100 Jahre Literaturarchiv Monacensia: Ein Symposium
Im November 2024 feierte die Monacensia im Hildebrandhaus das hundertjährige Bestehen des Literaturarchivs, begann doch der hauptamtliche Stadtbibliotheksdirektor Hans Ludwig Held (1885-1954) im Jahr 1924 Handschriften berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu sammeln. Damit legte er den Grundstein für das heutige Literaturarchiv der Monacensia, das literarische Gedächtnis der Stadt München. Das Symposium konzentrierte sich auf historische, politische und gesellschaftliche Kontexte, die eine Rolle für die Sammlung und Vermittlung von Beständen spielen. Entsprechend wichtig sei es für Gedächtnisinstitutionen, kritisch die eigene Geschichte zu reflektieren und die Aufarbeitung transparent zu gestalten, so die Leiterin der Monacensia Anke Buettner.
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Die Fragestellungen während des Symposiums waren vielfältig, u.a.: Wie sieht die Zukunft von Archiven aus? Welche Perspektiven fehlen in unserer Erinnerungskultur? Mehrere Vorträge gaben Einblicke in die Vergangenheit und Visionen für vielfältige Archive. Anton Biebl, Kulturreferent der Landeshauptstadt München, lobte bei seiner Begrüßung die Arbeit der Monacensia und hob insbesondere die Tätigkeit des Archivleiters Thomas Schütte hervor: „Seine Arbeit macht deutlich, welche Auswirkungen autoritäre Regime auf Archive und Bibliotheken ausüben.“ Biebl erinnerte an die 70er und 80er Jahre, in denen das Kulturreferat vor schwierigen Entscheidungen stand. Von einem Umzug der Monacensia in den Gasteig war damals die Rede. Aber letztlich setzte sich die Überzeugung durch, dass die Monacensia als eigenständige Institution erhalten werden muss, als Ort der Literatur, der für alle Müncherinnen und Münchner zugänglich ist. Und natürlich bleibe auch der Erhalt und die Pflege des Archivs eine wichtige Aufgabe der Stadt.
Anke Buettner, die Leiterin der Monacensia, wies in ihrer Begrüßung darauf hin, dass das 1924 von Hans Ludwig Held als Handschriftensammlung gegründete Archiv genau betrachtet bedeutet, dass die Monacensia von Anfang an Teil der städtischen Bibliothek war. Buettner legte Wert auf „den offenen Raum als inspirierende und integrierende Begegnungsstädte“ in der Monacensia und in Bibliotheken allgemein. Da werde Wissen geteilt, solle Kultur lebendig und sichtbar werden. „Das offene, partizipative Konzept, das wir heute in der Monacensia leben, hilft uns, das literarische Gedächtnis der Stadt zu bewahren und weiter zu entwickeln.“ Zur Monacensia gehöre eine „menschenzugewandte Haltung“, die der Monacensia helfe, die literarischen Geschichten der Stadt auf vielfältige Weise zu erzählen.
Anatol Regnier, Schriftsteller, Musiker und Nachfahre der Familie Wedekind schilderte in seiner das Symposium eröffnenden Festrede seine Begegnungen mit dem Monacensia-Archiv in den vergangenen Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem Nachlass Frank Wedekinds (1864.1918), der sich hauptsächlich in der Monacensia befindet. Es sei eine lange Geschichte, die die Monacensia mit seiner Familie verbindet: „Mit politischen Aspekten und vielen persönlichen Entdeckungsreisen, Zusammenhängen, Abgründen und Komplikationen“, so Anatol Regnier, Enkel Frank Wedekinds und Tilly Wedekinds (1886-1970). Er begann seinen Bericht mit dem Tod seines Großvaters 1918 in München.
