„Am Montagmorgen“. Prosa-Übersetzung zu Ivan Klíma von Hana Hadas
Hana Hadas, 1972 geboren, wächst in der ehemaligen Tschechoslowakei und Österreich auf. Nach einem Studium der Slavistik und Kunstgeschichte in München arbeitet sie seit 2001 als freie Übersetzerin und seit 2005 als Tschechischlehrerin an der Münchner Volkshochschule und der LMU München. Sie ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke.
Mit dem folgenden Übersetzungsprojekt zu einem Text des tschechischen Schriftstellers Ivan Klíma beteiligt sich Hana Hadas an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Am Montagmorgen fiel der Bedříšek auf meine Terrasse herunter. Ich saß schreibend am Tisch und mir schien, als hörte ich im Vorraum Schritte. Es war seltsam, denn die Wohnungstür habe ich am Morgen abgeschlossen, und Frau und Kinder waren schon längst aus dem Haus. Ich rief: „Ist da jemand?“
Stille.
Ich blickte mich trotzdem im Vorraum um, und dort in der Mitte stand Bedříšek. Sein Gesicht war ein wenig blutig und er schien auf Krawall gebürstet zu sein. „Sag mal, wie kommst du denn hierher?“
„Ich bin gesprungen!“ Er verschmierte sich das Blut übers Gesicht, machte weiter aber keinen Mucks.
Bedříšek ist fünf Jahre alt und gehört in die Dachgeschosswohnung, die eigentlich gar nicht als Wohnung anerkannt ist. Der Junge hat dunkle, melancholische Augen, lange Ohren und ein Verbrecherkinn – ganz wie der Vater. Er verschmierte immer noch das Blut übers Gesicht und starrte mich an. Der Vorraum hat keine Fenster, beim besten Willen kann man nicht hereinspringen.
„Hierher bist du gesprungen?“
„Ich bin aus dem Fenster gesprungen!“ Bedříšek ist gleichermaßen mit blühender Phantasie und frecher Hinterlist gesegnet. Beides hat er vom Vater. Wenn Bedříšek im Sandkasten ein kleines Mädchen sieht, geht er auf es zu und uriniert ihm auf den Rücken. Das allerdings tut der Vater schon lange nicht mehr. Davon gehe ich zumindest aus.
„Erzähl mir nicht, dass du aus dem Fenster hierher gesprungen bist!“
„Ich bin auf die Terrasse gesprungen!“
Irgendwie musste er hereingelangt sein. Ich ging durch das Schlafzimmer und Bedříšek folgte mir. Die Terrasse ist verständlicherweise betoniert. Zwischen den Blumenkästen mit Kakteen, die meine Frau hier züchtet, bräunte eine kleine Blutlache. Ich richtete den Blick nach oben – das Dachgeschossfenster stand weit offen. „Da raus bist du gesprungen?“
„Genau!“
Es kam mir seltsam vor, dass er nicht weinte – aber vielleicht stand er unter Schock.
„Wo ist denn dein Vater?“
„In der Arbeit!“
„Und deine Mutter?“
„Die Mama ist zum Einkaufen.“
„Wohin denn, Bedříšek?“
„Sie hat mich eingesperrt“, beklagte er sich. „Ich hab mich gefürchtet, also bin ich gesprungen.“
„Hör mal, Bedříšek, tut dir etwas weh?“
„Ja!“
„Was tut dir weh?“
„Alles.“
„Das Köpfchen tut dir auch weh?“
„Das auch.“
Bedříšek ist aber kein weinerliches Kind. Wenn sein Vater, der Sadist, ihn verprügelt, dann starrt Bedříšek ihn nur an. Beide blicken furchterregend drein. Bedříšek ist entweder tapfer oder er spürt keinen Schmerz. Ganz sicher mangelt es ihm am Selbsterhaltungstrieb. Als er das erste Mal im Schwimmbad gewesen war, prahlte einst das Exemplar von seinem Vater, habe sich der Junge angesichts der Wassermengen losgerissen und schwupps, war er in der Tiefe verschwunden. Halb ertrunken wurde er geborgen. Aber Herr Vejr, hatte meine Frau sich gewundert, als sie die Geschichte hörte, das ist doch nicht normal. Sie sollten mit Bedříšek lieber einen Psychologen aufsuchen. Den Psychologen, gnädige Frau, mache ich ihm selbst, wies der Vater sie ab – der Betrüger.
„Und weißt du, wann die Mama wiederkommt?“
„Die Mama kommt nicht. Sie will mich nicht mehr!“
Das alles ist nur eine Ausgeburt seiner blühenden Phantasie. Das Kind weiß selbst nicht, wann es sich etwas ausdenkt und wann es zufällig die Wahrheit spricht / ganz der Vater /, aber auf die Mutter konnten wir nicht warten, und auf den Vater erst recht nicht. Ich schrieb schnell eine Nachricht auf ein Stück Papier.
Liebe Frau Vejrová,
Bedříšek hat sich ein bisschen wehgetan. Wir sind zum Arzt gefahren. Nichts Ernstes, Näheres mündlich.
Ich zeichnete meinen Namen darunter und steckte die Nachricht oben in den Türspalt.
Dieses imposante Haus ist ein Ort unseliger Ereignisse. Es wurde vor dem Krieg von einem Drogistenehepaar erbaut, als Wohnort für sich und ihren Sohn. Der Sohn war ein hoher Gendarmeriebeamter, der nach dem Krieg nach Amerika floh. Das Hausbesitzerehepaar wurde zur Strafe ins Dachgeschoss ausquartiert, in zwei kleine Zimmerchen, die vom Amt gar nicht als Wohnung geführt wurden, angeblich waren dort die Decken um zehn Zentimeter niedriger, als von der Staatsnorm vorgesehen. Natürlich wohnten dort immer Leute. Das Badezimmer hat fast fürstliche Ausmaße, gekachelt bis ganz nach oben zur nicht genormten Decke. Die Hausbesitzerin wurde im Alter von siebzig Jahren eingesperrt, angeblich dafür, dass sie mit Tuzex-Bons handelte. Natürlich wurde auch ihre Hälfte des Herrschaftssitzes zu Gunsten des Staates konfisziert. Als sie festgenommen wurde, musste ihr Gatte, dem man schon längst die Drogerie weggenommen hatte, nicht einmal etwas anstellen, er vergiftete sich mit irgendwelchen Pillen. Man brachte ihn ins Krankenhaus, er kehrte niemals wieder zurück. Sie aber ist zurückgekehrt. Damals war sie dreiundsiebzig. Vom toten Mann erbte sie die nichtkonfiszierte Hälfte des Hauses und die Wohnung unterm Dach. Dort brachte sie ein Jüngelchen unter. Er spielte Akkordeon und kellnerte in einem Nachtlokal. Man munkelte, er wäre ihr Geliebter, aber man konnte sich nur mit Mühe vorstellen, wie es zwischen den beiden wirklich war.
Sie nannte ihn Pepíček, kochte für ihn, wusch seine Wäsche und kleidete ihn auch noch ein. Pepíček war ein sehr ruhiger und höflicher Mensch, wenn er mich sah, zog er immer den Hut gefolgt von den Worten: Grüßen Sie auch die verehrte Gattin von mir! Eines Tages war er verschwunden. Man hätten annehmen können, er hätte eins übergebraten bekommen im Wald, der gleich hinter dem Haus beginnt und durch den wir alle den Weg abkürzen, wenn wir zum Bus eilen. Doch er verschwand samt Akkordeon und dem kleinen Koffer. Ungefähr ein halbes Jahr später bekam ich ein bündiges Schreiben aus Dänemark. Auf der Vorderseite war ein Restaurant eines gewissen Herrn Hansen abgebildet, auf der Rückseite hatte Pepíček geschrieben:
Mir geht es wunderbar und ich bin frei. Grüßen Sie mir alle Herrn Mieter und auch dieses geizige Weib. Mit vorzüglicher Hochachtung,
Ihr Pepa.
Das geizige Weib lebte noch fünf Jahre und gegen Ende ihres Lebens verdummte sie vollends. Sie dachte, man wolle sie bestehlen, und einmal im Monat rief sie die Sicherheit, ihre Sparbücher wären angeblich weggekommen. Die Leute von der Sicherheit kamen, stellten fest, dass alles in Ordnung war und fuhren wieder weg. Als ich mich wunderte, warum sie ihr immer wieder auf den Leim gingen, erklärten sie mir, sie seien verpflichtet, jedem Verdacht nachzugehen. Was, wenn sie tatsächlich jemand einmal überfallen sollte?
Sie sollten traurigerweise Recht behalten, doch da blieb ihr natürlich keine Zeit mehr, um anzurufen. Sie lag totenstill auf dem Bett, was niemand ahnen konnte. Erst einige Tage später fiel uns auf, dass es im Haus irgendwie ungewohnt friedlich war, diesmal waren wir es selbst, die die Polizei riefen.
Sie gelangten in die Wohnung über eine Leiter von unserer Terrasse. Dort war schon ein übler Geruch und am Boden eine getrocknete Blutlache. Nicht nur, dass die Sparbücher weg waren, es wurde auch festgestellt, dass bereits vor vierzehn Tagen jemand zwanzigtausend abgehoben hatte.
Alle aus dem Haus wurden zur Vernehmung geladen, einschließlich mir, etwa ein halbes Jahr nach dem Vorfall. Doch was hätte ich ihnen erzählen sollen? Außerdem hatte ich den Eindruck, der Fall interessiere die Polizei nicht besonders. Es werden auch jüngere umgebracht und was das Geld betrifft – über den Diebstahl von zwanzigtausend regt sich niemanden mehr auf.
„Wohin bringst du mich?“, wollte Bedříšek wissen.
„Zum Arzt!“
„Wird er böse mit mir sein?“
„Natürlich wird er das!“ Ich beschloss, ihn nicht zu trösten. „Warum hast du das überhaupt getan?“
„Die Mama hat mich doch eingesperrt. Ich wollte auch, dass der Papa sauer wird.“
„Du hättest tot sein können!“
„Das wär ich gern.“
„Das wärst du gern?“
„Ja. Dann würde man den Papa wieder einsperren!“
Bedříšeks Vater saß schon des Öfteren im Gefängnis, das letzte Mal vor einem Jahr. Sein offizieller Beruf ist Pfleger in einem Krankenhaus mit einem Gehalt von gerade mal eins acht. Sein eigentlicher Beruf ist Zwischenhändler. Er ist allerdings auch ein bisschen Träumer und Dichter und in erster Linie ist er Betrüger. Unter anderen Verhältnissen, denkt er, wäre er Unternehmer und Geschäftsmann, aber da täuscht er sich. Er wäre in allen Regimen ein Betrüger.
Als er vor vier Jahren in die Wohnung von der armen Ermordeten gezogen war, stattete er mir unter dem Vorwand, er bräuchte einen Schraubenzieher, einen Besuch ab. Er richtete seinen düster finsteren Blick zunächst auf mich, dann auf meine Bücher und mein Mobiliar / zweifellos hatte er Erkundigungen über mich eingeholt und wertete mich irrtümlich als seinen potenziellen Kunden / und sogleich fesselte er mich mit seinen schwermütig melancholischen Augen, riesigen Ohren und dem verbrecherischen Kinn. Die Haare trug er verständlicherweise nach hinten gekämmt und mit irgendeiner Brillantine abgeschleckt, außerdem duftete er nach Kölnisch Wasser. Würden noch alte Jungfern mit Mitgift leben, hätte ich keinen Zweifel daran, ich welcher Branche er tätig war.
