Die Formen der Erinnerung – Literarische Erkundungen (16)

Über Chatbots am Rande des Nervenzusammenbruchs, das ungewöhnliche Ende von Jonathan Glazers The Zone of Interest und warum ganz München ein Denkmal ist.

Am Beginn dieser literarischen Erkundung steht das Ende von The Zone of Interest, das Fabienne Imlinger ziemliches Kopfzerbrechen bereitet. Mithilfe von anderen Filmen wie Schindlers Liste oder Am Ende kommen Touristen versucht die Autorin, das Chaos in ihrem Kopf zu entwirren und zu verstehen, wie Erinnerung an die NS-Verbrechen lebendig bleiben kann. So landet sie schließlich mit The Zone of Interest nicht nur bei der Frage, wer in Auschwitz putzt. Sondern mit dem virtuellen Denkmal Memory Loops der Münchner Künstlerin Michaela Melián auch wieder in der Maria-Theresia-Straße 23.   

*

Was Maschinen und Menschen im Internet lernen 

Als X noch Twitter hieß und ich dort ungefähr fünf Minuten lang einen Account hatte, las ich folgenden Tweet: 

Alle wollen experimentelle Prosa schreiben, aber niemand will sie lesen.

Leider weiß ich nicht mehr, von wem dieser Spruch stammt, der sich gut auf einer Postkarte machen würde oder als Rat für angehende Autor*innen. Vielleicht noch bedauerlicher ist, dass er mir erst wieder einfiel, nachdem ich schon zwei Seiten experimentelle Prosa über die letzten zweieinhalb Minuten von The Zone of Interest geschrieben hatte, die ich in einer Mischung aus Drehbuchskript und Stream of Consciousness nacherzählte.

Wenn es etwas gibt, das Menschen vermutlich noch weniger gern lesen als experimentelle Prosa, dann ist es die Nacherzählung der letzten Minuten eines experimentellen Films über die Familie Höß in Auschwitz. Und so wanderten auch diese zwei Seiten in eine Word-Datei namens Rest Zone of Interest; eine Datei, die aktuell etwa achtzehn Seiten umfasst. 

Ja, Sie haben richtig gelesen: achtzehn Seiten. Und ja, Sie haben recht: Das ist natürlich viel mehr, als in eine Erkundung passt. Und genau das ist mein Problem. Eine Geschichte wie ein Überraschungs-Caddy zu schreiben, ist eine Sache. Aber eine Geschichte wie ein Überraschungs-Caddy auf Speed, der random Informationen über Auschwitz, Rudolf Höß und Erinnerungskultur raushaut? Das kann nur schiefgehen.

Erinnern Sie sich noch an Tay? Sie wissen schon: einer der ersten Chatbots von Microsoft. Die Kommunikation mit Menschen sollte ihn klüger machen, doch nach ein paar Stunden auf Twitter war er zu einer rassistischen, sexistischen, antisemitischen Hassschleuder mit einer Vorliebe für Hitler und Trump mutiert. Weshalb Microsoft sich gezwungen sah, ihn aus dem Netz zu nehmen.1

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich musste da direkt an Woody Allens Film Hannah und ihre Schwestern (1986) denken. In einer Szene sagt der klischeehaft misanthropische Künstler Frederick zu seiner klischeehaft lebenshungrigen jüngeren Partnerin Hannah:

You missed a very dull TV show on Auschwitz. More gruesome film clips, and more puzzled intellectuals declaring their mystification over the systematic murder of millions. The reason they can never answer the question “How could it possibly happen?” is that it’s the wrong question. Given what people are, the question is “Why doesn't it happen more often?”

Nun liegt mir nichts ferner, als ein zynischer, alternder Künstler mit einer jungen Geliebten zu werden. Doch etwas finde ich bemerkenswert. Nein, nicht die Tatsache, dass es rants schon vor dem Internet gab. Sondern dass man offenbar schon im Jahr 1986 eine Fernsehsendung über Auschwitz als langweilig bezeichnen konnte (selbst wenn’s als Witz gemeint war).

