FRAKTUREN. Ein Essay von Dagmar Leupold
Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Unter ihren zahlreichen Werken sind u.a. Byrons Feldbett (2001), Eden Plaza (2002), Nach den Kriegen (2004) und Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal (2009) zu nennen. Für ihr schriftstellerisches Werk hat Dagmar Leupold etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand (2013). Ihr Roman Die Witwen (2016) war zudem für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2023 wurde sie mit dem Literaturpreis der Stadt München (2023) ausgezeichnet.
*
Frakturen, lese ich in einem medizinischen Fachbuch, sind Kontinuitätsunterbrechungen des Knochengewebes und in der Regel auf Verletzungen oder Überbeanspruchung zurückzuführen. Um Knochenbrüche geht es hier freilich nicht, sehr wohl aber um Kontinuitätsunterbrechungen, Verletzungen, Überbeanspruchung und ihre schädigenden Folgen bei dem hier zur Frage stehenden Patienten: die offene demokratische Gesellschaft, deren Abwehrkräfte wir gerade schwinden sehen.
Es sind brüchige Zeiten, Koalitionen zerbrechen, Abkommen werden aufgekündigt, Gletscher schmelzen ab, Hänge geraten ins Rutschen, Gewissheiten und für verbürgt gehaltene Standards eines zivilisierten Miteinanders nicht minder. Im Zeitalter des Anthropozäns stellt sich das Wirken des Menschen als weitgehend destruktiv heraus; das alle Lebensbereiche – die natürlichen, die sozialen und die kulturellen – bestimmende Primat des Ökonomischen, die Allgegenwart des Wettbewerbs, die permanent betriebene Selbstoptimierung erweisen sich als toxisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Carl Amery sprach in seinen Überlegungen Arbeit an der Zukunft in Bezug auf einen solchen ökologisch und sozial unverantwortlichen Umgang mit natürlichen und menschlichen Ressourcen von einer Verzweckung des Lebens. Selbst die Verbindlichkeit geltender Gesetze erodiert: Gegen universal geltende Vereinbarungen wie die UN-Chartas zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten wird verstoßen, regelmäßig bleiben rechtskräftige Gerichtsurteile des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag auch in Staaten, die die Verträge unterzeichnet haben folgenlos; Verfassungsorgane sind willkürlichen Manipulationen autokratischer Machtinhaber – auch in Demokratien westlicher Prägung – ausgesetzt. Bei nicht wenigen Amtsträgern herrscht bei politischen Entscheidungen anstelle der Vernunft und sorgfältiger Abwägung im Sinne des Gemeinwohls der reine Mutwille – der designierte (und frühere) Präsident der Vereinigten Staaten liefert dafür gegenwärtig anschauliche Beispiele in großer Zahl. Pippi Langstrumpfs lustige persönliche Hymne auf Definitionshoheit – zwei mal drei macht vier / Widdewiddewitt / und Drei macht Neune!! / Ich mach‘ mir die Welt / Widdewidde wie sie mir gefällt – pervertiert zum gruseligen Programm eines auf Willkür, Lüge und persönlicher Vorteilswahrung beruhenden Strebens nach Macht(-erhalt).
Der Unterbrechung des Knochengewebes bei einer Fraktur entsprechen im gesellschaftspolitischen Kontext die Risse im sozialen Gewebe, die Zersplitterung der Öffentlichkeit in zahllose Diasporas. Die wachsende Abschottung einzelner Milieus und Gruppen, die Zunahme von Ghosting im privaten Umfeld, von Disruption und Konversion – im Handumdrehen werden aus ehemaligen politischen Gegnern Verbündete – möchte ich einem digitalen Modus zuordnen. Dieser ist durch Sprunghaftigkeit – null eins, null eins – gekennzeichnet, ihm entgegengesetzt ist der analoge Modus, für den Kontinuität konstitutiv ist. Mit der metaphorischen Verwendung der Begriffe digital und analog ist keine absolute Wertung verbunden, es gab durchaus Zeiten, in denen Spontaneität, der Bruch mit Tradiertem und Kontaminiertem segensreich war; die „Sponti-Bewegungen“, die „Sit-ins“ der 68er- und 70er-Jahre beispielsweise verdankten sich einer kritischen Revision jüngst vergangener Geschichte und forderten eine Zäsur. Die auf Verdrängung beruhende Kontinuität – personell wie ideologisch – der Nachkriegsepoche war zweifellos unheilvoll. Meine Überlegungen gelten jedoch unserer Gegenwart, eine Gegenwart, die seit Jahrzehnten von einem neoliberalen Zeitgeist geprägt ist, der in seiner blinden Orientierung am Jetzt und einem rein quantitativ verstandenen Wachstum zu Geschichtsvergessenheit neigt – auch zu Zukunftsvergessenheit, Stichwort Klima. Der Neoliberalismus entwirft einen Wertekanon, der ganz auf Hierarchien, Leistung, Erfolg, materiellen Wohlstand und Dominanz bei der Durchsetzung der eigenen Interessen setzt. Wer das Modell adaptiert, wird mit üppigen Boni – materiellen wie immateriellen – belohnt. Die daraus erwachsenden sozialen Spannungen sorgen für heftige tektonische Verschiebungen und Erschütterungen. Ein unersetzlicher Seismograph, der die gesellschaftspolitischen Verwerfungen vermisst und aufzeichnet, ist die Kultur. Und die Kunst. Kunstwerke, schreiben Aleida und Jan Assmann in ihrem letzten gemeinsamen Projekt Gemeinsinn. Der sechste soziale Sinn,
Kunstwerke haben die Macht, unsichtbare gesellschaftliche Probleme sinnlich wahrnehmbar zu machen. Sie tragen bei zu einer Debatte, indem sie Worte, Gefühle, Aussagen und Handlungen provozieren.