Dann folgte sein Eingangsmonolog: Ein Autor wäre nicht imstande, einen solchen zu verfassen und ein Schauspieler ihn zu spielen, denn wie aus der Kunst, zumindest der anständigen, bekannt, wahrt man eine gewisse Zurückhaltung. Ich sollte auf schnellstem Wege begreifen, wo er überall mitmischte, dass er mit allen im Gespräch war und alles regeln und besorgen konnte. Im Konzentrationslager teilte er sich eine Pritsche mit dem Fürsten Schwarzenberg. Mit dem Bruder des Premierministers war er per Du. An den Niagarafällen begegnete er Henry Ford. Er besorgte irgendwelche Silbertabletts für den belgischen Delegierten der UNO. Zu dem Stellvertreter des Innenministers sagte er: „Du Bürschchen denkst, dass du mich übern Tisch ziehen kannst, aber ich durchschau dich wie ein Buch!“ Als er den Honza Schwarzenberg unlängst in Wien besucht hatte, wurde ihm der Habsburger Otto vorgestellt. Ein Mann von Format. Aber natürlich ein Agent. All diese Herren seien Agenten. Die Agenten regierten die Welt – die vereinigte Weltpolizei. Nixon und alle anderen Hampelmänner, die unsrigen werde er gar nicht beim Namen nennen, sind nur ihre Handlanger. Ein anderes Mal, wenn wir mehr Zeit hätten, würde er mir mehr darüber erzählen.
Ich sollte mir nach zehn Minuten vorkommen wie ein dumm dreinschauender Dörfler, der keinen blassen Schimmer hat von der großen weiten Welt. Nach zwanzig Minuten keimte ein Fünkchen Hoffnung in mir, dass ich mich – trotz all dem, was er alles gesehen, erlebt und kennengelernt hatte – ihm gegenüber als würdig erwies.
Sein Auftritt dauerte neunzig Minuten. In der Zeit schaffte er es mich zu belehren, wie er sein Geld verdiente / er geht in einen Antiquitätengeschäft und kauft dort für achthundert einen Velourteppich, der allerdings kein Velourteppich ist, sondern ein unerkannter Perserteppich, und den verkauft er um die Ecke in einem anderen Antiquitätengeschäft für fünfzehntausend /, dass er sich in einem Akademikerstädtchen für eine halbe Million eine Villa bauen würde, dass er eine total dumme aber schöne Frau hat, zwei Söhne aus der ersten Ehe, eine Tochter aus der zweiten Ehe und Bedříšek mit der total dummen aber schönen dritten Frau, dass seine zweite Frau Ärztin war und in dieser Funktion den Schah von Persien kurierte, was ihn allerdings verwunderte, denn auch seine zweite Frau war im Grunde dumm wie alle Frauen, dass sein ältester Sohn ein ordentlicher Dickschädel war, als er ihn einmal zur Strafe ans Tischbein gebunden hatte, biss sich der Sohn so fest in die Holzplatte, dass man ihn da losreißen musste, aber das war richtige Arbeit, sie mussten ihn mit Wasser begießen, und die zweifingerbreite Platte, niemand wollte es glauben, war an fünf Stellen durchgebissen. Ferner teilte er mir mit, er hätte Jura studieren sollen, dann aber kam ihm der Krieg dazwischen, er hätte auch zwei Bücher geschrieben, allerdings keine Zeit am Stück um sie zu lesen, aber er bringe sie mir mal vorbei und sei sowieso der Meinung, das Schreiben würde ohnehin nicht viel einbringen / eine kleine und einzige Pause im Monolog, falls ich mich zu dieser Frage äußern wollte /, er hätte für mich ein schönes Geschirrset, graviertes Silber aus dem Besitz der Kolovrats, eine Zinnkanne, echte Handarbeit aus Slávkov, einige feine Stiche und eine Kommode im Empire-Stil.
Ebenso versäumte er es nicht, mir über seine Festnahme in den fünfziger Jahren zu erzählen. Er sprach darüber mit einer verdächtigten Bescheidenheit, übersprang die meisten Einzelheiten, daher konnte ich nur begreifen, dass er sich / zusammen mit dem Fürsten von Schwarzenberg und dem General Kutlvašer / an einer Verschwörung beteiligte. Die Ziele dieser Verschwörung waren mir nicht klar, aber ich erkundigte mich nicht weiter.
Später sagte mir seine Frau / sie war weder dumm noch hübsch /, er sei festgenommen worden, weil er in der Zeit, als er an der Hauswirtschaftsschule irgendwo im Grenzgebiet unterrichtete, seine minderjährigen Schülerinnen missbraucht hätte. An dieser Mitteilung schien mir nur eine Sache ungewöhnlich, und zwar dass man ihn überhaupt Zutritt in die Schule gewährte und als Lehrer arbeiten ließ.
Im Krankenhaus empfing uns eine sehr strenge Krankenschwester. Ich erklärte ihr, dass mir Bedříšek auf die Terrasse heruntergefallen war, genauer gesagt: sich herabstürzte. Vielleicht auch in selbstmörderischer Absicht.
„Sie sind sein Vater?“
„Nein! Ich bin nur ein Nachbar.“
Sie blickte mich an, als ob sie andeuten wollte, dass meine Rolle in dieser ganzen Geschichte im höchsten Grad verdächtig war, und fragte: „Das Kind hat keinen Vater?“
„Der Vater ist in der Arbeit“, erklärte ich.
„Kennen Sie seine Personalien?“
„Ich versuch’s.“
Wir bekamen es mehr schlecht als recht zusammen. Das Geburtsdatum kannten wir nicht, aber ich gab mein Wort, es im Laufe der Zeit nachzutragen. Die Schwester hatte einen schönen Busen, Bedříšek blickte unentwegt drauf und zeigte sich fasziniert. Ich musste mich für ihn nicht verantwortlich fühlen, dennoch hatte ich Bedenken, was er als Nächstes anstellen würde.
Einen Augenblick später wurden wir ins Behandlungszimmer gerufen.
Der Arzt schaute zunächst Bedříšek an, dann wanderte sein Blick zu mir und schließlich wieder zu Bedříšek. Auf Bedříšek blickte er liebenswürdig, auf mich grimmig. „Sie sind der Vater?“
„Nein, ein Nachbar!“
Meine Antwort hatte ihm offenbar nicht geschmeckt, er drehte sich zu Bedříšek und fragte: „Du hüpfst also aus dem Fenster?“
„Ja!“, antwortete Bedříšek stolz.
„Und was möchtest du einmal werden?“, fragte der Arzt und klopfte ihm an die Stirn. „Fallschirmspringer?“
„Ich werd Polizist“, erklärte Bedříšek.
„Polizist?“, wunderte sich der Arzt. „Warum denn das?“
„Damit ich den Papa einsperren kann“, sagte Bedříšek.
Der Arzt blickte mich vorwurfsvoll an, dann besann er sich, dass ich nicht der Vater war, oder falls doch, Bedříšek mich nicht für solch einen halten würde. Dann ordnete er an, er möge die Augen schließen und fünf Schritte zum Fenster und zurück machen.
„Ich möchte alle Leute einbuchten“, träumte Bedříšek mit geschlossenen Augen. „Den Opa, die Oma, das Fräulein Erzieherin und die Köchin im Kindergarten.“
„Dieses Kind…“, sagte der Arzt und sah mich erneut vorwurfsvoll an. Dann stockte er. „Wie bist du denn gefallen, Bedříšek? Auf die Hände?“
„Ich bin zuerst zur Tür“, erklärte Bedříšek voller Begeisterung, „und weil sie zugesperrt war, bin ich aufs Dach geklettert und dann bin ich gesprungen.“
Der Doktor schrieb uns einen Zettel fürs Röntgen und forderte uns auf, mit dem Ergebnis zurückzukommen.
Wir sitzen im schmuddeligen Wartezimmer, auf einem Rollstuhl neben uns krümmt sich ein halbtotes Mütterchen. Bedříšek macht einen vergnügten Eindruck. Er möchte wissen, wo sich am Rollstuhl der Motor befindet. Dann erzählt er mir ein Märchen. Das Märchen ist verwirrend. Es gibt eine liebe Stiefmutter und einen hässlichen Vater – der Menschenfresser-Kaufmann. Der böse Vater Menschenfresser-Kaufmann schickt seine Söhne in die Welt, damit sie ihm die größte Perle bringen. Wer sie ihm nicht bringt, wird von ihm mit Zwiebeln in der Pfanne gedünstet und aufgegessen.
Ich weiß nicht, ob er sich das Märchen ausgedacht oder nur zusammengestückelt hat, aber in den mit Zwiebeln gedünsteten Söhnen ahne ich das Abbild des grausigen Vaters. Noch bevor Bedříšek die Handlung richtig ausrollen konnte, wurden wir hereingerufen.
Ich hoffe, ich bin bei der der Erwähnung seines Vaters nicht der Einseitigkeit verfallen. Er ist bestimmt nicht solch ein ausgezeichneter Betrüger, der er gern sein wollte. Es mangelt ihm an Professionalität, was ihm eher zur Ehre gereicht – seine Amateurhaftigkeit hat etwas zutiefst Menschliches.
Etwa eine Woche nach seinem Einzug ins Haus hatte er mich zu sich in die Wohnung eingeladen. Er war in feierliche Kleidung gewandet, trug ein schneeweißes Hemd mit perfekt gestärktem Kragen.
Die zwei kleinen Räume unterm Dach waren voll mit alten Möbeln: nichts, was besonders wertvoll gewesen wäre, hauptsächlich Stücke aus dem letzten Jahrhundert, doch auch für die zahlt man heutzutage einiges. Im Vorraum gleich hinter der Tür an einem gänzlich nicht ehrwürdigen Platz hing eine großzügige Leinwand mit einer kubistisch abgehandelten nackigen Dame.
„Hier habe ich einen Picasso“, versuchte er es und zog dabei alle Register. „Leider ist er nicht signiert.“
„Das hier ist kein Picasso“, entgegnete ich barsch. „War er nie und wird wohl nie mehr einer werden.“
Er gab sich etwas niedergeschlagen. „Aber sehen Sie sich mal die Arme an, und diese Schenkel! Das konnte doch kein anderer malen!“
„Jeder anderer“, sagte ich.
„Aber der Herr Professor Matějíček…“
„Herr Vejr“, begann ich vorwurfsvoll, doch ohne seinen Satz zu vervollständigen zog er mich ins Wohnungsinnere, um mir seine Edelstein-Sammlung vorzuführen. Ich wandte ein, gar nichts von Edelsteinen zu verstehen, was ihn aber eher anstachelte. Er entnahm dem Sekretär ein Leinentäschchen, in einem solchen führen Damen Sonnencreme und Mückenabwehrmittel an den Strand, und klopfte ungefähr zehn Röhrchen von Barbituraten und Psychopharmaka heraus. Dann zog er die Stöpsel raus und verteilte die Steinchen auf dem Tisch. Das hier ist ein echter südafrikanischer neunzehnkaratiger Diamant, wohingegen die beiden hier künstlich sind, dieser blaue Saphir stammt aus Indien, des Weiteren zeigte er mir drei Rubine, einen Opal und zwei Gläschen voller tschechischer Granaten. Ein Pillengläschen kippte um, die Granaten kullerten über den Tisch und fielen mit leisem Rasseln zu Boden. Er bückte sich, um sie aufzusammeln. Sein Sakko rutschte dabei nach oben und ich bemerkte, dass sein Hemd hinten mit einem riesigen rotkarierten Flicken versehen war.
