zu sehen und sich bewusst auch irritieren zu lassen. Immer dahin zu gucken, wo einen was umtreibt, wo man etwas nicht versteht. Und wenn man so an einen Job rangeht, ganz egal, ob das die Bibliothek, ein Verlag, das Lehramt oder ein Museum ist, dann macht das auch sehr schnell Spaß. Weil Sie aus etwas schöpfen, was einem niemand mehr nehmen kann. Das hat sich in fünf Jahren Studium und vier Jahren Promotion so habitualisiert, dass man damit im Bereich des Kulturmanagements recht gut über die Runden kommt. 

Ich würde sagen: Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch insofern, als ich großes Glück hatte, in diesen Job zu einer Zeit massiver Umbrüche zu kommen. Die Digitalisierung war das ganz große Thema. Im Jahr 2007 hatte ich auf einer Konferenz das Dezemberheft des Time Magazine mitgebracht. Da war Jeff Bezos mit seinem immer wölfischen Grinsen abgebildet mit dem Amazon eBook-Reader. Da hieß es schon: Jetzt ist der Tipping Point erreicht, die Bibliotheken sind am Ende. Es gibt in drei Jahren keinerlei Bücher mehr. Wenn Sie es heute sehen: Wir kaufen jedes Jahr immer noch 130.000 gedruckte Bücher, und auch das ist nur eine strikt forschungsrelevante Auswahl! Es werden nicht weniger, es werden eher noch mehr. Gleichzeitig ist die Digitalisierung allgegenwärtig, und im hauseigenen Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek werkeln tagaus tagein 30 Scanner für verschiedenste Formate, das macht schon sehr viel Freude, und da bin ich nach wie vor mit ganzem Herzen bei der Sache.

SELIGMANN: Als ich spürte, der „Boandlkramer“, wie wir in Oberbayern sagen, ist nicht mehr fern, beschäftigte ich mich zunehmend mit meinem Nachlass. Damals schlug mir Professor Wolf aus Augsburg vor, bei Ihnen, Herr Ceynowa, dem Generaldirektor der Stabi, nachzufragen, ob Ihr Haus Interesse an meinem Nachlass hätte. Ich hatte bislang 19 Bücher mit der Hand geschrieben. Das sind pro Buch 2.000-3.000 Seiten, eine ganze Menge. So habe ich bei Ihnen angerufen und da hörte ich endlich jemanden mit Leidenschaft sprechen, der sagt: Das interessiert mich, das wollen wir! 

Mein ganzes Leben gehe ich zu jemanden, dem etwas am Herzen liegt, sei es Lehrer, Professor oder Verleger. Wenn jemand nur abarbeitet, macht mich das wahnsinnig. Bei Ihnen habe ich aber sofort gemerkt, Sie wollen das. Sie haben nach unserem Gespräch nicht einen vorgestanzten Brief geschrieben, sondern kamen nach Berlin, wo ich lebe, und wir sprachen darüber. Sie haben sich Zeit genommen. Wenn jemand mit mir als Schriftsteller so umgeht, dann wird er mit dessen Werk genauso umgehen. Das hat mir imponiert und imponiert mir immer mehr. 

Eine weitere Frage noch: Was ist der Zweck der Stabi als bayerisches Gedächtnis? Wir haben vorhin z.B. Franz Josef Strauß mit seiner Tochter im Bildarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek gesehen. Aber so viele Leute besuchen nicht die Stabi ...