Fragen wir uns also, was passiert, wenn die für eine solche Debatte notwendigen Entfaltungsräume – durchaus als allen zugängliche „dritte“ und oft analoge Orte zu verstehen – kleingespart oder gar für verzichtbar erklärt werden? Was passiert, wenn die Lieblingsverben von Politakteuren mit einer Vorliebe für kurze Prozesse und Hau-Ruck-Entscheidungen – feuern, stornieren, kürzen, boykottieren – den Wortschatz prägen und die Handlungen dominieren? Das Machtwort die Wortmacht ablöst? Dann wird der in der Sprache enthaltene Schatz, nämlich die Möglichkeit und die Bereitschaft zum gegenseitigen Verstehen, zur Korrektur eingefahrener Wahrnehmungsroutinen und Fehlurteile, zur empathischen Einfühlung in den anderen korrumpiert und bedroht. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und gelungene Kommunikation gründen wesentlich auf der solidarischen Weitergabe von Wissen und Erfahrung, auf Vertrauen in die Wahrheit des Übermittelten, auf Transparenz, gleichberechtigter Partizipation und Kontinuität. Kontinuität nicht im Sinne von blinder, unkritischer Fortführung des Überkommenen oder Wiedereinsetzung des Vorgestern, wie von rechts gefordert. Sondern als kritische Abwägung möglicher Entwicklungen und notwendiger Korrekturen. Nachdenken, Lernen, Lehren, Forschen, Gestalten, Erinnern und Gedenken – alles Ausdrucksformen einer kulturellen Praxis –, sind nur dann produktiv, wenn sie den weiten zeitlichen Horizont von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausleuchten und bedenken können. Genauso wichtig ist es, das sich mehr und mehr verbreitende sektionale Denken, also räumliche bzw. sozial vorgegebene Grenzziehungen, zu hinterfragen. Der digitale Modus, das Disruptive und Sprunghafte ist geschichtsvergessen, es kennt nur eine Zeitdimension: die Gegenwart. Das erinnert an den in Michail Bachtins Studie Chronotopos eingeführten Begriff der „Abenteuerzeit“, die weder Wandel, noch Erinnerung, noch Entwicklung kennt. Auch der Raumbegriff des disruptiven, isolationistischen Modus ist eindimensional, er verkennt die globalen Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten, er kennt allein das eigene Land: America first. Ein mehrdimensionaler Zeit- und Raumbegriff ist aber entscheidend zur Vorbeugung schmerzhafter Frakturen und für die Erinnerungsarbeit, die die Künste, die Literatur, die Philosophie, die Kirchen, die Sozial- und Politikwissenschaften, ja alle Wissenschaften und die Publizistik in einer offenen Gesellschaft leisten. Erinnerungsarbeit legt Zusammenhänge offen und stiftet sie, d.h. sie bewertet das Kontinuum Geschichte kritisch. Sie ist selbstreflexiv – sich erinnern – und transitiv – an etwas erinnern, erfüllt also zwei wichtige Funktionen: Kritik und Mahnung. Den Künsten fällt eine besondere Rolle zu, insofern als sie Geschichtliches und Geschichten sinnlich erfahrbar machen, sie sind das ausgelagerte Gedächtnis der Epochen – auch das der Gegenwart. Kunst steht allen zur Verfügung, ist gleichwohl unverfügbar, einem instrumentellen Zugriff entzogen. Indem wir Kunst rezipieren, nehmen wir kritisch an ihrer Erinnerungs- und Gestaltungsarbeit teil, nicht als Zielgruppe oder als Konsumenten eines von Algorithmen platzierten Produkts, mit mal sedierender, mal emotionalisierender Geschmacksverstärkung, sondern als Generalisten, als denkende, fühlende, mitfühlende und handelnde Subjekte.