Dann führte er mir die Münzsammlung seines Sohnes vor. Die Münzen waren in einem dicken Album angeordnet, auf der Innenseite des harten Einbandes stand mit Schönschrift geschrieben:
Bedřich Vejr – Münzensammlung
Bedříšek am Tage seiner Geburt
von seinem Papa
Ich war nahezu ergriffen.
Im ersten Halbjahr war er mindestens zweimal im Monat gekommen, um mir etwas anzubieten. „Ich hätte da einen herrlichen Barock-Christus, Meister. Ein Schnitzwerk vom Feinsten, gestochen scharf beobachtet!“
Ich sah mir das an. „Aber das ist doch letztes Jahrhundert!“
„Meinen Sie wirklich, Meister? Sehen Sie sich doch den Faltenwurf an!“
Aber er bestand nicht weiter darauf und führt mich zum Glasschrank, um mir eine aus Silber getriebene Schüssel aus dem Besitz der Familie Piccolomini zu zeigen. Eine Arbeit aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Das nächste Mal ist er zu mir gekommen, um mir einen echten Hamadan anzubieten. Ich wusste nicht, was ein Hamadan sein soll, ich verstehe von Teppichen ungefähr genauso viel wie von Diamanten. Der Hamadan lag unter der Treppe, eine riesige Rolle, mindestens vier mal fünf Meter groß. Er rollte ihn ein wenig für mich auf. Durch die Schmutzschichten schimmerten grelle Farben.
„Was sagen Sie dazu?“ Er strahlte übers ganze Gesicht.
„Starr vor Dreck“, sagte ich.
„Na ja“, gab er zu, „wenn Sie wüssten, wie er eingelagert wurde. Aber was für ein Werk. Erste Jahrhunderthälfte!“
Welches Jahrhundert, wollte er nach den Erfahrungen mit dem Barock-Christus lieber nicht sagen.
Am nächsten Tag sah ich ihn, wie er den wertvollen Hamadan zur Teppichstange schleifte. Der Teppich war noch größer, als er mir zuvor erschienen war, so zusammengerollt unter der Treppe. Dann zog der stolze Besitzer einen Schlauch aus dem Garten und machte sich daran, den Teppich mit einem mächtigen Strahl Wasser zu besprengen.
Ich betrachtete von der Terrasse aus fasziniert, was er tat und mit noch größerer Faszination, was der Teppich tat. Von der Oberfläche des Teppichs verflüchtigte sich mit dem Dreck auch die Farben. Der Teppich wurde vor meinen Augen immer blasser, während auf dem Betonpflaster Rinnsale anilingefärbten Wassers hinabflossen.
Ich denke, auch er war von dem Ergebnis des Reinigungsbades verdutzt, aber da er nun mal angefangen hatte, war er nicht gewillt, wieder aufzuhören. Dann fiel aus der Mitte des Teppichs ein Gewebestück heraus, oder besser gesagt: es fiel nicht heraus, sondern löste sich auf! Es war nicht mehr vorhanden.
Nachdem er endlich den Wasserstrahl abgestellt hatte, hing auf der Teppichstange ein grauweißer löchriger Fetzen. Herr Vejr blickte zu mir hoch, breitete die Arme aus und verschwand im Haus.
Bald darauf besorgte er sich ein blaues Nutzfahrzeug, einen Fünftonner.
„Wozu brauchen sie einen Lastwagen?“, fragte ich neugierig.
„Sowas kann man immer brauchen“, erklärte er mir. „Und gekriegt hab ich ihn für n Appel und ein Ei. Sechstausend“, sagte er „und natürlich etwas Bakschisch!“
Zwei Tage lang scharwenzelten irgendwelche Leute um den blauen Lkw, Vejr zog die Plane ab und wieder hoch und setzte sich wichtigtuerisch hinters Lenkrad. Wie ein kleiner Junge. Seitdem steht der Fünftonner schon das dritte Jahr bewegungslos vor dem Haus, aus den Reifen tritt langsam die Luft aus und die blaue Farbe rostet.
Vor nicht mal einem Jahr hatte er sich einen gebrauchten Morris Marina gekauft, angeblich von der britischen Botschaft. Diesmal hatte er wohl ausnahmsweise die Wahrheit gesagt. Wer sonst in Prag würde einen englischen Gebrauchtwagen besitzen? Der Schlitten war von erbsengrüner Farbe, die Sitze kükengelb, an den Seite prangte das Emblem: British Leyland.
„Auch für n Appel und ein Ei?“, fragte ich interessiert.
„Dreißig Riesen“, verkündete er stolz. „Versuchen Sie mal, ihn für fünfzig zu kriegen!“
„Ich würde ihn nicht wollen“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich hätte Angst, keine Ersatzteile zu bekommen.“
„Aber ich bitte Sie, Meister. Ich schreib dem Loisl nach London, und der schickt mir, was ich brauche.“
Ich weiß nicht, wer dieser Loisl ist, verstehe aber, dass ein Hehler vom Fach einen Morris Marina braucht. Lautlos fährt er zum Haus der alten Dame vor, die einen Barockengel zum Verkauf inseriert hat. Er entsteigt dem erbsengrünen Schlitten, zieht seine Lederhandschühchen aus, küsst der Dame die Hand, stellt sich vor: Privatdozent Vejr. Und redet und redet über Gott und die Welt, von Renaissancetruhen aus dem sechzehnten Jahrhundert, von gotischen Madonnen aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, von Doktor Vojtíšek und Professor Bruncvík und nebenbei erwähnt er seinen Besuch bei Chagall. Der alten Dame schwirrt der Kopf und schließlich überlässt sie es ihm, den Preis zu nennen. Und er gibt ihr tatsächlich dreitausend weniger, als es sich für einen Barockengel gehören würde. Das erste Problem dürfte allerdings darin bestehen, dass der Barockengel gar nicht barock ist, was er nicht merkt, und das zweite darin, sollte man aus einem erbsengrünen Marina vor dem Haus der alten Dame aussteigen, dass dieses edle Gefährt von British Leyland fahrtauglich sein muss. Fahrtauglich war es sechs Wochen lang, dann fiel das Getriebe auseinander.
Seitdem steht der grünflankige Marina aufgebockt gleich neben dem blauen Fünftonner, von wo der Rost herübergreift. Und der Loisl schickt kein Getriebe.
Bedříšek wurde von der Schwester hereingeführt. „So, jetzt kann der Papa schauen, was wir hier haben: leider sind die Handgelenke gebrochen und die Fingerknöchel verstaucht!“
„Ich bin nicht der Papa!“
„Sie sind nicht der Papa?“
„Nein, ich bin der Nachbar.“
Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu, wie wenn man einen Menschen anschaut, der sich weigert, seinen Nachwuchs anzuerkennen, selbst wenn er ein uneheliches Kind sein sollte. Ich war es nicht mehr wert, dass man das Wort an mich richtete, sie drehte sich zum angehenden Polizisten und sagte sanft zu ihm: „Bedříšek, du gehst jetzt wieder zum Herrn Doktor, der dir den Zettel gegeben hat, ja?“
Sie drückte mir den Metallstab in die Hand, auf dem die Bilder aufgezogen waren, und ich eilte mit Bedříšek zurück zur Ambulanz. Als wir auf der weißen Bank im Wartezimmer Platz nahmen, bemerkte ich, dass das Kind mit den gebrochenen Handgelenken und gestauchten Fingern lächelte – auf seinem Gesicht spiegelte sich der Ausdruck einer inneren Freude. Er merkte gar nicht, dass ich ihn beobachte, so sehr war er in sich gekehrt. Sein verletztes Händchen verschwand immer wieder in der Hosentasche, als suchte er etwas darin.
„Was ist los, Bedříšek, brauchst du etwas?“
Er zuckte kurz und schüttelte schweigend den Kopf, die Hand immer noch in der Hosentasche.
„Was suchst du denn in der Tasche, Bedříšek?“
„Nichts!“
Er zögerte eine Weile, rang mit sich. „Guck mal.“ Er hielt es nicht mehr aus und zog mit seinen verstauchten Fingerchen verschiedene Gegenstände aus der Tasche. Einen Kugelschreiber, eine Pinzette, ein Keramikschälchen und ein Röhrchen mit Tabletten.
„Wo hast du das her, Bedřich?“
„Sie hatte auch einen Apfel dort, aber ich mag keine Äpfel“, entgegnete er.
Die Schwester nahm die Sachen mit liebenswürdigem Kopfnicken entgegen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich bei nächster Gelegenheit herzhaft über die verderblichen Auswirkungen einer verleugneten Vaterschaft auf die Moral der Kinder auslassen würde.
Danach wurde der vom Diebesgut entledigte Bedříšek zum Eingipsen gebracht.
Das letzte Mal wurde sein Vater in der Zeitspanne zwischen dem blauen Lkw und dem erbsengrünen Morris festgenommen. Sie kamen morgens in zwei schwarzen Wolgas vorgefahren, führten eine Hausdurchsuchung durch, konfiszierten dabei einige Antiquitäten und nahmen deren Besitzer mit. Da es in der Dachgeschosswohnung niemals ein Telefon gegeben hat / und auch schwerlich eins vorhanden sein wird, wenn die Wohnung offiziell nicht zum Wohnen gedacht ist /, kam Frau Vejrová, sobald beide Autos weg waren, ganz verschreckt angelaufen, ob sie denn telefonieren dürfte.
„Selbstverständlich. Aber seien Sie vorsichtig“, warnte ich sie. „Mein Telefon wird aller Wahrscheinlichkeit nach abgehört.“
Sie nickte, aber der Ausdruck „abgehört“ sagte ihr offenbar nichts, denn sie bedachte jene, die gerade abgefahren waren, mit keinen sonderlich wohlwollenden Namen. Zum Glück erfolgte das Abhören immer noch inoffiziell und außerdem konzentrierte man sich auf meine Äußerungen – nicht auf die Äußerungen von Nachbarinnen.
Von da kam sie gelegentlich bei mir vorbei. Seit ihr Mann hinter Gittern saß, blühte sie auf. Aus ihrem nicht sonderlich interessanten Gesicht war der abgehetzte Ausdruck verschwunden. In der Regel blieb sie an der Tür zu meinem Zimmer stehen / sie wollte keinesfalls eintreten, wollte nicht länger stören / und fing an zu erzählen. Beim Reden warf sie kokett den Kopf nach hinten, wobei ihre langen und etwas nachgetönten Haare um ihre Schultern flatterten.