CEYNOWA: Ich versuche so kurz wie möglich zu antworten und muss natürlich relativieren. Gerade als Bayerische Staatsbibliothek sind wir im Bereich Vor- und Nachlässe an Dingen interessiert, die einen Bezug zu Bayern haben. Sie beschreiben ja in Ihrem Werk Ihre Jugend und Ihre vielfältige Lebenssituation in München – das passt wie die Faust aufs Auge. Uns war daher klar, wenn dies angeboten wird, ist das hochinteressant für uns. Grundsätzlich übernehmen wir als wissenschaftliche Universalbibliothek auch Sammlungen, die welt- und deutschlandweit von bleibender Bedeutung sind und zu unserem Sammlungsprofil passen, und auch da ist Ihr Vorlass völlig einschlägig. Als größte geschichtswissenschaftliche Bibliothek Deutschlands ist für uns beispielsweise das stern-Fotoarchiv als zeitgeschichtliches, einzigartiges, weltweit größtes fotodokumentarisches Archiv extrem wichtig. Es umfasst mehr als 15 Millionen Bilder und wurde von uns von Gruner+Jahr übernommen. Dass wir hier so vorgehen können und dies nicht bürokratisch traktieren müssen, liegt daran, dass wir als dem Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst unmittelbar nachgeordnete Behörde ein extrem hohes Maß an Handlungsfreiheit haben. Dieser Staat nimmt seinen Kulturauftrag wirklich wahr. Das zu sagen, ist mir ein echtes Anliegen. Wenn ich also sage, ich möchte Ihren Vorlass haben und ihn auch vernünftig kuratieren, eine Ausstellung daraus machen, ihn restauratorisch betreuen und irgendwann, wenn das Urheberrecht abgelaufen ist, auch digitalisieren, dann kann ich das tun und muss niemand anderen mehr fragen. So kommt auch das Leidenschaftliche hinzu. Wir sagen das jedem, der mit uns Kontakt aufnimmt, und wir sagen auch mal Nein. Weil immer mal Anbieter kommen, die sagen: Wenn wir Euch etwas geben, dann ist das ein Gnadenakt. Dann gehen Sie, Herr Ceynowa, bitteschön auf die Knie und zahlen uns noch 200.000 Euro dafür. Wir hatten kürzlich einen Fall, da wurde uns ein Münchner Nachlass auf einem USB-Stick für 50.000 EUR angeboten. Da habe ich dann sehr höflich abgelehnt, so interessiert sind wir dann doch nicht, und es muss auch nicht jedes „Bavarikum“ in unsere Sammlung.

SELIGMANN: Darf ich kurz dazwischen? Könnten Sie den „immensen“ Preis meines Vorlasses erwähnen? Nur damit die Neugierde gestillt ist. Was haben Sie für den Vorlass gezahlt? 

CEYNOWA: Sie haben ihn uns geschenkt ... 

(fährt fort) Natürlich kaufen wir auch Nachlässe. Grundsätzlich sagen wir aber: Wir bieten Euch auch etwas, was kaum eine andere Institution bieten kann. Weil wir als Gedächtnisinstitution die Dinge „für die Ewigkeit“ sammeln. Das sind jetzt große Worte. Mehrere Milliarden Jahre sind es noch, dann stürzt die Erde in die Sonne, dann ist alles weg, wenn wir uns bis dahin nicht auf den Weg zu einem anderen Planeten aufgemacht haben. Aber für „unbestimmte Zeit“ wird alles, was als Sammlung zu uns kommt, bei uns kuratiert. Es ist Teil des Grundstockvermögens des Freistaates, das heißt, es wird nicht verkauft, verschenkt oder gar ausgesondert. Als zentrale Archiv- und Landesbibliothek Bayerns haben wir diesen umfassenden und zeitlich unbegrenzten Sammlungsauftrag. Sie dürfen uns nicht mit einer kommunalen Bibliothek verwechseln, die circa im Zehnjahresverlauf ihren Bestand einmal komplett umsetzt, also kontinuierlich aussondert, was nicht mehr nachgefragt wird. Und auch nicht mit einer Universitätsbibliothek, die primär entlang des spezifischen Universitätsprofils der Hochschule erwirbt, und wenn Lehrstuhlinhaber weggehen, dann wird das nicht mehr zum Profil Passende gegebenenfalls auch ausgesondert. Wir sondern nichts aus, werfen nichts weg. Was Sie zu uns geben, das bleibt. Und das ist etwas, was eigentlich nur Gedächtnisinstitutionen in öffentlicher Hand leisten können und wofür sie auch von Ihnen als Steuerzahler mit nicht ganz unbeträchtlichen Summen unterhalten werden. 