[…] Erinnerung ist permanente Arbeit. Vernachlässigen wir diese, dann entfesseln die Lebenden Kriege. Das schreibt die ukrainische Autorin Maria Matios in ihrem 2019 erschienenen Roman Bukova semlja (Das Buchenland). Wie unabweisbar die Richtigkeit dieser Beobachtung ist, erleben wir gerade heute erneut – und es wird solange bei der prognostizierten Entfesselung bleiben, wie versäumt wird, für ein gesellschaftliches Klima zu sorgen, in dem Rehabilitation gelingen kann. Gelungene Rehabilitation setzt voraus, dass der ihr zugewiesene kulturelle Raum weder instrumentalisiert noch kommerzialisiert wird, sondern als Allmende allen offensteht und von allen gesellschaftlichen Kräften verantwortungsvoll gepflegt wird.
Gegenwärtig sieht es allerdings eher so aus, als würde die mit dem Management multipler Krisen ausgelastete oder sogar überforderte Tagespolitik für die Einrichtung eines solchen Freiraums keine Notwendigkeit sehen und folglich auch keine Mittel zur Verfügung stellen. Der kulturelle Raum wird vielmehr als Escape-Room bewirtschaftet, in dem eine erschöpfte und zermürbte Gesellschaft der Realität entfliehen möchte, eine Realität, die markiert ist von kriegerischen Konflikten, Klimakatastrophen und hocherhitztem Wettbewerb.
Bleib erschütterbar und widersteh! Das rief uns der Dichter Peter Rühmkorf in seinen „Vorletzten Gedichten“ kurz vor der Jahrtausendwende zu.
Es gilt noch immer.
FRAKTUREN. Ein Essay von Dagmar Leupold>
Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Unter ihren zahlreichen Werken sind u.a. Byrons Feldbett (2001), Eden Plaza (2002), Nach den Kriegen (2004) und Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal (2009) zu nennen. Für ihr schriftstellerisches Werk hat Dagmar Leupold etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand (2013). Ihr Roman Die Witwen (2016) war zudem für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2023 wurde sie mit dem Literaturpreis der Stadt München (2023) ausgezeichnet.
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Frakturen, lese ich in einem medizinischen Fachbuch, sind Kontinuitätsunterbrechungen des Knochengewebes und in der Regel auf Verletzungen oder Überbeanspruchung zurückzuführen. Um Knochenbrüche geht es hier freilich nicht, sehr wohl aber um Kontinuitätsunterbrechungen, Verletzungen, Überbeanspruchung und ihre schädigenden Folgen bei dem hier zur Frage stehenden Patienten: die offene demokratische Gesellschaft, deren Abwehrkräfte wir gerade schwinden sehen.
Es sind brüchige Zeiten, Koalitionen zerbrechen, Abkommen werden aufgekündigt, Gletscher schmelzen ab, Hänge geraten ins Rutschen, Gewissheiten und für verbürgt gehaltene Standards eines zivilisierten Miteinanders nicht minder. Im Zeitalter des Anthropozäns stellt sich das Wirken des Menschen als weitgehend destruktiv heraus; das alle Lebensbereiche – die natürlichen, die sozialen und die kulturellen – bestimmende Primat des Ökonomischen, die Allgegenwart des Wettbewerbs, die permanent betriebene Selbstoptimierung erweisen sich als toxisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Carl Amery sprach in seinen Überlegungen Arbeit an der Zukunft in Bezug auf einen solchen ökologisch und sozial unverantwortlichen Umgang mit natürlichen und menschlichen Ressourcen von einer Verzweckung des Lebens. Selbst die Verbindlichkeit geltender Gesetze erodiert: Gegen universal geltende Vereinbarungen wie die UN-Chartas zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten wird verstoßen, regelmäßig bleiben rechtskräftige Gerichtsurteile des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag auch in Staaten, die die Verträge unterzeichnet haben folgenlos; Verfassungsorgane sind willkürlichen Manipulationen autokratischer Machtinhaber – auch in Demokratien westlicher Prägung – ausgesetzt. Bei nicht wenigen Amtsträgern herrscht bei politischen Entscheidungen anstelle der Vernunft und sorgfältiger Abwägung im Sinne des Gemeinwohls der reine Mutwille – der designierte (und frühere) Präsident der Vereinigten Staaten liefert dafür gegenwärtig anschauliche Beispiele in großer Zahl. Pippi Langstrumpfs lustige persönliche Hymne auf Definitionshoheit – zwei mal drei macht vier / Widdewiddewitt / und Drei macht Neune!! / Ich mach‘ mir die Welt / Widdewidde wie sie mir gefällt – pervertiert zum gruseligen Programm eines auf Willkür, Lüge und persönlicher Vorteilswahrung beruhenden Strebens nach Macht(-erhalt).