Frank Wedekind sei ein Ordnungsfanatiker gewesen: „Seine schriftlichen Hinterlassenschaften lagen wohlgeordnet in seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße 50 in München. Den ersten Zugriff darauf hatte der Theaterprofessor Artur Kutscher (1878-1960). Daraus entstand die erste Wedekind-Biografie, Kutschers große Würdigung: Frank Wedekind: Sein Leben und seine Werke, die in drei Bänden erschien (1922, 1927, 1931). Der deutsch-schweizerische Germanist Fritz Strich (1882-1963) veröffentlichte parallel dazu Briefe und ausgewählte Werke Wedekinds in den 1920er Jahren. „Danach geschah lange Zeit gar nichts. Der Nachlass lag weiterhin in Wedekinds Wohnung“, erklärte Regnier. Als seine Großmutter Tilly 1928 nach Berlin zog, nahm sie die vielen in Kisten verwahrten Unterlagen mit. Nach mehreren Umzügen befanden sie sich schließlich in der Dachgeschosswohnung in der Lessingstraße 50. Als sich Regniers Eltern, Charles Regnier (1914-2001) und Pamela Wedekind (1906-1986) Ende der 1930er Jahre in Berlin kennenlernten, regte Charles an, den Nachlass in Sicherheit zu bringen. Tilly transportierte die Kisten mit dem Nachlass Frank Wedekinds in die Schweiz nach Aarau, wo ihr Vater seine Jugend verbracht hatte – gerade noch rechtzeitig, denn das Dachgeschoss der Lessingstraße 50 in Berlin wurde bei einem Bombenangriff vollständig zerstört.
Nach dem Krieg kam Anatol Regniers Tante (Pamelas Schwester) Kadidja Wedekind (1911-1994) traurig, verbittert und mit wenig Geld aus den USA zurück. Einer der Gründe für ihre Verbitterung war Pamelas Erfolg, denn sie wurde bereits 1934 von Gustaf Gründgens (damals Intendant des Preußischen Staatstheaters in Berlin) engagiert. Anatol Regniers Mutter Pamela war während des Krieges mit der Billigung des Reichsmarschalls Hermann Göring als Schauspielerin an verschiedenen Theatern tätig. „Dadurch kam eine politische Komponente in die Familiengeschichte und auch in den Nachlass“, so Regnier. Denn mit Kadidjas Versuchen, das Werk ihres Vaters zu aktualisieren, war Pamela nicht einverstanden. Der Streit zwischen den Schwestern wurde nie bereinigt.
Nach Tillys Tod 1970 in München stellte sich erneut die Nachlass-Frage. Ein Teil blieb in Aarau, der andere kam nach Bayern. Tilly verkaufte den Nachlass an die Stadt München, im Gegenzug bekam Kadidja eine lebenslange Rente. Der damalige Leiter der Handschriftenabteilung der Münchner Stadtbibliothek Richard Lemp (1917-1999) machte sich an die Arbeit, 64 eng beschriebene Wedekind-Notizhefte mit einer Fülle von Informationen zu transkribieren. Ein Gesamtausgabe, herausgegeben durch die Akademie der Künste in Mainz war in Planung, die nötigen Fördergelder waren vorhanden, „aber Kadidja machte so viele Schwierigkeiten, weil sie immer meinte, die einzige zu sein, die Wedekinds Werk richtig deuten konnte und ungeheures Misstrauen allen anderen gegenüber zeigte, dass Herr Lemp letztlich aufgab. Ich sehe ihn noch in seinem Büro sitzen. Er sagte: ‚Ich kann nicht mehr. Sie ahnen gar nicht, was ich mit Ihrer Tante mitgemacht habe‘.“ Als Trost schenkte Lemp Anatol Regnier eine Gitarre: „Ich habe sie immer noch, eine schöne, wie man sie in München um Neunzehnhundert hatte.“
Danach beauftragte Kadidja den Germanisten Gerhard Hay (1939-2014) Wedekinds Tagebücher zu editieren, die bis dahin gesperrt waren. „Das geschah unter großen Bedenken meiner Mutter, denn sie galten als hocherotisch, besonders die Pariser Tagebücher. Herr Hay hat die Arbeit gut gemacht, wurde aber dann von Kadidja so herangenommen, dass er alle Freude an seiner Tätigkeit verlor. Später habe ich ihn noch einmal angerufen. Er sagte: ‚Über dieses Thema möchte ich nicht sprechen‘. Dabei war Kadidja die begabteste von der ganzen Familie. Sie war wirklich eine sehr gute Schriftstellerin, gute Stilistin, sehr clevere Frau, aber halt sehr schwierig.“