So erfuhr ich regelmäßig, wie sich ihr gediegener Gemahl hinter schwedischen Gardinen behauptete. Dass er entgegen seiner Art und seinem Naturell schweigen und sich zu nichts bekennen würde, sein Anwalt wäre der Ansicht, falls es ihm gelänge dichtzuhalten, es für die Anklage nicht einfach würde, weil sie gegen ihn eigentlich nichts in der Hand hätten. Es überraschte mich ein wenig, dass man ihm nichts nachweisen konnte, und ich denke, seine Frau auch.
Zunächst tröstete ich sie, es würde wohl alles gut ausgehen und ihr Mann käme bald frei, bis ich merkte, dass sie das nicht tröstete, sondern eher beunruhigte. Diese Person wünschte sich nichts weniger, als dass ihr Mann bald zurückkäme.
„Wenn er das Gefühl hat, gewonnen zu haben“, sprach sie ihre Befürchtungen aus, „wird es mit ihm komplett unerträglich. Er war jetzt schon so…“, sie hob die rechte Hand hoch über den Kopf.
Ich erfuhr auch, dass Herr Vejr fünfundzwanzig Jahre älter war als sie, so ein zerfledderter Don Juan und Schwadroneur, aber einmal habe er sie betrunken gemacht, Sie wissen schon, ich war dumm und unerfahren, und dann hatte ich auch Angst es wegmachen zu lassen, das konnte ich meinen Leuten nicht antun, so als ledige Frau. Und man sagt, dass aus einem Kind, dass ohne Vater aufwächst, nichts Anständiges wird. Aber was ist er denn für ein Vater? Wenn Sie ihn sehen könnten, ganze vierzehn Tage merkt er nicht mal, dass der Junge da ist, und dann fängt er plötzlich an, mit ihm herumzutollen und ihn zu kitzeln, manchmal kitzelt er ihn so doll, dass Bedříšek davon einen Anfall bekommt, er wird ganz rot und bekommt keine Luft. Und wenn Sie wüssten, was er sich mit mir gegenüber erlaubt…
Das nächste Mal teilte sie mir mit, er habe vom Knast aus angeordnet, dass seine ehemaligen Kumpane, mit denen er das Zeug verschacherte, ihn augenblicklich zehn Tausender zum Lebensunterhalt geben sollten. „Sie versuchten auszuweichen“, erzählte mir die junge Frau und warf den Kopf hin und her, „aber er ließ ihnen ausrichten, er würde sie alle ertränken, sollten sie mir das Geld nicht bringen. Also waren sie gestern hier und ich sollte aufschreiben, dass alles in Ordnung wäre. Ich hab keine Ahnung, wie er das schafft, vom Knast aus“, wunderte sich die junge Frau. „Jetzt stellen Sie sich vor, wie er sich aufführen wird, wenn er freikommt. Er wird sich wie der Herrscher der Welt vorkommen.“
„Aber so schnell kommt er doch nicht frei“, versuchte ich sie zu trösten. „Ich wüsste von niemandem, den man bei uns auf freien Fuß gesetzt hätte, nach einem halben Jahr im Gefängnis.“
„Sehen Sie“, sagte sie und es lag Hoffnung in ihrer Stimme. „Was mich angeht, ich halte alles aus. Ich nehme ihn schon gar nicht mehr wahr – sein Geschwätz, seine Angeberei, aber Bedříšek, der versteht das noch nicht, er hing seinem Papa immer an den Lippen. Und kaum war der weg, versuchte er ihn nachzumachen. Er setzte sich an den Tisch und schrie mich an: bring mir dies, bring mir das, Mutti! Und diese Worte! Wissen Sie, was er einmal zu mir gesagt hat? Du fängst dir gleich eine, du dumme Kuh! Das hat er zu mir gesagt, als ich mich weigerte, den Löffel aufzuheben, den er fallengelassen hat. Glauben Sie, das kommt aus dem Kopf eines Vierjährigen? Und dann hat er einmal gesagt, er lässt alle Leute einsperren, alle wären dumm. Nur er und sein Vater haben die Weisheit mit Löffeln gefressen. Wo kann sowas denn enden? Am Ende wird aus ihm auch ein Verbrecher!“
Die junge Frau wischte sich die Augen ab. „Und jetzt, nach dem halben Jahr, wie hat es sich erholt, mein kleiner Liebling, wie brav er geworden ist, kein schlimmes Wort kommt über seine Lippen. Er hilft mir sogar beim Aufräumen. Wenn sein Papa nur drei Jahre einsitzen könnte“, sagte sie hoffnungsvoll, „der Anwalt meinte, nach weniger sähe es nicht aus.“
Acht Monate saß Bedříšeks Vater im Gefängnis, dann wurde ihm endlich das Verfahren eröffnet.
An dem Morgen klingelte sie bei mir. Sie trug ein neues Kostüm, hatte die Haare beim Friseur machen lassen, reichte mir ihre vor Aufregung feuchte Hand. „Drücken Sie uns die Daumen“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Allein schon wegen Bedříšek.“
Zwei Tage später durfte sie ihren Betrüger nach Hause nehmen. Er wurde mangels Beweise freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, jedoch…
Was für ein Fall! Ich fragte eigens bei meinen Juristenfreunden nach, niemand erinnerte sich an einen ähnlichen Fall in den letzten fünf, ja sogar in den letzten fünfzehn Jahren. Acht Monaten Gefängnis und sie lassen ihn laufen aus Mangel an Beweisen. Wenn er wenigstens in Gewahrsam bliebe. „Dir ist hoffentlich klar, dass sie ihn bestimmt nicht für lau entlassen haben“, machte mich ein Juristenfreund aufmerksam. „Ich meine nicht, dass sie ihn gerade auf dich angesetzt haben, vielleicht ging es ihnen nur darum, dass sich einer von ihnen unter die Hehler mischt. Aber wenn er schon für sie arbeitet…“
In der darauffolgenden Woche kam er runter, um mir eine Fayance Vase aus dem achtzehnten Jahrhundert anzubieten. Als ob nichts gewesen wäre. Ich sagte, ich würde kein Porzellan sammeln, weil dieses bei uns unweigerlich zu Bruch geht. Er tauchte ungefähr eine Woche später bei mir auf und machte mir einen Vorschlag: Er wäre jetzt abgebrannt und müsse auch vorsichtiger sein, mit seinen ehemaligen Kumpanen hätte er abgeschlossen. Ich hätte bestimmt Geld auf der hohen Kante, er wiederum seine Erfahrungen und den einen oder anderen Kontakt. Wenn wir uns zusammentäten, verspreche er mir bis Ende des Monats zwanzig Prozent auf jede eingezahlte Krone. Es war so unverfroren, dass es gar nicht als Provokation gemeint sein konnte. Offenbar geschah es auf seine Initiative. Ich sagte zu ihm, ich wäre kein guter Partner, ich stünde ziemlich unter Beobachtung.
Er machte ein erstauntes Gesicht, als ob sowas auch Leuten zustoßen konnte, die nicht im Geringsten in der Antiquitätenbranche tätig wären, aber er bot mir sogleich an, in meiner Angelegenheit bei einen gewissen Vendelín vorstellig zu werden, der nun der Sekretär des Stellvertreters des Innenministers sei.
Die Tür des Gipsraums ging auf und die Schwester blickte hinaus. „Sie sind der Vater dieses Jungen.“
Ich erhob mich und sie gab mir mit dem Kopf zu verstehen, ich solle ihr folgen.
Bedříšek saß auf einem weißen Schemel, den Arm durch den Gipsverband in Größe angeschwollen.
Vor ihm stand die Ärztin. Sie war so jung und anmutig, dass mir warm ums Herz wurde. „Herr Vejr“, sprach sie streng zu mir, „ist Ihnen bewusst, dass ihr Sohn eine Neigung zum Suizid hat?“
Ich nickte ergeben und überlegte, wie ich die Frau Doktor in ein engeres Gespräch einbinden könnte. Ich fühlte mich nicht nur durch ihr Äußeres verführt, sondern auch durch die Möglichkeit, unter falscher Flagge aufzutreten.
„Sie sollten mit dem Jungen einen Psychologen aufsuchen“, sagte die schöne Ärztin. „Bitte schieben sie den Besuch nicht hinaus, der Experte wird ihnen Tipps geben, wie sie weiter in der Erziehung verfahren sollten. Sie wollen doch sicherlich nicht noch einmal so eine ähnliche Überraschung erleben!“
Sie stand auf, trat auf mich zu und sagte so leise, dass es Bedříšek nicht hören konnte. „Es geht um das Leben ihres Sohnes. Er ist so ein lieber Junge. Und wie tapfer er ist! Er hat nicht einen Mucks von sich gegeben, die ganze Zeit. Es gibt Erwachsene, die schreien wie am Spieß, wenn wir denen den Bruch richten.“
Sie duftete nach frisch gewaschener Wäsche. Wenn hier nur nicht der störrische Spross dieses Betrügers sitzen würde, der mit der größten Wahrscheinlichkeit, Gott möge ihm verzeihen, sich was dazuverdient, indem er persönlichen Tratsch über mich sammelt, würde ich ihr antworten, sie sei bezaubernd und ob ich nicht nach Dienstschluss auf sie draußen warten dürfte. So konnte ich nur sagen: „Seien Sie versichert, Frau Doktor, Bedříšek darf nicht untergehen, er ist für große Taten prädestiniert!“ Ich wollte zwar sagen: Missetaten, konnte mich aber nicht durchringen aus Sorge, sie könnte sich nicht erleichtert fühlen.
Nachdem wir ins Auto gestiegen waren, betrachtete Bedříšek vergnügt seine riesige Hand. „Wenn ich nach Hause komme, verpass ich dem Papa so eine, dass er hinfällt“, freute er sich. „Dann schmeiß ich ihn aus dem Fenster.“
„Hör mal, Bedříšek“, sagte ich. „Ich möchte nicht, dass du uns irgendwas oder irgendjemanden auf die Terrasse schmeißt!“
„Ich schmeiß ihn nicht auf die Terrasse“, beruhigte er mich, „sondern auf die Straße. Damit er stirbt!“
„Warum willst du, dass er stirbt?“
„Damit er mich nicht mehr kitzeln kann. Auch nicht die Mama“, erklärte er.
Frau Vejrová hat uns vom Fenster aus kommen sehen. Sie lief die Treppe hinab und rief: „Bedříšek!“ Dann wandte sie sich an mich: „Ich hab die Tür geschlossen gesehen und das Fenster offen und das Blut auf Ihrer Terrasse! Bedříšek, was machst du für Sachen!“
„Es ist alles gut, Frau Vejrová, alles ist gut ausgegangen.“
„Bedříšek, was hast du getan“, schluchzte Frau Vejrová, „er hat bestimmt wieder Angst gehabt, dass sein Papa früher da ist als ich, aber ich hab zu ihm gesagt, ich hab dir doch gesagt, dass ich gleich wieder da bin!“ Sie drückte Bedříšek fest an sich und hörte nicht auf zu jammern. „Du weißt doch, dass ich dich lieb hab, ich könnte doch gar nicht ohne dich leben. Ich müsste doch auch aus diesem Fenster springen, wenn dir was passiert wär.“
Ich sah Bedříšek in ihren Armen und plötzlich stellte ich erstaunt fest, wie er das Gesicht runzelte und ihm Tränen aus den Augen schossen.
Endlich weinte er.