Der Unterbrechung des Knochengewebes bei einer Fraktur entsprechen im gesellschaftspolitischen Kontext die Risse im sozialen Gewebe, die Zersplitterung der Öffentlichkeit in zahllose Diasporas. Die wachsende Abschottung einzelner Milieus und Gruppen, die Zunahme von Ghosting im privaten Umfeld, von Disruption und Konversion – im Handumdrehen werden aus ehemaligen politischen Gegnern Verbündete – möchte ich einem digitalen Modus zuordnen. Dieser ist durch Sprunghaftigkeit – null eins, null eins – gekennzeichnet, ihm entgegengesetzt ist der analoge Modus, für den Kontinuität konstitutiv ist. Mit der metaphorischen Verwendung der Begriffe digital und analog ist keine absolute Wertung verbunden, es gab durchaus Zeiten, in denen Spontaneität, der Bruch mit Tradiertem und Kontaminiertem segensreich war; die „Sponti-Bewegungen“, die „Sit-ins“ der 68er- und 70er-Jahre beispielsweise verdankten sich einer kritischen Revision jüngst vergangener Geschichte und forderten eine Zäsur. Die auf Verdrängung beruhende Kontinuität – personell wie ideologisch – der Nachkriegsepoche war zweifellos unheilvoll. Meine Überlegungen gelten jedoch unserer Gegenwart, eine Gegenwart, die seit Jahrzehnten von einem neoliberalen Zeitgeist geprägt ist, der in seiner blinden Orientierung am Jetzt und einem rein quantitativ verstandenen Wachstum zu Geschichtsvergessenheit neigt – auch zu Zukunftsvergessenheit, Stichwort Klima. Der Neoliberalismus entwirft einen Wertekanon, der ganz auf Hierarchien, Leistung, Erfolg, materiellen Wohlstand und Dominanz bei der Durchsetzung der eigenen Interessen setzt. Wer das Modell adaptiert, wird mit üppigen Boni – materiellen wie immateriellen – belohnt. Die daraus erwachsenden sozialen Spannungen sorgen für heftige tektonische Verschiebungen und Erschütterungen. Ein unersetzlicher Seismograph, der die gesellschaftspolitischen Verwerfungen vermisst und aufzeichnet, ist die Kultur. Und die Kunst. Kunstwerke, schreiben Aleida und Jan Assmann in ihrem letzten gemeinsamen Projekt Gemeinsinn. Der sechste soziale Sinn,
Kunstwerke haben die Macht, unsichtbare gesellschaftliche Probleme sinnlich wahrnehmbar zu machen. Sie tragen bei zu einer Debatte, indem sie Worte, Gefühle, Aussagen und Handlungen provozieren.