Das finde ich insofern bemerkenswert, als The Zone of Interest in den negativen Google-Rezensionen neben dem schlechten Ton (kein Witz!) vor allem eines vorgeworfen wird: Er sei langweilig.

AM ENDE KOMMEN TOURISTEN: HERAUSFORDERUNGEN DER ERINNERUNGSKULTUR

Zeigen Sie denen Schindlers Liste. Das macht mehr Eindruck.

Das sagt die (fiktive) Figur Stanisław Krzemiński in einer Szene des Spielfilms Am Ende kommen Touristen von Robert Thalheim (2007). Mit „denen“ meint der Zeitzeuge und Auschwitz-Überlebende Jugendgruppen. Mit „mehr Eindruck“ meint er, dass Steven Spielbergs Film sie vermutlich mehr fesseln würde als sein Bericht über die Zeit als Häftling in Auschwitz. Das ist natürlich auch ein bisschen zynisch, aber der Film ist eigentlich nicht so.

Er zeigt die Schwierigkeiten im Umgang mit der NS-Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven: Da ist neben dem Überlebenden Krzemiński der junge deutsche Zivi Sven sowie Ania, eine junge Polin. Sie alle ringen auf ihre Weise – und miteinander – um die Frage, wie Gedenken gelingen, wie Erinnerung lebendig bleiben kann. Und was sie überhaupt in Auschwitz machen. 

Dass sich diese Fragen stellen, bedeutet im Umkehrschluss, dass es ein Erstarren, eine Ritualisierung von Gedenken gibt, wie es etwa der von Y. Michal Bodemann geprägte Begriff des Gedächtnistheaters zum Ausdruck bringt.2 Und es bedeutet auch, dass es eine Gewöhnung an die Bilder, ja eine Art Normalität des Grauens gibt – ich sage nur: a dull TV show on Auschwitz.

Dass Jonathan Glazer uns keine Bilder „im Lager“ zeigt, hat also womöglich nicht nur mit ethischen oder ästhetischen Fragestellungen zu tun. Sondern auch damit, dass er sie gar nicht zeigen muss, weil viele Zuseher*innen vermutlich schon Bilder von Auschwitz im Kopf haben, unter anderem aus Filmen wie Schindlers Liste (1993). Auch das Lob, Christian Friedel spiele Rudolf Höß nicht als „Standard-Kino-Nazi“, erhält vor diesem Hintergrund eine andere Bedeutung. Es geht womöglich nicht nur darum, dass wir uns als Zuseher*in mit so einer Figur nicht identifizieren müssen. Sondern auch darum, dass es ein klischiertes Bild wäre, an das wir uns schon gewöhnt haben. 

Darüber mag man sich empören. Oder zynisch werden. Oder man versucht, damit umzugehen.

Bei der MEMO-Jugendstudie 2023 gaben 42,6 Prozent der befragten 16- bis 25-Jährigen in Deutschland an, dass Dokumentationen, Spielfilme und Serien ihnen persönlich am meisten für ihre Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus gebracht haben. Nur 9,6 Prozent erwähnten Berichte von und Interviews mit Zeitzeug*innen.

Stanisław Krzemiński hatte also vielleicht gar nicht so unrecht. 

ACHTUNG SPOILER: DAS ENDE VON THE ZONE OF INTEREST

The Zone of Interest thematisiert ebenfalls die Schwierigkeit, „wie wir uns heute im geordneten Gedenken an den Holocaust mit der Erinnerung an die massenhafte Gewalt auseinandersetzen“3. Insbesondere die letzten Minuten des Films könne man dahingehend verstehen, so ein Rezensent.