1986 starb Pamela und 1993 starb Kadidja: Anatol Regnier war zu der Zeit in Australien und kam 1995 zurück nach München. In der Monacensia lagerte ein Konvolut, die gesamte Korrespondenz der Eheleute Frank und Tilly Wedekind. Hunderte von Briefen, aber auf Wunsch von Tilly und Pamela gesperrt. „Niemand sollte wissen, wie die Ehe dieser Eltern wirklich war. Das Problem war: Die Briefe liegen hier und niemand darf sie anschauen. Was soll das? Also sind mein Vater und ich eines Tages hierhergekommen und saßen tagelang in einem der Säle und haben gelesen. Das war erschütternd, was da herauskam. Als Erstes möchte ich aber sagen: Das Papier war von ungeheurer Qualität. Die Briefe waren ja schon hundert Jahre alt oder mehr, aber das Papier war wie neu.“
Anatol und Charles Regnier waren von der Tragödie des Dichters Frank Wedekind und seiner Frau Tilly erschüttert. „Wedekind galt ja als Befreier der Frau, der das Fenster aufgestoßen und die weibliche Sexualität thematisiert hat, die es damals eigentlich gar nicht gab. Aber zugleich war er der eifersüchtigste Ehemann, den man sich vorstellen kann“, so Anatol Regnier. Wichtig ist für ihn auch die besondere Rolle der Tilly, die ihn mit großgezogen hatte. „Aber wir haben sie nie gefragt. Das war halt die Oma, die da war. Aber dann lasen wir, welche Rolle sie gespielt hat. Die Opferrolle betreffend der Wedekind-Stücke, die sie alle mit ihm gemeinsam aus der Taufe hob. Der Spott, die schlechten Kritiken, die Skandale – alles hat sie gemeinsam mit ihm erlebt. Auf der anderen Seite litt sie unter seiner Eifersucht, denn sie war ja zwanzig Jahre jünger als er; sie war schön, die Männer flogen auf sie, das wusste sie. Tilly konnte die Männer sehr leicht um den Finger wickeln, hat aber nie etwas gemacht. Aber Frank hat gespürt, sie hätte gekonnt. Und das war’s. Das war das Problem, ein tiefes Problem der Mann-Frau-Beziehung, das sich hier offenbarte.“
Es gab ein weiteres Konvolut in der Monacensia, das Frank Wedekind noch persönlich versiegelt hatte, nämlich die Korrespondenz mit seinem Sohn Friedrich Strindberg (1897-1978), den er gemeinsam mit der österreichischen Schriftstellerin Frida Uhl (1872-1943) gezeugt hatte. Zu der Zeit war Frida noch mit August Strindberg verheiratet, weshalb sie den Namen Strindberg trug, weshalb Sohn Friedrich, der aber Wedekinds Sohn war, den Namen Strindberg trug. „Man kann sich vorstellen, was das in einem jungen Mann anrichtet, zwei solche Vorfahren zu haben.“ Anatol Regnier berichtet, dass Friedrich Strindberg sich nicht sicher war, wie er sich nennen sollte und sich schließlich für den Doppelnamen Strindberg-Wedekind entschied. „Mit dem Namen stellte er sich in Berlin Siegfried Jacobsohn, dem Herausgeber der Zeitschrift Die Welbühne vor: ‚Gestatten, Strindberg-Wedekind‘. Daraufhin Jacobsohn: ‚Anjenehm – Schiller-Jöhte‘. Die Replik Jacobsohns hat ihn berühmter gemacht als alle seine literarischen Tätigkeiten.“
Anatol Regnier berichtet von einem schlimmen Streit zwischen Friedrich Strindberg und seinem Vater Frank Wedekind, der wohl im Konvolut dokumentiert war. „Ich sehe mich noch mit Herrn Lemp angesichts dieses von Frank Wedekind persönlich versiegelten Dokuments. ‚Was machen wir jetzt? Na gut: Jetzt brechen wir es auf.‘ Da kam wieder eine menschliche Tragödie zum Vorschein.“ Diese Geschichte habe ihm die Möglichkeit gegeben, das Buch Du auf deinem höchsten Dach: Tilly Wedekind und ihre Töchter – Eine Familienbiografie zu schreiben. „Ich hatte ungeheures Material, das noch niemand gesehen hatte.“ Dazu gehörten auch Dokumente, die Anatol Regnier in Ambach fand, wo seine Mutter gestorben war. Dazu gehörten Briefe an und von Erika Mann: „Eine ungeheure Liebegeschichte zwischen Pamela Wedekind und Erika Mann in den 1920er Jahren, wo Erika die Werbende war, nicht Pamela. Die Beziehung zerbrach aber, als die Mann-Kinder emigrierten und meine Mutter da blieb. Eine tiefe Kluft wurde in diese Freundschaft gerissen. Das alles befindet sich nun in der Monacensia, mit der mich so viel verbindet.“
Nach Anatol Regniers Festrede folgte eine weitere von Bülent Tulay, Verleger des Babel Verlages in München, der auf seine Weise die eigenen engen Beziehungen zur Monacensia schilderte. Den Kern des Symposium bildete der Vortrag Thomas Schüttes zur Institutionsgeschichte der Monacensia in den Jahren 1924 bis 1980. Dieser und auch weitere Beiträge werden zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.