Fragen wir uns also, was passiert, wenn die für eine solche Debatte notwendigen Entfaltungsräume – durchaus als allen zugängliche „dritte“ und oft analoge Orte zu verstehen – kleingespart oder gar für verzichtbar erklärt werden? Was passiert, wenn die Lieblingsverben von Politakteuren mit einer Vorliebe für kurze Prozesse und Hau-Ruck-Entscheidungen – feuern, stornieren, kürzen, boykottieren – den Wortschatz prägen und die Handlungen dominieren? Das Machtwort die Wortmacht ablöst? Dann wird der in der Sprache enthaltene Schatz, nämlich die Möglichkeit und die Bereitschaft zum gegenseitigen Verstehen, zur Korrektur eingefahrener Wahrnehmungsroutinen und Fehlurteile, zur empathischen Einfühlung in den anderen korrumpiert und bedroht. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und gelungene Kommunikation gründen wesentlich auf der solidarischen Weitergabe von Wissen und Erfahrung, auf Vertrauen in die Wahrheit des Übermittelten, auf Transparenz, gleichberechtigter Partizipation und Kontinuität. Kontinuität nicht im Sinne von blinder, unkritischer Fortführung des Überkommenen oder Wiedereinsetzung des Vorgestern, wie von rechts gefordert. Sondern als kritische Abwägung möglicher Entwicklungen und notwendiger Korrekturen. Nachdenken, Lernen, Lehren, Forschen, Gestalten, Erinnern und Gedenken – alles Ausdrucksformen einer kulturellen Praxis –, sind nur dann produktiv, wenn sie den weiten zeitlichen Horizont von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausleuchten und bedenken können. Genauso wichtig ist es, das sich mehr und mehr verbreitende sektionale Denken, also räumliche bzw. sozial vorgegebene Grenzziehungen, zu hinterfragen. Der digitale Modus, das Disruptive und Sprunghafte ist geschichtsvergessen, es kennt nur eine Zeitdimension: die Gegenwart. Das erinnert an den in Michail Bachtins Studie Chronotopos eingeführten Begriff der „Abenteuerzeit“, die weder Wandel, noch Erinnerung, noch Entwicklung kennt. Auch der Raumbegriff des disruptiven, isolationistischen Modus ist eindimensional, er verkennt die globalen Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten, er kennt allein das eigene Land: America first. Ein mehrdimensionaler Zeit- und Raumbegriff ist aber entscheidend zur Vorbeugung schmerzhafter Frakturen und für die Erinnerungsarbeit, die die Künste, die Literatur, die Philosophie, die Kirchen, die Sozial- und Politikwissenschaften, ja alle Wissenschaften und die Publizistik in einer offenen Gesellschaft leisten. Erinnerungsarbeit legt Zusammenhänge offen und stiftet sie, d.h. sie bewertet das Kontinuum Geschichte kritisch. Sie ist selbstreflexiv – sich erinnern – und transitiv – an etwas erinnern, erfüllt also zwei wichtige Funktionen: Kritik und Mahnung. Den Künsten fällt eine besondere Rolle zu, insofern als sie Geschichtliches und Geschichten sinnlich erfahrbar machen, sie sind das ausgelagerte Gedächtnis der Epochen – auch das der Gegenwart. Kunst steht allen zur Verfügung, ist gleichwohl unverfügbar, einem instrumentellen Zugriff entzogen. Indem wir Kunst rezipieren, nehmen wir kritisch an ihrer Erinnerungs- und Gestaltungsarbeit teil, nicht als Zielgruppe oder als Konsumenten eines von Algorithmen platzierten Produkts, mit mal sedierender, mal emotionalisierender Geschmacksverstärkung, sondern als Generalisten, als denkende, fühlende, mitfühlende und handelnde Subjekte.
[…] Erinnerung ist permanente Arbeit. Vernachlässigen wir diese, dann entfesseln die Lebenden Kriege. Das schreibt die ukrainische Autorin Maria Matios in ihrem 2019 erschienenen Roman Bukova semlja (Das Buchenland). Wie unabweisbar die Richtigkeit dieser Beobachtung ist, erleben wir gerade heute erneut – und es wird solange bei der prognostizierten Entfesselung bleiben, wie versäumt wird, für ein gesellschaftliches Klima zu sorgen, in dem Rehabilitation gelingen kann. Gelungene Rehabilitation setzt voraus, dass der ihr zugewiesene kulturelle Raum weder instrumentalisiert noch kommerzialisiert wird, sondern als Allmende allen offensteht und von allen gesellschaftlichen Kräften verantwortungsvoll gepflegt wird.
Gegenwärtig sieht es allerdings eher so aus, als würde die mit dem Management multipler Krisen ausgelastete oder sogar überforderte Tagespolitik für die Einrichtung eines solchen Freiraums keine Notwendigkeit sehen und folglich auch keine Mittel zur Verfügung stellen. Der kulturelle Raum wird vielmehr als Escape-Room bewirtschaftet, in dem eine erschöpfte und zermürbte Gesellschaft der Realität entfliehen möchte, eine Realität, die markiert ist von kriegerischen Konflikten, Klimakatastrophen und hocherhitztem Wettbewerb.
Bleib erschütterbar und widersteh! Das rief uns der Dichter Peter Rühmkorf in seinen „Vorletzten Gedichten“ kurz vor der Jahrtausendwende zu.
Es gilt noch immer.