Und falls Sie sich jetzt fragen: Ja, aber was um Himmels Willen ist denn nun am Ende des Films zu sehen? Dann kann ich Sie beruhigen. Anstatt experimenteller Prosa folgt jetzt eine Google-Rezension:

Die Schlusssequenz fällt in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen: Sie ist als dokumentarisches Material aus der Gegenwart in die historische Spielfilmhandlung montiert. Sie zeigt das Lager „von innen“, genauer gesagt das Krematorium I im Stammlager von Auschwitz – es befand sich 170 Meter vom Haus der Familie Höß entfernt – sowie Teile der Dauerausstellung von Block 5, speziell die Glasvitrinen mit Bergen von Schuhen, Koffern und Prothesen.

Am Ende sehen wir also Bilder, die zum Symbol für Auschwitz und für den Massenmord an Jüdinnen und Juden geworden sind.4

Das Ungewöhnliche ist nun allerdings, wie wir die Gedenkstätte sehen – sozusagen bevor die Touristen kommen. Es ist ein anderer Arbeitsalltag im Lager, den Glazer uns hier zeigt, nämlich den des Reinigungspersonals. Es sind ausschließlich Frauen, alle in Blau gekleidet. Sie wischen, sie saugen, sie kehren, sie wechseln kaum ein Wort miteinander (was vermutlich an der Anwesenheit des Filmteams liegt).

Einer meiner ersten Gedanken war,dass diese Putz-Szenen nachträglich den Blick auf die polnischen Hausangestellten der Familie Höß lenken, die im Film zwar stets zu sehen sind, möglicherweise jedoch übersehen werden.

Das Buch The Private Lives of the Auschwitz SS versammelt Aussagen der Mädchen und jungen Frauen, die in den Privathaushalten der SS-Offiziere arbeiteten.6 Die meisten von ihnen – also der Hausangestellten – stammten aus Oświęcim7, viele von ihnen waren erst 14 Jahre alt. Als ich ihre Geschichten las, fiel mir auf, dass zahlreiche von ihnen erwähnte Details im Film auftauchen: das Säubern der SS-Stiefel, die unsäglich nach Verwesung rochen. Wie Hedwig Höß die Unterwäsche verteilt, die ein KZ-Häftling zuvor „aus Kanada“ gebracht hat. Die Wutausbrüche von Hedwig Höß ebenso wie ihre gemeinsame Zigarettenpause im Gewächshaus mit einem (demselben?) KZ-Häftling.

Die polnischen Hausangestellten teilten also in gewisser Hinsicht die „groteske“ Normalität der Familie Höß. Auch sie hatten einen Arbeitsalltag in Auschwitz, genau wie das Reinigungspersonal der Gedenkstätte heute. 

Nicht alle können vom Lager leben.

Das sagt Ania in Am Ende kommen Touristen. Ania arbeitet als Guide in der Gedenkstätte. Sie ist in Oświęcim geboren und aufgewachsen und reagiert befremdet, als Sven sie fragt, wie sie „hier“ leben könne. Wie es für sie sei, zum hundertsten Mal durch Monowitz zu fahren.8 

Ania reagiert befremdet, weil in Svens Frage mehr vorgefertigte Meinung als wirkliches Interesse mitschwingt. Sie gibt die Frage auch prompt zurück: Wie er sich als Deutscher denn fühle, jetzt wo er in Auschwitz wohne?

Ich erwähne diese Szene, weil sie uns dazu anhält, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und eigene Vorannahmen zu hinterfragen. Es ist eine Sache festzustellen, dass die Hausangestellten damals und das Reinigungspersonal heute in gewisser Weise die Normalität des Grauens der SS-Offiziere und ihrer Familien in Auschwitz teilten. Eine andere ist es, eine Kontinuität der Gleichgültigkeit oder dem „Unbeteiligtsein gegenüber dem Grauen“zu konstatieren. Besteht die Kontinuität nicht eher darin, dass es meistens nicht die Täter*innen sind, die putzen – und zwar damals genauso wenig wie heute?