„Am Montagmorgen“. Prosa-Übersetzung zu Ivan Klíma von Hana Hadas>
Hana Hadas, 1972 geboren, wächst in der ehemaligen Tschechoslowakei und Österreich auf. Nach einem Studium der Slavistik und Kunstgeschichte in München arbeitet sie seit 2001 als freie Übersetzerin und seit 2005 als Tschechischlehrerin an der Münchner Volkshochschule und der LMU München. Sie ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke.
Mit dem folgenden Übersetzungsprojekt zu einem Text des tschechischen Schriftstellers Ivan Klíma beteiligt sich Hana Hadas an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Am Montagmorgen fiel der Bedříšek auf meine Terrasse herunter. Ich saß schreibend am Tisch und mir schien, als hörte ich im Vorraum Schritte. Es war seltsam, denn die Wohnungstür habe ich am Morgen abgeschlossen, und Frau und Kinder waren schon längst aus dem Haus. Ich rief: „Ist da jemand?“
Stille.
Ich blickte mich trotzdem im Vorraum um, und dort in der Mitte stand Bedříšek. Sein Gesicht war ein wenig blutig und er schien auf Krawall gebürstet zu sein. „Sag mal, wie kommst du denn hierher?“
„Ich bin gesprungen!“ Er verschmierte sich das Blut übers Gesicht, machte weiter aber keinen Mucks.
Bedříšek ist fünf Jahre alt und gehört in die Dachgeschosswohnung, die eigentlich gar nicht als Wohnung anerkannt ist. Der Junge hat dunkle, melancholische Augen, lange Ohren und ein Verbrecherkinn – ganz wie der Vater. Er verschmierte immer noch das Blut übers Gesicht und starrte mich an. Der Vorraum hat keine Fenster, beim besten Willen kann man nicht hereinspringen.
„Hierher bist du gesprungen?“
„Ich bin aus dem Fenster gesprungen!“ Bedříšek ist gleichermaßen mit blühender Phantasie und frecher Hinterlist gesegnet. Beides hat er vom Vater. Wenn Bedříšek im Sandkasten ein kleines Mädchen sieht, geht er auf es zu und uriniert ihm auf den Rücken. Das allerdings tut der Vater schon lange nicht mehr. Davon gehe ich zumindest aus.
„Erzähl mir nicht, dass du aus dem Fenster hierher gesprungen bist!“
„Ich bin auf die Terrasse gesprungen!“
Irgendwie musste er hereingelangt sein. Ich ging durch das Schlafzimmer und Bedříšek folgte mir. Die Terrasse ist verständlicherweise betoniert. Zwischen den Blumenkästen mit Kakteen, die meine Frau hier züchtet, bräunte eine kleine Blutlache. Ich richtete den Blick nach oben – das Dachgeschossfenster stand weit offen. „Da raus bist du gesprungen?“
„Genau!“
Es kam mir seltsam vor, dass er nicht weinte – aber vielleicht stand er unter Schock.
„Wo ist denn dein Vater?“
„In der Arbeit!“
„Und deine Mutter?“
„Die Mama ist zum Einkaufen.“
„Wohin denn, Bedříšek?“
„Sie hat mich eingesperrt“, beklagte er sich. „Ich hab mich gefürchtet, also bin ich gesprungen.“
„Hör mal, Bedříšek, tut dir etwas weh?“
„Ja!“
„Was tut dir weh?“
„Alles.“
„Das Köpfchen tut dir auch weh?“
„Das auch.“
Bedříšek ist aber kein weinerliches Kind. Wenn sein Vater, der Sadist, ihn verprügelt, dann starrt Bedříšek ihn nur an. Beide blicken furchterregend drein. Bedříšek ist entweder tapfer oder er spürt keinen Schmerz. Ganz sicher mangelt es ihm am Selbsterhaltungstrieb. Als er das erste Mal im Schwimmbad gewesen war, prahlte einst das Exemplar von seinem Vater, habe sich der Junge angesichts der Wassermengen losgerissen und schwupps, war er in der Tiefe verschwunden. Halb ertrunken wurde er geborgen. Aber Herr Vejr, hatte meine Frau sich gewundert, als sie die Geschichte hörte, das ist doch nicht normal. Sie sollten mit Bedříšek lieber einen Psychologen aufsuchen. Den Psychologen, gnädige Frau, mache ich ihm selbst, wies der Vater sie ab – der Betrüger.
„Und weißt du, wann die Mama wiederkommt?“
„Die Mama kommt nicht. Sie will mich nicht mehr!“
Das alles ist nur eine Ausgeburt seiner blühenden Phantasie. Das Kind weiß selbst nicht, wann es sich etwas ausdenkt und wann es zufällig die Wahrheit spricht / ganz der Vater /, aber auf die Mutter konnten wir nicht warten, und auf den Vater erst recht nicht. Ich schrieb schnell eine Nachricht auf ein Stück Papier.
Liebe Frau Vejrová,
Bedříšek hat sich ein bisschen wehgetan. Wir sind zum Arzt gefahren. Nichts Ernstes, Näheres mündlich.
Ich zeichnete meinen Namen darunter und steckte die Nachricht oben in den Türspalt.
Dieses imposante Haus ist ein Ort unseliger Ereignisse. Es wurde vor dem Krieg von einem Drogistenehepaar erbaut, als Wohnort für sich und ihren Sohn. Der Sohn war ein hoher Gendarmeriebeamter, der nach dem Krieg nach Amerika floh. Das Hausbesitzerehepaar wurde zur Strafe ins Dachgeschoss ausquartiert, in zwei kleine Zimmerchen, die vom Amt gar nicht als Wohnung geführt wurden, angeblich waren dort die Decken um zehn Zentimeter niedriger, als von der Staatsnorm vorgesehen. Natürlich wohnten dort immer Leute. Das Badezimmer hat fast fürstliche Ausmaße, gekachelt bis ganz nach oben zur nicht genormten Decke. Die Hausbesitzerin wurde im Alter von siebzig Jahren eingesperrt, angeblich dafür, dass sie mit Tuzex-Bons handelte. Natürlich wurde auch ihre Hälfte des Herrschaftssitzes zu Gunsten des Staates konfisziert. Als sie festgenommen wurde, musste ihr Gatte, dem man schon längst die Drogerie weggenommen hatte, nicht einmal etwas anstellen, er vergiftete sich mit irgendwelchen Pillen. Man brachte ihn ins Krankenhaus, er kehrte niemals wieder zurück. Sie aber ist zurückgekehrt. Damals war sie dreiundsiebzig. Vom toten Mann erbte sie die nichtkonfiszierte Hälfte des Hauses und die Wohnung unterm Dach. Dort brachte sie ein Jüngelchen unter. Er spielte Akkordeon und kellnerte in einem Nachtlokal. Man munkelte, er wäre ihr Geliebter, aber man konnte sich nur mit Mühe vorstellen, wie es zwischen den beiden wirklich war.
Sie nannte ihn Pepíček, kochte für ihn, wusch seine Wäsche und kleidete ihn auch noch ein. Pepíček war ein sehr ruhiger und höflicher Mensch, wenn er mich sah, zog er immer den Hut gefolgt von den Worten: Grüßen Sie auch die verehrte Gattin von mir! Eines Tages war er verschwunden. Man hätten annehmen können, er hätte eins übergebraten bekommen im Wald, der gleich hinter dem Haus beginnt und durch den wir alle den Weg abkürzen, wenn wir zum Bus eilen. Doch er verschwand samt Akkordeon und dem kleinen Koffer. Ungefähr ein halbes Jahr später bekam ich ein bündiges Schreiben aus Dänemark. Auf der Vorderseite war ein Restaurant eines gewissen Herrn Hansen abgebildet, auf der Rückseite hatte Pepíček geschrieben:
Mir geht es wunderbar und ich bin frei. Grüßen Sie mir alle Herrn Mieter und auch dieses geizige Weib. Mit vorzüglicher Hochachtung,
Ihr Pepa.
Das geizige Weib lebte noch fünf Jahre und gegen Ende ihres Lebens verdummte sie vollends. Sie dachte, man wolle sie bestehlen, und einmal im Monat rief sie die Sicherheit, ihre Sparbücher wären angeblich weggekommen. Die Leute von der Sicherheit kamen, stellten fest, dass alles in Ordnung war und fuhren wieder weg. Als ich mich wunderte, warum sie ihr immer wieder auf den Leim gingen, erklärten sie mir, sie seien verpflichtet, jedem Verdacht nachzugehen. Was, wenn sie tatsächlich jemand einmal überfallen sollte?
Sie sollten traurigerweise Recht behalten, doch da blieb ihr natürlich keine Zeit mehr, um anzurufen. Sie lag totenstill auf dem Bett, was niemand ahnen konnte. Erst einige Tage später fiel uns auf, dass es im Haus irgendwie ungewohnt friedlich war, diesmal waren wir es selbst, die die Polizei riefen.
Sie gelangten in die Wohnung über eine Leiter von unserer Terrasse. Dort war schon ein übler Geruch und am Boden eine getrocknete Blutlache. Nicht nur, dass die Sparbücher weg waren, es wurde auch festgestellt, dass bereits vor vierzehn Tagen jemand zwanzigtausend abgehoben hatte.
Alle aus dem Haus wurden zur Vernehmung geladen, einschließlich mir, etwa ein halbes Jahr nach dem Vorfall. Doch was hätte ich ihnen erzählen sollen? Außerdem hatte ich den Eindruck, der Fall interessiere die Polizei nicht besonders. Es werden auch jüngere umgebracht und was das Geld betrifft – über den Diebstahl von zwanzigtausend regt sich niemanden mehr auf.
„Wohin bringst du mich?“, wollte Bedříšek wissen.
„Zum Arzt!“
„Wird er böse mit mir sein?“
„Natürlich wird er das!“ Ich beschloss, ihn nicht zu trösten. „Warum hast du das überhaupt getan?“
„Die Mama hat mich doch eingesperrt. Ich wollte auch, dass der Papa sauer wird.“
„Du hättest tot sein können!“
„Das wär ich gern.“
„Das wärst du gern?“
„Ja. Dann würde man den Papa wieder einsperren!“
Bedříšeks Vater saß schon des Öfteren im Gefängnis, das letzte Mal vor einem Jahr. Sein offizieller Beruf ist Pfleger in einem Krankenhaus mit einem Gehalt von gerade mal eins acht. Sein eigentlicher Beruf ist Zwischenhändler. Er ist allerdings auch ein bisschen Träumer und Dichter und in erster Linie ist er Betrüger. Unter anderen Verhältnissen, denkt er, wäre er Unternehmer und Geschäftsmann, aber da täuscht er sich. Er wäre in allen Regimen ein Betrüger.
Als er vor vier Jahren in die Wohnung von der armen Ermordeten gezogen war, stattete er mir unter dem Vorwand, er bräuchte einen Schraubenzieher, einen Besuch ab. Er richtete seinen düster finsteren Blick zunächst auf mich, dann auf meine Bücher und mein Mobiliar / zweifellos hatte er Erkundigungen über mich eingeholt und wertete mich irrtümlich als seinen potenziellen Kunden / und sogleich fesselte er mich mit seinen schwermütig melancholischen Augen, riesigen Ohren und dem verbrecherischen Kinn. Die Haare trug er verständlicherweise nach hinten gekämmt und mit irgendeiner Brillantine abgeschleckt, außerdem duftete er nach Kölnisch Wasser. Würden noch alte Jungfern mit Mitgift leben, hätte ich keinen Zweifel daran, ich welcher Branche er tätig war.