SELIGMANN: Das meinte ich mit Ihrer Leidenschaft: Sie fangen den Ball auf und blasen nicht nur Luft, sondern wirklich Substanz hinein. Da Sie das Gedächtnis und das stern-Archiv erwähnen, frage ich mich: Wie verbreitet man Gedächtnis? Wie bringt man es ein in die Gegenwart?

Ein simples Beispiel: Die NSDAP errang 1928 2,3 Prozent bei den Wahlen. 1930 waren es 18,8 Prozent. Damit war sie die zweitgrößte Partei. Wiederum zwei Jahre später, 1932, hatte man 32,7 Prozent. Schauen wir uns das Wahlergebnis in Thüringen an, das auch 32 Prozent der AfD hat, oder in Österreich oder in Brandenburg, wo ein Ministerpräsident sich schon gezwungen wähnte, die Wähler zu erpressen und zu sagen, wenn Ihr mich wollt, dann müsst Ihr SPD wählen. Oder in Sachsen, wo man plötzlich mit Parteien spricht, mit denen man normalerweise gar nichts zu tun haben wollte – ich meine nicht die AfD, sondern eine weltweit einmalige Partei, die, wie es nicht einmal Hitler oder Stalin gewagt hat, einer Partei oder einem Bündnis den eigenen Namen zu geben. Selbst Kim-Jong-un bezeichnet sich als Kommunist. – Noch eine Zahl ist ganz interessant: Wenn ich 32 Prozent im Osten für die AfD habe, wenn ich bundesrepublikanisch zusammenrechne: AfD und BSW, dann habe ich ungefähr 30 Prozent (Stand heute). Was ist heute der Unterschied zu damals? Gibt es da Beispiele? Für mich als Historiker ist Fakt, dass von den 70 Prozent, die nicht die NSDAP gewählt hat, ein Großteil auch nicht die Demokratie wollte, weder die Kommunisten noch die Nationalisten noch Splitterparteien. Etwa die Hälfte wollte keine Demokratie. Heute haben wir unter den 70 Prozent demokratische Parteien: die Unionsparteien, die SPD, die Grünen, die Liberalen. Da bestehen doch Unterschiede. 

Wie kann man dieses Wissen, das bei Ihnen in Regalen und Rechenzentren ruht, in die Gesellschaft, in die Forschung, in die Schulen, in die Bildung einspeisen?

CEYNOWA: Auf vielen Wegen. Wobei wir als Bayerische Staatsbibliothek primär für Wissenschaft und Forschung da sind. Vor diesem Hintergrund ist auch klar, dass wir völlig wert-neutral sammeln. Das ist etwas, was viele nicht sehen. Natürlich müssen wir aus der gewaltigen Flut an Informationen zwangsläufig auch selektieren. Wir sammeln aber auch rechts- und linksradikale Literatur. Wir sammeln wehrtechnische Literatur. Wir versuchen im Prinzip für jede Zeit, die wir durchleben, wo wir auch zeitgeschichtlich sammeln, festzuhalten, wie diese Zeit getickt hat. Wir geben nicht alles an jeden raus, da gibt es Regularitäten. Wir versuchen auch gerade durch die Digitalisierung – wir nennen das „Content in Context“ – Instrumente zu schaffen, die den Zugang zu Informationen möglichst frei gestalten. Ich habe zu Anfang ja ausgeführt, dass wir mit rund 4,5 Millionen digitalisierten Werken und einer Vielzahl an Lizenzen für wissenschaftliche Zeitschriften und Datenbanken über den mit Abstand größten digitalen Datenbestand aller deutschen Bibliotheken verfügen. Der ganz überwiegende Teil dessen, was Sie dort an digitalen historischen Dokumenten sehen, ist für eine nicht-kommerzielle Nutzung frei zugänglich: Jeder kann sich darüber informieren, jeder kann die Digitalisate downloaden, vervielfältigen oder über verschiedene Devices erreichen. Ich habe Ihnen vorhin das Werkzeug „International Image Interoperability Framework“ gezeigt, wo Sie sich digitalisierte Werke aus weltweit verteilten Bibliotheken in Ihre eigene persönliche Sammlung und Forschungsumgebung integrieren können. Wir versuchen ein Repositorium, was auch immer weiterwächst – wir haben insgesamt 37 Mio. Medieneinheiten –, so zu öffnen, dass jeder, der sich informieren kann und will, einen riesigen Zugang hat, um sich schlau zu machen. Wir können mit diesem Zugang nur nicht in jedes Haus reinlaufen und sagen: „Bitte lies das doch mal!“ Aber es ist alles frei verfügbar: Wer sich informieren, wer verbürgte Informationen haben will, der findet sie auch. 