Anstatt Sven zu fragen, wie es sich anfühle als Deutscher in Auschwitz zu leben, hätte Ania auch fragen können, wie es sich anfühle, als Deutscher in Deutschland zu leben. 

Als Michaela Mélian sich 2008 mit ihrem Audiokunstwerk Memory Loops beim Wettbewerb der Stadt München zum Thema „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“ bewarb, hatte die Stadt keinen Ort für ein neues Denkmal vorgesehen. Die Künstlerin machte aus der Not den springenden Punkt: ganz München wurde zum Denkmal. 300 Tonspuren, bestehend aus Berichten von Zeitzeug*innen, aber auch aus Verwaltungsdokumenten des NS-Regimes, ziehen sich als Erinnerungsgeflecht über die Stadt.

Drei dieser Tonspuren gehören zur Adresse Maria-Theresia-Straße 23.

Die „Literarische Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat und setzen sich mit der Frage „Wer putzt?“ auseinander. Mein Name ist Fabienne Imlinger, ich bin Autorin und Literaturwissenschaftlerin und lege Ihnen dieses Mal die fünfte Folge des Podcasts Female Peace Palace ans Herz. Darin spreche ich mit Michaela Mélian und der kolumbianischen Künstlerin Manuela Illera über Denkmäler und Erinnerungskultur. Darüber, wie es gelingen kann, dass Menschen keine vorgegebene Version der Geschichte konsumieren, sondern sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

 

[1] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/microsoft-programm-tay-rassistischer-chat-roboter-mit-falschen-werten-bombardiert-1.2928421. Das alles geschah wohlgemerkt im März 2016, also noch vor Donald Trumps erster Präsidentschaft und noch bevor Elon Musk Twitter übernahm. 

[2] Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Rotbuch, Hamburg 1996.

[3] www.zeitgeschichte-online.de/film/das-ist-unser-lebensraum.

[4] Wie die Restauratorin Beate Kozub schreibt, waren der Ausgangspunkt für die Gestaltung der Dauerausstellung „die ersten Fotoaufnahmen, die nach der Befreiung des Lagers entstanden und auf denen die überfließenden Magazine zu sehen sind: Berge von Schuhen, stapelweise Koffer und andere persönliche Gegenstände, alles auf große Haufen geworfen. In dieser Form sind sie zuerst zu Museumsstücken, später dann zu Symbolen für Auschwitz geworden.“ Beate Kozub: Konservierung und Restaurierung von „negativem Kulturgut“. Der Umgang mit Objekten aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Scrîpvaz-Verlag, Berlin 2011, S. 119.

[5] Die unmittelbarste und abgründigste Assoziation, die sich einstellt, wenn man am Ende von The Zone of Interest den Mitarbeiterinnen beim Kehren und Wischen zusieht, ist die Arbeit der Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau: jüdische Häftlinge, die gezwungen wurden, die Ermordung der Deportierten vorzubereiten, ihre Leichen zu plündern und anschließend zu verbrennen. Siehe dazu auch den Eintrag „Sonderkommando“ in Piotr Cywiński: Auschwitz from A to Z. An Illustrated History of the Camp. Auschwitz-Birkenau State Museum, 2018, S. 264-5.

[6] Piotr Setkiewicz: The Private Lives of the Auschwitz SS. Auschwitz-Birkenau State Museum, 2014.

[7] Ich verwende hier und im Folgenden den polnischen Eigennamen (Oświęcim anstatt Auschwitz), um eine Differenz zwischen Stadt und Konzentrationslager zu markieren. 

[8] Monowitz bzw. Auschwitz III war ein Konzentrationslager, das sich in unmittelbarer Nähe zum Gelände der Buna-Werke der I.G. Farben AG befand. Es wurde von der I.G. Farben geplant und finanziert und war ausschließlich für die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen vorgesehen.  

[9] Vgl. FN 4.

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