Dann folgte sein Eingangsmonolog: Ein Autor wäre nicht imstande, einen solchen zu verfassen und ein Schauspieler ihn zu spielen, denn wie aus der Kunst, zumindest der anständigen, bekannt, wahrt man eine gewisse Zurückhaltung. Ich sollte auf schnellstem Wege begreifen, wo er überall mitmischte, dass er mit allen im Gespräch war und alles regeln und besorgen konnte. Im Konzentrationslager teilte er sich eine Pritsche mit dem Fürsten Schwarzenberg. Mit dem Bruder des Premierministers war er per Du. An den Niagarafällen begegnete er Henry Ford. Er besorgte irgendwelche Silbertabletts für den belgischen Delegierten der UNO. Zu dem Stellvertreter des Innenministers sagte er: „Du Bürschchen denkst, dass du mich übern Tisch ziehen kannst, aber ich durchschau dich wie ein Buch!“ Als er den Honza Schwarzenberg unlängst in Wien besucht hatte, wurde ihm der Habsburger Otto vorgestellt. Ein Mann von Format. Aber natürlich ein Agent. All diese Herren seien Agenten. Die Agenten regierten die Welt – die vereinigte Weltpolizei. Nixon und alle anderen Hampelmänner, die unsrigen werde er gar nicht beim Namen nennen, sind nur ihre Handlanger. Ein anderes Mal, wenn wir mehr Zeit hätten, würde er mir mehr darüber erzählen.
Ich sollte mir nach zehn Minuten vorkommen wie ein dumm dreinschauender Dörfler, der keinen blassen Schimmer hat von der großen weiten Welt. Nach zwanzig Minuten keimte ein Fünkchen Hoffnung in mir, dass ich mich – trotz all dem, was er alles gesehen, erlebt und kennengelernt hatte – ihm gegenüber als würdig erwies.
Sein Auftritt dauerte neunzig Minuten. In der Zeit schaffte er es mich zu belehren, wie er sein Geld verdiente / er geht in einen Antiquitätengeschäft und kauft dort für achthundert einen Velourteppich, der allerdings kein Velourteppich ist, sondern ein unerkannter Perserteppich, und den verkauft er um die Ecke in einem anderen Antiquitätengeschäft für fünfzehntausend /, dass er sich in einem Akademikerstädtchen für eine halbe Million eine Villa bauen würde, dass er eine total dumme aber schöne Frau hat, zwei Söhne aus der ersten Ehe, eine Tochter aus der zweiten Ehe und Bedříšek mit der total dummen aber schönen dritten Frau, dass seine zweite Frau Ärztin war und in dieser Funktion den Schah von Persien kurierte, was ihn allerdings verwunderte, denn auch seine zweite Frau war im Grunde dumm wie alle Frauen, dass sein ältester Sohn ein ordentlicher Dickschädel war, als er ihn einmal zur Strafe ans Tischbein gebunden hatte, biss sich der Sohn so fest in die Holzplatte, dass man ihn da losreißen musste, aber das war richtige Arbeit, sie mussten ihn mit Wasser begießen, und die zweifingerbreite Platte, niemand wollte es glauben, war an fünf Stellen durchgebissen. Ferner teilte er mir mit, er hätte Jura studieren sollen, dann aber kam ihm der Krieg dazwischen, er hätte auch zwei Bücher geschrieben, allerdings keine Zeit am Stück um sie zu lesen, aber er bringe sie mir mal vorbei und sei sowieso der Meinung, das Schreiben würde ohnehin nicht viel einbringen / eine kleine und einzige Pause im Monolog, falls ich mich zu dieser Frage äußern wollte /, er hätte für mich ein schönes Geschirrset, graviertes Silber aus dem Besitz der Kolovrats, eine Zinnkanne, echte Handarbeit aus Slávkov, einige feine Stiche und eine Kommode im Empire-Stil.
Ebenso versäumte er es nicht, mir über seine Festnahme in den fünfziger Jahren zu erzählen. Er sprach darüber mit einer verdächtigten Bescheidenheit, übersprang die meisten Einzelheiten, daher konnte ich nur begreifen, dass er sich / zusammen mit dem Fürsten von Schwarzenberg und dem General Kutlvašer / an einer Verschwörung beteiligte. Die Ziele dieser Verschwörung waren mir nicht klar, aber ich erkundigte mich nicht weiter.
Später sagte mir seine Frau / sie war weder dumm noch hübsch /, er sei festgenommen worden, weil er in der Zeit, als er an der Hauswirtschaftsschule irgendwo im Grenzgebiet unterrichtete, seine minderjährigen Schülerinnen missbraucht hätte. An dieser Mitteilung schien mir nur eine Sache ungewöhnlich, und zwar dass man ihn überhaupt Zutritt in die Schule gewährte und als Lehrer arbeiten ließ.
Im Krankenhaus empfing uns eine sehr strenge Krankenschwester. Ich erklärte ihr, dass mir Bedříšek auf die Terrasse heruntergefallen war, genauer gesagt: sich herabstürzte. Vielleicht auch in selbstmörderischer Absicht.
„Sie sind sein Vater?“
„Nein! Ich bin nur ein Nachbar.“
Sie blickte mich an, als ob sie andeuten wollte, dass meine Rolle in dieser ganzen Geschichte im höchsten Grad verdächtig war, und fragte: „Das Kind hat keinen Vater?“
„Der Vater ist in der Arbeit“, erklärte ich.
„Kennen Sie seine Personalien?“
„Ich versuch’s.“
Wir bekamen es mehr schlecht als recht zusammen. Das Geburtsdatum kannten wir nicht, aber ich gab mein Wort, es im Laufe der Zeit nachzutragen. Die Schwester hatte einen schönen Busen, Bedříšek blickte unentwegt drauf und zeigte sich fasziniert. Ich musste mich für ihn nicht verantwortlich fühlen, dennoch hatte ich Bedenken, was er als Nächstes anstellen würde.
Einen Augenblick später wurden wir ins Behandlungszimmer gerufen.
Der Arzt schaute zunächst Bedříšek an, dann wanderte sein Blick zu mir und schließlich wieder zu Bedříšek. Auf Bedříšek blickte er liebenswürdig, auf mich grimmig. „Sie sind der Vater?“
„Nein, ein Nachbar!“
Meine Antwort hatte ihm offenbar nicht geschmeckt, er drehte sich zu Bedříšek und fragte: „Du hüpfst also aus dem Fenster?“
„Ja!“, antwortete Bedříšek stolz.
„Und was möchtest du einmal werden?“, fragte der Arzt und klopfte ihm an die Stirn. „Fallschirmspringer?“
„Ich werd Polizist“, erklärte Bedříšek.
„Polizist?“, wunderte sich der Arzt. „Warum denn das?“
„Damit ich den Papa einsperren kann“, sagte Bedříšek.
Der Arzt blickte mich vorwurfsvoll an, dann besann er sich, dass ich nicht der Vater war, oder falls doch, Bedříšek mich nicht für solch einen halten würde. Dann ordnete er an, er möge die Augen schließen und fünf Schritte zum Fenster und zurück machen.
„Ich möchte alle Leute einbuchten“, träumte Bedříšek mit geschlossenen Augen. „Den Opa, die Oma, das Fräulein Erzieherin und die Köchin im Kindergarten.“
„Dieses Kind…“, sagte der Arzt und sah mich erneut vorwurfsvoll an. Dann stockte er. „Wie bist du denn gefallen, Bedříšek? Auf die Hände?“
„Ich bin zuerst zur Tür“, erklärte Bedříšek voller Begeisterung, „und weil sie zugesperrt war, bin ich aufs Dach geklettert und dann bin ich gesprungen.“
Der Doktor schrieb uns einen Zettel fürs Röntgen und forderte uns auf, mit dem Ergebnis zurückzukommen.
Wir sitzen im schmuddeligen Wartezimmer, auf einem Rollstuhl neben uns krümmt sich ein halbtotes Mütterchen. Bedříšek macht einen vergnügten Eindruck. Er möchte wissen, wo sich am Rollstuhl der Motor befindet. Dann erzählt er mir ein Märchen. Das Märchen ist verwirrend. Es gibt eine liebe Stiefmutter und einen hässlichen Vater – der Menschenfresser-Kaufmann. Der böse Vater Menschenfresser-Kaufmann schickt seine Söhne in die Welt, damit sie ihm die größte Perle bringen. Wer sie ihm nicht bringt, wird von ihm mit Zwiebeln in der Pfanne gedünstet und aufgegessen.
Ich weiß nicht, ob er sich das Märchen ausgedacht oder nur zusammengestückelt hat, aber in den mit Zwiebeln gedünsteten Söhnen ahne ich das Abbild des grausigen Vaters. Noch bevor Bedříšek die Handlung richtig ausrollen konnte, wurden wir hereingerufen.
Ich hoffe, ich bin bei der der Erwähnung seines Vaters nicht der Einseitigkeit verfallen. Er ist bestimmt nicht solch ein ausgezeichneter Betrüger, der er gern sein wollte. Es mangelt ihm an Professionalität, was ihm eher zur Ehre gereicht – seine Amateurhaftigkeit hat etwas zutiefst Menschliches.
Etwa eine Woche nach seinem Einzug ins Haus hatte er mich zu sich in die Wohnung eingeladen. Er war in feierliche Kleidung gewandet, trug ein schneeweißes Hemd mit perfekt gestärktem Kragen.
Die zwei kleinen Räume unterm Dach waren voll mit alten Möbeln: nichts, was besonders wertvoll gewesen wäre, hauptsächlich Stücke aus dem letzten Jahrhundert, doch auch für die zahlt man heutzutage einiges. Im Vorraum gleich hinter der Tür an einem gänzlich nicht ehrwürdigen Platz hing eine großzügige Leinwand mit einer kubistisch abgehandelten nackigen Dame.
„Hier habe ich einen Picasso“, versuchte er es und zog dabei alle Register. „Leider ist er nicht signiert.“
„Das hier ist kein Picasso“, entgegnete ich barsch. „War er nie und wird wohl nie mehr einer werden.“
Er gab sich etwas niedergeschlagen. „Aber sehen Sie sich mal die Arme an, und diese Schenkel! Das konnte doch kein anderer malen!“
„Jeder anderer“, sagte ich.
„Aber der Herr Professor Matějíček…“
„Herr Vejr“, begann ich vorwurfsvoll, doch ohne seinen Satz zu vervollständigen zog er mich ins Wohnungsinnere, um mir seine Edelstein-Sammlung vorzuführen. Ich wandte ein, gar nichts von Edelsteinen zu verstehen, was ihn aber eher anstachelte. Er entnahm dem Sekretär ein Leinentäschchen, in einem solchen führen Damen Sonnencreme und Mückenabwehrmittel an den Strand, und klopfte ungefähr zehn Röhrchen von Barbituraten und Psychopharmaka heraus. Dann zog er die Stöpsel raus und verteilte die Steinchen auf dem Tisch. Das hier ist ein echter südafrikanischer neunzehnkaratiger Diamant, wohingegen die beiden hier künstlich sind, dieser blaue Saphir stammt aus Indien, des Weiteren zeigte er mir drei Rubine, einen Opal und zwei Gläschen voller tschechischer Granaten. Ein Pillengläschen kippte um, die Granaten kullerten über den Tisch und fielen mit leisem Rasseln zu Boden. Er bückte sich, um sie aufzusammeln. Sein Sakko rutschte dabei nach oben und ich bemerkte, dass sein Hemd hinten mit einem riesigen rotkarierten Flicken versehen war.