Die Frage, wie weit Bibliotheken Orte der Demokratie- und des Community-Building sind, wird ja oft diskutiert. Das sind Themen, denen sich in besonderem Maße kommunale öffentliche Bibliotheken stellen. Wir leben immer noch aus unseren Sammlungen, die immer weiterwachsen, und diese bilden natürlich auch ein unschätzbares Reservoir freier Meinungsbildung, freien Informationszugangs und stärken in diesem Sinne Demokratie. Wir sind nicht nur für Wissenschaft und Forschung da. Sie können nicht erst ab Habilitation aufwärts zu uns kommen, sondern jeder Bürger ab 16 Jahren kann das. Jeder kann sich informieren – nur, er muss es selber tun! Wir haben selbstverständlich Vorlesungsreihen, wo wir aktuelle Sachbücher präsentieren. Wo wir uns immer auch gerade die Publikationen raussuchen, die sich politischen Kontroversen stellen. Auch unsere Ausstellungen gehen oft in diese Richtung. Unsere diesjährige Jahresausstellung zum stern-Fotografen Volker Hinz z.B. zeigt dezidiert politische Fotografie, vergleicht Politik-Stile von einst und heute. Aber wir können nicht direkt sagen: Wir tun jetzt heute etwas, was dafür sorgt, dass das Wahlverhalten bei der nächsten Bundestagswahl sich so und so gestaltet. Damit wären wir überfordert. Und ich glaube auch, dass das eine Überforderung des gesamten kulturellen Sektors ist, wenn manche meinen oder sich zutrauen, dass gerade die Kultur es jetzt richten muss und richten kann. Dafür können wir immer nur zusammen mit vielen anderen „zuständig“ sein und unseren kleinen Unterschied machen. 

Dr. Rafael Seligmann (l.) und Dr. Klaus Ceynowa. Foto: Simon Paintner-Frei

SELIGMANN: Sie haben viele Ballons aufsteigen lassen. Einer, der mich besonders neugierig gemacht hat, war „Künstliche Intelligenz“. Alle haben davon gehört, nicht alle wissen viel darüber. Ich gehöre auch zu denen, die wenig darüber wissen. Was fangen Sie in der Stabi damit an und wie bekommen wir das zu spüren?  

CEYNOWA: Das ist ein Thema, wo ich durchaus leidenschaftlich werde. Ich fange mal ganz „Bottom-up“ an. An der Bayerischen Staatsbibliothek haben wir gerade Künstliche Intelligenz in der Bildähnlichkeitssuche unserer digitalen Sammlungen implementiert. Hier verfügen wir mit unseren gewaltigen digitalen Datenbeständen, die derzeit 62 Millionen Bildelemente enthalten, über genügend „Substanz“, um auch selbstlernenden neuralen Netzwerken hinreichend Material „zum Fressen“ zu geben, so dass die Maschine wirklich interessante Ergebnisse liefert. Was wir natürlich auch tun, ist die Formal- und Sacherschließung der Titel, die wir kaufen, kontinuierlich zu automatisieren. Das sind sehr konkrete Anwendungsszenarien. Selbstverständlich sind wir auch in Feldern unterwegs, wo wir vor allem Schulen und Studierende bei der Herausbildung entsprechender Informationskompetenz unterstützen. Das sind im Wesentlichen die Anwendungsfelder, die wir konkret im Augenblick sehen. Nur sollte man sich nicht täuschen, wenn man die intellektuelle Sacherschließung mit einer Künstlichen Intelligenz-Erschließung vergleicht. Da muss auch auf längere Sicht immer noch jemand hinterher- und nacharbeiten – in einer Intensität, dass er es in vielen Fällen auch sofort selber machen könnte. Wir sind natürlich als Informationsinfrastruktur auch ganz generell gefragt: Wie geht Ihr überhaupt mit dieser Thematik um? Und da haben Sie jemanden hier sitzen, der, sorry, eher eine Minderheitenmeinung vertritt. 