Dann führte er mir die Münzsammlung seines Sohnes vor. Die Münzen waren in einem dicken Album angeordnet, auf der Innenseite des harten Einbandes stand mit Schönschrift geschrieben:
Bedřich Vejr – Münzensammlung
Bedříšek am Tage seiner Geburt
von seinem Papa
Ich war nahezu ergriffen.
Im ersten Halbjahr war er mindestens zweimal im Monat gekommen, um mir etwas anzubieten. „Ich hätte da einen herrlichen Barock-Christus, Meister. Ein Schnitzwerk vom Feinsten, gestochen scharf beobachtet!“
Ich sah mir das an. „Aber das ist doch letztes Jahrhundert!“
„Meinen Sie wirklich, Meister? Sehen Sie sich doch den Faltenwurf an!“
Aber er bestand nicht weiter darauf und führt mich zum Glasschrank, um mir eine aus Silber getriebene Schüssel aus dem Besitz der Familie Piccolomini zu zeigen. Eine Arbeit aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Das nächste Mal ist er zu mir gekommen, um mir einen echten Hamadan anzubieten. Ich wusste nicht, was ein Hamadan sein soll, ich verstehe von Teppichen ungefähr genauso viel wie von Diamanten. Der Hamadan lag unter der Treppe, eine riesige Rolle, mindestens vier mal fünf Meter groß. Er rollte ihn ein wenig für mich auf. Durch die Schmutzschichten schimmerten grelle Farben.
„Was sagen Sie dazu?“ Er strahlte übers ganze Gesicht.
„Starr vor Dreck“, sagte ich.
„Na ja“, gab er zu, „wenn Sie wüssten, wie er eingelagert wurde. Aber was für ein Werk. Erste Jahrhunderthälfte!“
Welches Jahrhundert, wollte er nach den Erfahrungen mit dem Barock-Christus lieber nicht sagen.
Am nächsten Tag sah ich ihn, wie er den wertvollen Hamadan zur Teppichstange schleifte. Der Teppich war noch größer, als er mir zuvor erschienen war, so zusammengerollt unter der Treppe. Dann zog der stolze Besitzer einen Schlauch aus dem Garten und machte sich daran, den Teppich mit einem mächtigen Strahl Wasser zu besprengen.
Ich betrachtete von der Terrasse aus fasziniert, was er tat und mit noch größerer Faszination, was der Teppich tat. Von der Oberfläche des Teppichs verflüchtigte sich mit dem Dreck auch die Farben. Der Teppich wurde vor meinen Augen immer blasser, während auf dem Betonpflaster Rinnsale anilingefärbten Wassers hinabflossen.
Ich denke, auch er war von dem Ergebnis des Reinigungsbades verdutzt, aber da er nun mal angefangen hatte, war er nicht gewillt, wieder aufzuhören. Dann fiel aus der Mitte des Teppichs ein Gewebestück heraus, oder besser gesagt: es fiel nicht heraus, sondern löste sich auf! Es war nicht mehr vorhanden.
Nachdem er endlich den Wasserstrahl abgestellt hatte, hing auf der Teppichstange ein grauweißer löchriger Fetzen. Herr Vejr blickte zu mir hoch, breitete die Arme aus und verschwand im Haus.
Bald darauf besorgte er sich ein blaues Nutzfahrzeug, einen Fünftonner.
„Wozu brauchen sie einen Lastwagen?“, fragte ich neugierig.
„Sowas kann man immer brauchen“, erklärte er mir. „Und gekriegt hab ich ihn für n Appel und ein Ei. Sechstausend“, sagte er „und natürlich etwas Bakschisch!“
Zwei Tage lang scharwenzelten irgendwelche Leute um den blauen Lkw, Vejr zog die Plane ab und wieder hoch und setzte sich wichtigtuerisch hinters Lenkrad. Wie ein kleiner Junge. Seitdem steht der Fünftonner schon das dritte Jahr bewegungslos vor dem Haus, aus den Reifen tritt langsam die Luft aus und die blaue Farbe rostet.
Vor nicht mal einem Jahr hatte er sich einen gebrauchten Morris Marina gekauft, angeblich von der britischen Botschaft. Diesmal hatte er wohl ausnahmsweise die Wahrheit gesagt. Wer sonst in Prag würde einen englischen Gebrauchtwagen besitzen? Der Schlitten war von erbsengrüner Farbe, die Sitze kükengelb, an den Seite prangte das Emblem: British Leyland.
„Auch für n Appel und ein Ei?“, fragte ich interessiert.
„Dreißig Riesen“, verkündete er stolz. „Versuchen Sie mal, ihn für fünfzig zu kriegen!“
„Ich würde ihn nicht wollen“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich hätte Angst, keine Ersatzteile zu bekommen.“
„Aber ich bitte Sie, Meister. Ich schreib dem Loisl nach London, und der schickt mir, was ich brauche.“
Ich weiß nicht, wer dieser Loisl ist, verstehe aber, dass ein Hehler vom Fach einen Morris Marina braucht. Lautlos fährt er zum Haus der alten Dame vor, die einen Barockengel zum Verkauf inseriert hat. Er entsteigt dem erbsengrünen Schlitten, zieht seine Lederhandschühchen aus, küsst der Dame die Hand, stellt sich vor: Privatdozent Vejr. Und redet und redet über Gott und die Welt, von Renaissancetruhen aus dem sechzehnten Jahrhundert, von gotischen Madonnen aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts, von Doktor Vojtíšek und Professor Bruncvík und nebenbei erwähnt er seinen Besuch bei Chagall. Der alten Dame schwirrt der Kopf und schließlich überlässt sie es ihm, den Preis zu nennen. Und er gibt ihr tatsächlich dreitausend weniger, als es sich für einen Barockengel gehören würde. Das erste Problem dürfte allerdings darin bestehen, dass der Barockengel gar nicht barock ist, was er nicht merkt, und das zweite darin, sollte man aus einem erbsengrünen Marina vor dem Haus der alten Dame aussteigen, dass dieses edle Gefährt von British Leyland fahrtauglich sein muss. Fahrtauglich war es sechs Wochen lang, dann fiel das Getriebe auseinander.
Seitdem steht der grünflankige Marina aufgebockt gleich neben dem blauen Fünftonner, von wo der Rost herübergreift. Und der Loisl schickt kein Getriebe.
Bedříšek wurde von der Schwester hereingeführt. „So, jetzt kann der Papa schauen, was wir hier haben: leider sind die Handgelenke gebrochen und die Fingerknöchel verstaucht!“
„Ich bin nicht der Papa!“
„Sie sind nicht der Papa?“
„Nein, ich bin der Nachbar.“
Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu, wie wenn man einen Menschen anschaut, der sich weigert, seinen Nachwuchs anzuerkennen, selbst wenn er ein uneheliches Kind sein sollte. Ich war es nicht mehr wert, dass man das Wort an mich richtete, sie drehte sich zum angehenden Polizisten und sagte sanft zu ihm: „Bedříšek, du gehst jetzt wieder zum Herrn Doktor, der dir den Zettel gegeben hat, ja?“
Sie drückte mir den Metallstab in die Hand, auf dem die Bilder aufgezogen waren, und ich eilte mit Bedříšek zurück zur Ambulanz. Als wir auf der weißen Bank im Wartezimmer Platz nahmen, bemerkte ich, dass das Kind mit den gebrochenen Handgelenken und gestauchten Fingern lächelte – auf seinem Gesicht spiegelte sich der Ausdruck einer inneren Freude. Er merkte gar nicht, dass ich ihn beobachte, so sehr war er in sich gekehrt. Sein verletztes Händchen verschwand immer wieder in der Hosentasche, als suchte er etwas darin.
„Was ist los, Bedříšek, brauchst du etwas?“
Er zuckte kurz und schüttelte schweigend den Kopf, die Hand immer noch in der Hosentasche.
„Was suchst du denn in der Tasche, Bedříšek?“
„Nichts!“
Er zögerte eine Weile, rang mit sich. „Guck mal.“ Er hielt es nicht mehr aus und zog mit seinen verstauchten Fingerchen verschiedene Gegenstände aus der Tasche. Einen Kugelschreiber, eine Pinzette, ein Keramikschälchen und ein Röhrchen mit Tabletten.
„Wo hast du das her, Bedřich?“
„Sie hatte auch einen Apfel dort, aber ich mag keine Äpfel“, entgegnete er.
Die Schwester nahm die Sachen mit liebenswürdigem Kopfnicken entgegen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich bei nächster Gelegenheit herzhaft über die verderblichen Auswirkungen einer verleugneten Vaterschaft auf die Moral der Kinder auslassen würde.
Danach wurde der vom Diebesgut entledigte Bedříšek zum Eingipsen gebracht.
Das letzte Mal wurde sein Vater in der Zeitspanne zwischen dem blauen Lkw und dem erbsengrünen Morris festgenommen. Sie kamen morgens in zwei schwarzen Wolgas vorgefahren, führten eine Hausdurchsuchung durch, konfiszierten dabei einige Antiquitäten und nahmen deren Besitzer mit. Da es in der Dachgeschosswohnung niemals ein Telefon gegeben hat / und auch schwerlich eins vorhanden sein wird, wenn die Wohnung offiziell nicht zum Wohnen gedacht ist /, kam Frau Vejrová, sobald beide Autos weg waren, ganz verschreckt angelaufen, ob sie denn telefonieren dürfte.
„Selbstverständlich. Aber seien Sie vorsichtig“, warnte ich sie. „Mein Telefon wird aller Wahrscheinlichkeit nach abgehört.“
Sie nickte, aber der Ausdruck „abgehört“ sagte ihr offenbar nichts, denn sie bedachte jene, die gerade abgefahren waren, mit keinen sonderlich wohlwollenden Namen. Zum Glück erfolgte das Abhören immer noch inoffiziell und außerdem konzentrierte man sich auf meine Äußerungen – nicht auf die Äußerungen von Nachbarinnen.
Von da kam sie gelegentlich bei mir vorbei. Seit ihr Mann hinter Gittern saß, blühte sie auf. Aus ihrem nicht sonderlich interessanten Gesicht war der abgehetzte Ausdruck verschwunden. In der Regel blieb sie an der Tür zu meinem Zimmer stehen / sie wollte keinesfalls eintreten, wollte nicht länger stören / und fing an zu erzählen. Beim Reden warf sie kokett den Kopf nach hinten, wobei ihre langen und etwas nachgetönten Haare um ihre Schultern flatterten.