Ich finde: Statt viel über KI zu reden, sollte jede und jeder einfach zunächst mal diese spannenden Tools ausprobieren, und selber sehen, worin ihre Faszination, ihre Möglichkeiten und dann ggf. auch ihre Grenzen und vielleicht Gefahren liegen.

Ich habe Ende 2022 mit dem KI-Kunstgenerator „Midjourney“ angefangen zu experimentieren. Weil ich es einfach unglaublich spannend fand, wie Sie mit Ihren Prompts im Handumdrehen Bilder erzeugen können, wo früher Kreative mehrere Stunden dran waren. Da ist dann sofort vom „Bilderklau“ und massiven Regulierungsbedarfen die Rede. Aber die Maschine verwandelt die Milliarden Bilder, die sie auswertet, in „Rauschen“, um daraus dann ein neues Bild, das hoffentlich Ihrem Prompt entspricht, zusammenzusetzen. Der Faden, der ein individuelles Bild, das in diesen gigantischen Datenpool von Midjourney hineingekommen ist, mit dem dann schließlich prompt-generierten Bild verbindet, ist schon ein sehr, sehr dünner, und er wird immer noch dünner, je mächtiger dieses Werkzeug wird. Das sind Erfahrungen, die man macht, sobald man sich konkret auf diese Instrumente einlässt und mit ihnen vertraut wird. Guckt dahin, wo Euch etwas irritiert und folgt dieser Spur. Das macht auch mehr Spaß, als sich mangels praktischer Erfahrung gleich wieder aufzuregen und Angstzustände zu kriegen, dass irgendwann superintelligente Cyborgs alles übernehmen und Sie es nicht mehr schaffen, rechtzeitig den Stecker zu ziehen. Ich kann da nur sehr zur Entspannung raten.

SELIGMANN: In diesem Land ist schon so viel erfunden worden. Der Verbrennungsmotor, der MP3-Player, die Magnetschwebebahn und tausend andere Sachen. Danach kommt der entscheidende Moment, an dem man in Deutschland immer fragt: Ist das schon marktreif? Kann ich mit dieser Idee weiterkommen? Wo finde ich Geldgeber? Das erste Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte, also der letzten 60 Jahre, die ich bewusst mitbekommen habe, dass in Bayern die Gebrüder Strüngmann präsent waren, und sagten: „Ihr arbeitet mit RNA, das könnte interessant werden für die Krebsforschung. Wir investieren bei Euch Milliarden.“ Diejenigen, die das in Empfang genommen hatten, waren ein türkisches Ehepaar. Ich spreche von BioNTech. Da dachte noch kein Mensch an Corona. Aber ansonsten läuft das hier so nach Schema F. 

Ich bin öfters in Israel. Wenn dort jemand im Militär dient – drei Jahre, in der Spezialeinheit 8200 beispielsweise, die die Aufgabe hat, schnelle Lösungen anzubieten – wenn man sich im Krieg befindet, kann man keine zehn Jahre warten, da zählt jede Stunde. Die Leute, die aus dieser Einheit nach 3-5 Jahren kommen, sind im Hightech-Bereich hochbegehrt. In Deutschland machst du erstmal ein Studium fertig. Dann der Abschluss, am besten Promotion. Wir zwei haben es ja auch getan. Und dann? Dann hat man gelernt, schnell zu denken. Aber an die Selbstständigkeit denkt man nicht. Ich habe mit der Selbstständigkeit mit 64 Jahren begonnen. Da gründete ich meine Zeitung. Es hat geklappt. Lange Rede, kurzer Sinn: Wie kann jemand, der so viel Wissen akkumuliert hat, nicht nur Sie, auch Ihre Mitarbeiter, Ihre Institution, in die Gesellschaft gehen und sagen: Habt mal Mut! Ihr habt etwas erfunden. Statt ein Dreirad ein Fünfrad oder eine neue digitale Erfindung. Habt Courage, nehmt Euch Beispiele, an Amerika, China, Israel, geht in die Gesellschaft. Traut Euch! Das ist ein Grund, warum es hier nicht läuft: Man traut sich nicht, weil man es nicht anders kennt. Wie können Sie als „Herr des Gedächtnisses“ dieses Landes mithelfen, uns mutiger zu machen? 

CEYNOWA: Das ist eine schwierige Frage. Wir können es eigentlich nur sehr mittelbar. Das ist im Grunde die Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Innovation unterstützen und leichter machen. Als Gedächtnisinstitution sind wir eigentlich diejenigen, die die Gegenwart an die Tradition zurückbinden. Weil wir nicht einfach Menschen sind, die in der jetzigen Gegenwart leben, sondern aus der Vergangenheit lernen. In Tradition, Erinnerung und Gedächtnis geht es ja nicht um die Bewahrung des Vergangenen als Selbstzweck, sondern um die informierte Gestaltbarkeit der Zukunft.

SELIGMANN: Als Sie den Vortrag begannen, ist das schon Vergangenheit? Das sollten Sie ja auch auffangen.

CEYNOWA: Ja, es ist natürlich so, dass wir sagen: Ich kann die Zukunft nur verstehen und gestalten, wenn ich „Herr meiner Vergangenheit“ bin. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe das alles nicht und wir würden alles wegwerfen, was wir gerade durchgelesen oder zur Kenntnis genommen haben. Wir wären im Grunde rein gegenwärtige Menschen, die nicht in der Lage wären, sich aus der Vergangenheit heraus an der Zukunft zu orientieren. Nur: Wie wir jetzt mit alldem jungen Menschen Mut machen sollen, Startups zu gründen und nicht eine Bibliotheksreferendariat-Ausbildung zu durchlaufen (lacht), dazu fällt mir jetzt nicht wirklich etwas ein. Aber von einer Bayerischen Staatsbibliothek zu verlangen, dass wir ein Innovations-Tank werden, der Vorbildfunktion hat, so wie VW sich jetzt bitte schön mal reformieren möge – da überschätzen Sie uns, da haben Sie hier den Falschen sitzen.

SELIGMANN: Ich habe schon den Richtigen. (Beide lachen.) Sonst hätte ich Sie nicht, bei allem persönlichen Wohlwollen, eingeladen. Diese Ichenhauser Gespräche sollen Sinn machen. Und Sie können dazu beitragen. 

Ich frage mich Folgendes: Es gibt z.B. TikTok, Instagram, Kurzvideos. Über diese Medienplattformen nimmt ein großer Teil nicht nur jüngerer Menschen die Wirklichkeit, das politische Geschehen, wahr und bildet sich seine Meinung. Die Partei, die damit am professionellsten umgeht, ist die AfD. Sie versteht es, ihrem Publikum passgenau zu erklären, ob das objektiv nun stimmt oder nicht. Die anderen Parteien beschäftigen sich damit, wer könnte als Kanzlerkandidat bequemer sein oder ist der Generalsekretär optimal, der dem linken oder dem rechten Flügel zustimmt. Wir „schlafen“ da, ich sehe eine Ähnlichkeit zu Anfang der 1930er-Jahre. Welche Partei in Deutschland hat als erstes ein Datenverarbeitungssystem genutzt (damals gab es die Hollerith-Maschine)? Das war die NSDAP. Die Nazis waren kampagnenfähig, hatten zwar eine Ideologie, die hundert Jahre zurückwollte. Aber ihre Mittel waren modern. Natürlich können Sie mit ihren Mitarbeitern nicht die Weltrevolution ausrufen. Was mir fehlt, ist aber ein Forum, in dem man Leute zusammenruft: aus Wirtschaft, Wissenschaft, aber auch Arbeiter. Meine Frage lautet: Wie viel Prozent der Mitglieder des Bundestages sind Arbeiter oder Dienstleister?

CEYNOWA: Nicht sehr viele.