So erfuhr ich regelmäßig, wie sich ihr gediegener Gemahl hinter schwedischen Gardinen behauptete. Dass er entgegen seiner Art und seinem Naturell schweigen und sich zu nichts bekennen würde, sein Anwalt wäre der Ansicht, falls es ihm gelänge dichtzuhalten, es für die Anklage nicht einfach würde, weil sie gegen ihn eigentlich nichts in der Hand hätten. Es überraschte mich ein wenig, dass man ihm nichts nachweisen konnte, und ich denke, seine Frau auch.
Zunächst tröstete ich sie, es würde wohl alles gut ausgehen und ihr Mann käme bald frei, bis ich merkte, dass sie das nicht tröstete, sondern eher beunruhigte. Diese Person wünschte sich nichts weniger, als dass ihr Mann bald zurückkäme.
„Wenn er das Gefühl hat, gewonnen zu haben“, sprach sie ihre Befürchtungen aus, „wird es mit ihm komplett unerträglich. Er war jetzt schon so…“, sie hob die rechte Hand hoch über den Kopf.
Ich erfuhr auch, dass Herr Vejr fünfundzwanzig Jahre älter war als sie, so ein zerfledderter Don Juan und Schwadroneur, aber einmal habe er sie betrunken gemacht, Sie wissen schon, ich war dumm und unerfahren, und dann hatte ich auch Angst es wegmachen zu lassen, das konnte ich meinen Leuten nicht antun, so als ledige Frau. Und man sagt, dass aus einem Kind, dass ohne Vater aufwächst, nichts Anständiges wird. Aber was ist er denn für ein Vater? Wenn Sie ihn sehen könnten, ganze vierzehn Tage merkt er nicht mal, dass der Junge da ist, und dann fängt er plötzlich an, mit ihm herumzutollen und ihn zu kitzeln, manchmal kitzelt er ihn so doll, dass Bedříšek davon einen Anfall bekommt, er wird ganz rot und bekommt keine Luft. Und wenn Sie wüssten, was er sich mit mir gegenüber erlaubt…
Das nächste Mal teilte sie mir mit, er habe vom Knast aus angeordnet, dass seine ehemaligen Kumpane, mit denen er das Zeug verschacherte, ihn augenblicklich zehn Tausender zum Lebensunterhalt geben sollten. „Sie versuchten auszuweichen“, erzählte mir die junge Frau und warf den Kopf hin und her, „aber er ließ ihnen ausrichten, er würde sie alle ertränken, sollten sie mir das Geld nicht bringen. Also waren sie gestern hier und ich sollte aufschreiben, dass alles in Ordnung wäre. Ich hab keine Ahnung, wie er das schafft, vom Knast aus“, wunderte sich die junge Frau. „Jetzt stellen Sie sich vor, wie er sich aufführen wird, wenn er freikommt. Er wird sich wie der Herrscher der Welt vorkommen.“
„Aber so schnell kommt er doch nicht frei“, versuchte ich sie zu trösten. „Ich wüsste von niemandem, den man bei uns auf freien Fuß gesetzt hätte, nach einem halben Jahr im Gefängnis.“
„Sehen Sie“, sagte sie und es lag Hoffnung in ihrer Stimme. „Was mich angeht, ich halte alles aus. Ich nehme ihn schon gar nicht mehr wahr – sein Geschwätz, seine Angeberei, aber Bedříšek, der versteht das noch nicht, er hing seinem Papa immer an den Lippen. Und kaum war der weg, versuchte er ihn nachzumachen. Er setzte sich an den Tisch und schrie mich an: bring mir dies, bring mir das, Mutti! Und diese Worte! Wissen Sie, was er einmal zu mir gesagt hat? Du fängst dir gleich eine, du dumme Kuh! Das hat er zu mir gesagt, als ich mich weigerte, den Löffel aufzuheben, den er fallengelassen hat. Glauben Sie, das kommt aus dem Kopf eines Vierjährigen? Und dann hat er einmal gesagt, er lässt alle Leute einsperren, alle wären dumm. Nur er und sein Vater haben die Weisheit mit Löffeln gefressen. Wo kann sowas denn enden? Am Ende wird aus ihm auch ein Verbrecher!“
Die junge Frau wischte sich die Augen ab. „Und jetzt, nach dem halben Jahr, wie hat es sich erholt, mein kleiner Liebling, wie brav er geworden ist, kein schlimmes Wort kommt über seine Lippen. Er hilft mir sogar beim Aufräumen. Wenn sein Papa nur drei Jahre einsitzen könnte“, sagte sie hoffnungsvoll, „der Anwalt meinte, nach weniger sähe es nicht aus.“
Acht Monate saß Bedříšeks Vater im Gefängnis, dann wurde ihm endlich das Verfahren eröffnet.
An dem Morgen klingelte sie bei mir. Sie trug ein neues Kostüm, hatte die Haare beim Friseur machen lassen, reichte mir ihre vor Aufregung feuchte Hand. „Drücken Sie uns die Daumen“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Allein schon wegen Bedříšek.“
Zwei Tage später durfte sie ihren Betrüger nach Hause nehmen. Er wurde mangels Beweise freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, jedoch…
Was für ein Fall! Ich fragte eigens bei meinen Juristenfreunden nach, niemand erinnerte sich an einen ähnlichen Fall in den letzten fünf, ja sogar in den letzten fünfzehn Jahren. Acht Monaten Gefängnis und sie lassen ihn laufen aus Mangel an Beweisen. Wenn er wenigstens in Gewahrsam bliebe. „Dir ist hoffentlich klar, dass sie ihn bestimmt nicht für lau entlassen haben“, machte mich ein Juristenfreund aufmerksam. „Ich meine nicht, dass sie ihn gerade auf dich angesetzt haben, vielleicht ging es ihnen nur darum, dass sich einer von ihnen unter die Hehler mischt. Aber wenn er schon für sie arbeitet…“
In der darauffolgenden Woche kam er runter, um mir eine Fayance Vase aus dem achtzehnten Jahrhundert anzubieten. Als ob nichts gewesen wäre. Ich sagte, ich würde kein Porzellan sammeln, weil dieses bei uns unweigerlich zu Bruch geht. Er tauchte ungefähr eine Woche später bei mir auf und machte mir einen Vorschlag: Er wäre jetzt abgebrannt und müsse auch vorsichtiger sein, mit seinen ehemaligen Kumpanen hätte er abgeschlossen. Ich hätte bestimmt Geld auf der hohen Kante, er wiederum seine Erfahrungen und den einen oder anderen Kontakt. Wenn wir uns zusammentäten, verspreche er mir bis Ende des Monats zwanzig Prozent auf jede eingezahlte Krone. Es war so unverfroren, dass es gar nicht als Provokation gemeint sein konnte. Offenbar geschah es auf seine Initiative. Ich sagte zu ihm, ich wäre kein guter Partner, ich stünde ziemlich unter Beobachtung.
Er machte ein erstauntes Gesicht, als ob sowas auch Leuten zustoßen konnte, die nicht im Geringsten in der Antiquitätenbranche tätig wären, aber er bot mir sogleich an, in meiner Angelegenheit bei einen gewissen Vendelín vorstellig zu werden, der nun der Sekretär des Stellvertreters des Innenministers sei.
Die Tür des Gipsraums ging auf und die Schwester blickte hinaus. „Sie sind der Vater dieses Jungen.“
Ich erhob mich und sie gab mir mit dem Kopf zu verstehen, ich solle ihr folgen.
Bedříšek saß auf einem weißen Schemel, den Arm durch den Gipsverband in Größe angeschwollen.
Vor ihm stand die Ärztin. Sie war so jung und anmutig, dass mir warm ums Herz wurde. „Herr Vejr“, sprach sie streng zu mir, „ist Ihnen bewusst, dass ihr Sohn eine Neigung zum Suizid hat?“
Ich nickte ergeben und überlegte, wie ich die Frau Doktor in ein engeres Gespräch einbinden könnte. Ich fühlte mich nicht nur durch ihr Äußeres verführt, sondern auch durch die Möglichkeit, unter falscher Flagge aufzutreten.
„Sie sollten mit dem Jungen einen Psychologen aufsuchen“, sagte die schöne Ärztin. „Bitte schieben sie den Besuch nicht hinaus, der Experte wird ihnen Tipps geben, wie sie weiter in der Erziehung verfahren sollten. Sie wollen doch sicherlich nicht noch einmal so eine ähnliche Überraschung erleben!“
Sie stand auf, trat auf mich zu und sagte so leise, dass es Bedříšek nicht hören konnte. „Es geht um das Leben ihres Sohnes. Er ist so ein lieber Junge. Und wie tapfer er ist! Er hat nicht einen Mucks von sich gegeben, die ganze Zeit. Es gibt Erwachsene, die schreien wie am Spieß, wenn wir denen den Bruch richten.“
Sie duftete nach frisch gewaschener Wäsche. Wenn hier nur nicht der störrische Spross dieses Betrügers sitzen würde, der mit der größten Wahrscheinlichkeit, Gott möge ihm verzeihen, sich was dazuverdient, indem er persönlichen Tratsch über mich sammelt, würde ich ihr antworten, sie sei bezaubernd und ob ich nicht nach Dienstschluss auf sie draußen warten dürfte. So konnte ich nur sagen: „Seien Sie versichert, Frau Doktor, Bedříšek darf nicht untergehen, er ist für große Taten prädestiniert!“ Ich wollte zwar sagen: Missetaten, konnte mich aber nicht durchringen aus Sorge, sie könnte sich nicht erleichtert fühlen.
Nachdem wir ins Auto gestiegen waren, betrachtete Bedříšek vergnügt seine riesige Hand. „Wenn ich nach Hause komme, verpass ich dem Papa so eine, dass er hinfällt“, freute er sich. „Dann schmeiß ich ihn aus dem Fenster.“
„Hör mal, Bedříšek“, sagte ich. „Ich möchte nicht, dass du uns irgendwas oder irgendjemanden auf die Terrasse schmeißt!“
„Ich schmeiß ihn nicht auf die Terrasse“, beruhigte er mich, „sondern auf die Straße. Damit er stirbt!“
„Warum willst du, dass er stirbt?“
„Damit er mich nicht mehr kitzeln kann. Auch nicht die Mama“, erklärte er.
Frau Vejrová hat uns vom Fenster aus kommen sehen. Sie lief die Treppe hinab und rief: „Bedříšek!“ Dann wandte sie sich an mich: „Ich hab die Tür geschlossen gesehen und das Fenster offen und das Blut auf Ihrer Terrasse! Bedříšek, was machst du für Sachen!“
„Es ist alles gut, Frau Vejrová, alles ist gut ausgegangen.“
„Bedříšek, was hast du getan“, schluchzte Frau Vejrová, „er hat bestimmt wieder Angst gehabt, dass sein Papa früher da ist als ich, aber ich hab zu ihm gesagt, ich hab dir doch gesagt, dass ich gleich wieder da bin!“ Sie drückte Bedříšek fest an sich und hörte nicht auf zu jammern. „Du weißt doch, dass ich dich lieb hab, ich könnte doch gar nicht ohne dich leben. Ich müsste doch auch aus diesem Fenster springen, wenn dir was passiert wär.“
Ich sah Bedříšek in ihren Armen und plötzlich stellte ich erstaunt fest, wie er das Gesicht runzelte und ihm Tränen aus den Augen schossen.
Endlich weinte er.