SELIGMANN: So ist es. Inzwischen sind das um die 1 Prozent. Auch Parteien, die den Anspruch haben als Linke oder Rosafarbene. Wäre es da nicht fast eine Pflicht zu sagen, wir bilden Foren, versuchen auch Medien dafür zu gewinnen, um unsere Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinzutragen? Und wenn es TikTok ist, weil das mehr gesehen und gelesen wird als Merkur, eine Zeitschrift mit aktuellem Anspruch. Sind Sie da nicht ein bisschen zaghaft mit all dem Wissen, mit all der Dynamik, die ich höre und die ich erlebt habe, um offensiver in die Gesellschaft hineinzugehen und zu sagen, da bestehen Gefahren, da gibt es aber auch Chancen. Hört doch mal zu. Sie haben ganz andere Möglichkeiten. Wäre das nicht eine Idee? 

CEYNOWA: Ja und nein. Also ich kann es leider nur wieder runterdimmen. Was wir mit unserem institutionellen Zuschnitt nicht tun können, ist systematisch und kontinuierlich gegen Fake-News vorzugehen, indem wir sie im Einzelnen konkret inhaltlich analysieren und aufdecken. Was wir aber sehr wohl tun: Gemeinsam mit anderen Institutionen sammeln wir immer wieder Internetausschnitte und auch Ausschnitte der von ihnen genannten Plattformen. Um für längere Zeit vorzuhalten, wie die Gesellschaft etwa im Jahr 2024/25 getickt hat. Damit wir wenigstens die Möglichkeit bereitstellen für nachfolgende Generationen, die Kontroversen vergangener Gegenwarten zu verstehen. Da gibt es beispielsweise ein großes, weltweit verteiltes Programm „Saving Ukraine Culture Heritage Online“, kurz SUCHO, wo wir gemeinsam mit anderen Gedächtnisinstitutionen ukrainische Websites sammeln, die von russischer Seite systematisch torpediert, getrollt und abgeschaltet werden. Um zu zeigen, es gibt eine lebendige Gegengesellschaft in der Ukraine, die Wahrheit artikuliert. Das speichern wir langfristig und langzeitverfügbar, damit man später darauf zugreifen und sich der tatsächlichen Verhältnisse versichern kann. 

Was wir auch tun, ist Formate zu entwickeln, die explizit nicht einen Kulturvermittlungsauftrag vor sich her tragen. So haben wir beispielsweise ein Rip-Off des von der Bayerischen Staatsbibliothek technisch, redaktionell und organisatorisch betreuten Landeskulturportals bavarikon geschaffen. Das heißt bavarikon4U“, wo es zwar auch um „History“ geht, aber eben auch um Crime, People und Spaß, wo wir versuchen, Lola Montez und Ludwig II. in acht Sekunden zu vermitteln – und das funktioniert, wie die Nutzungszahlen zeigen, gar nicht einmal schlecht. So wird auch ein erweitertes und diversifiziertes Spektrum gesellschaftlicher Gruppen erreicht, vor allem eben auch jüngere Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft.

Ich persönlich habe allerdings schon das Gefühl, dass es eine immer stärkere Trennung gibt zwischen kulturellen Szenen, die ganz auf instantane Information abgestellt sind, extrem kurze Aufmerksamkeitsspannen für das jeweils Anstehende und ein rastloses Drängen nach immer Neuem haben, und Kulturen, die gar nicht unbedingt Hochkulturen sind, aber ein gewisses Maß an Anstrengungsbereitschaft, an Durchhaltevermögen verlangen. Es ist nicht umsonst so, dass der neue Kevin-Costner-Film „Horizon“ an den Kinokassen floppt. Er ist auf mehrere Teile mit insgesamt gut 12 Stunden Laufzeit angelegt, und im ersten Teil werden mal geradeso die Plots entwickelt. Das hält kaum einer mehr aus heutzutage, das muten und trauen sich nur noch wenige zu. 

Allerdings beschleicht mich dann auch sofort wieder der Verdacht, dass hinter diesen ganzen Auseinandersetzungen strukturell auch immer der jahrtausendalte Dünkel steht, nach uns (älteren) Gegenwärtigen komme nichts Wesentliches mehr, die Menschheit verblödet nur noch und schaut sich nur noch Mist an. Diese Diskussion haben wir geführt, als das Radio aufkam: Adorno, „Current of Music“. Wir haben sie geführt, als das Video aufkam: „Video Killed the Radio Star“. Oder als DVDs und Blu-Rays erschienen: Das Kino ist tot. Und heute sind wahlweise das Internet insgesamt, die Sozialen Medien oder Netflix an einer angeblich progredierenden Verblödung Schuld. Wir sollten auch in diesen Kontexten die Gedächtnisinstitutionen nicht überfordern oder in pädagogische Anstalten transformieren wollen. Wir stellen „Substanz“ in Form verbürgten Wissens bereit, so dass jeder, der es will, und ohne dafür zahlen zu müssen, sich über alles schlau machen kann, was ihn interessiert und angeht – nur tun muss er das schon selber.

Ein letztes Wort dazu noch: Bescheidenheit auch insofern, als nicht alles Gelebte, Gedachte, Erkannte und Erfahrene tradiert und bewahrt werden muss. Wir alle kommen ganz gut durchs Leben, ohne so genau zu wissen, was unter dem Sand der Zeiten noch alles verborgen liegen mag. Das treibt Sie ja nicht dauernd um, bringt Ihnen nachts keine schlaflosen Nächte, wie Ihnen vielleicht die Ergebnisse von Wahlen schlaflose Nächte bereiten mögen. Man sollte da die Kirche im Dorf lassen.

SELIGMANN: Einspruch, Euer Ehren. Ich möchte Sie überfordern und ich sage Ihnen auch warum: Sie haben ein derartig effizientes Instrument. Das Gedächtnis ist Teil des Gehirns. Das Gehirn kann auch Befehle geben. Man kann sich dadurch immer neue Wege überlegen. Wenn ich z.B. ein Buch schreibe und denke, ich habe jetzt etwas ganz Schlaues begriffen, weiß ich, dass dann der Verlag sagt: Ja, wenn wir 3.000 Stück verkaufen, ist das eine Riesenleistung. Dann drucken sie nach und dann nochmal, und wenn sich 10.000 Stück verkauft haben, dann ist das toll. Aber es ist natürlich nur ein Tropfen, eine Träne im Ozean. Dennoch lautet die Devise: Nie nachlassen, sich immer ein bisschen überfordern. Nicht nur Sie persönlich, da bin ich sicher, Sie sind immer am Ball. Nur um ein weiteres Beispiel zu geben: Ich wusste, wenn ich meinen Vorlass bei Ihnen im Hause deponiere, da ruht der Babylonische Talmud, die jüdische religiöse Gesetzesauslegung. Sie haben mir das Privileg gegeben, dass ich den Talmud anschaue. Jeder hat einen Punkt, der ihm wichtig ist. Jeder sagt, das mache ich jetzt. Es bringt materiell nichts, aber dafür intellektuell und seelisch.

Jeder von Ihnen, der hierhergekommen ist, hat diesen Abend sicherlich genossen. Ich hoffe, Herr Ceynowa, es hat Ihnen auch in diesem Rahmen gefallen. Für mich persönlich ist das einer der wichtigsten Räume meines Lebens. Hier haben meine Vorfahren seit Jahrhunderten gebetet. 

Darf ich abschließend noch eine kleine Episode zum Besten geben: Auf der Fahrt hierher sagte mir die Zugführerin: „Sie gehören in die 1. Klasse. Machen Sie sich keine Sorgen, ich trage Ihnen Ihr Zeug rüber“. Ich nahm den Koffer, sie die übrigen Sachen. Wenn diese alltägliche Menschlichkeit da ist, dazu das Gedächtnis, die Dynamik und der gute Wille – dann ist mir überhaupt nicht bange um dieses Land. Sie, Herr Ceynowa, vertreten das Wissen. Dass Sie zu uns hierhergekommen sind, ist für uns alle ein Geschenk. Ganz herzlichen Dank. 

 

Peter Czoik transkribierte das Gespräch für das Literaturportal Bayern.