Es folgten Vorträge zur Provenienzforschung und zur Aufarbeitung der NS-Geschichte des Stadtmuseums München von Regina Prinz und Luisa Rupprich und schließlich Impulsvorträge zum Schließen von Lücken und Leerstellen in Archiven und in der Erinnerungskultur von Albert Knoll vom Forum Queeres Archiv in München und von Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv München.
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Im November 2024 feierte die Monacensia im Hildebrandhaus das hundertjährige Bestehen des Literaturarchivs, begann doch der hauptamtliche Stadtbibliotheksdirektor Hans Ludwig Held (1885-1954) im Jahr 1924 Handschriften berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu sammeln. Damit legte er den Grundstein für das heutige Literaturarchiv der Monacensia, das literarische Gedächtnis der Stadt München. Das Symposium konzentrierte sich auf historische, politische und gesellschaftliche Kontexte, die eine Rolle für die Sammlung und Vermittlung von Beständen spielen. Entsprechend wichtig sei es für Gedächtnisinstitutionen, kritisch die eigene Geschichte zu reflektieren und die Aufarbeitung transparent zu gestalten, so die Leiterin der Monacensia Anke Buettner.
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Die Fragestellungen während des Symposiums waren vielfältig, u.a.: Wie sieht die Zukunft von Archiven aus? Welche Perspektiven fehlen in unserer Erinnerungskultur? Mehrere Vorträge gaben Einblicke in die Vergangenheit und Visionen für vielfältige Archive. Anton Biebl, Kulturreferent der Landeshauptstadt München, lobte bei seiner Begrüßung die Arbeit der Monacensia und hob insbesondere die Tätigkeit des Archivleiters Thomas Schütte hervor: „Seine Arbeit macht deutlich, welche Auswirkungen autoritäre Regime auf Archive und Bibliotheken ausüben.“ Biebl erinnerte an die 70er und 80er Jahre, in denen das Kulturreferat vor schwierigen Entscheidungen stand. Von einem Umzug der Monacensia in den Gasteig war damals die Rede. Aber letztlich setzte sich die Überzeugung durch, dass die Monacensia als eigenständige Institution erhalten werden muss, als Ort der Literatur, der für alle Müncherinnen und Münchner zugänglich ist. Und natürlich bleibe auch der Erhalt und die Pflege des Archivs eine wichtige Aufgabe der Stadt.
Anke Buettner, die Leiterin der Monacensia, wies in ihrer Begrüßung darauf hin, dass das 1924 von Hans Ludwig Held als Handschriftensammlung gegründete Archiv genau betrachtet bedeutet, dass die Monacensia von Anfang an Teil der städtischen Bibliothek war. Buettner legte Wert auf „den offenen Raum als inspirierende und integrierende Begegnungsstädte“ in der Monacensia und in Bibliotheken allgemein. Da werde Wissen geteilt, solle Kultur lebendig und sichtbar werden. „Das offene, partizipative Konzept, das wir heute in der Monacensia leben, hilft uns, das literarische Gedächtnis der Stadt zu bewahren und weiter zu entwickeln.“ Zur Monacensia gehöre eine „menschenzugewandte Haltung“, die der Monacensia helfe, die literarischen Geschichten der Stadt auf vielfältige Weise zu erzählen.
Anatol Regnier, Schriftsteller, Musiker und Nachfahre der Familie Wedekind schilderte in seiner das Symposium eröffnenden Festrede seine Begegnungen mit dem Monacensia-Archiv in den vergangenen Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem Nachlass Frank Wedekinds (1864.1918), der sich hauptsächlich in der Monacensia befindet. Es sei eine lange Geschichte, die die Monacensia mit seiner Familie verbindet: „Mit politischen Aspekten und vielen persönlichen Entdeckungsreisen, Zusammenhängen, Abgründen und Komplikationen“, so Anatol Regnier, Enkel Frank Wedekinds und Tilly Wedekinds (1886-1970). Er begann seinen Bericht mit dem Tod seines Großvaters 1918 in München.
Frank Wedekind sei ein Ordnungsfanatiker gewesen: „Seine schriftlichen Hinterlassenschaften lagen wohlgeordnet in seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße 50 in München. Den ersten Zugriff darauf hatte der Theaterprofessor Artur Kutscher (1878-1960). Daraus entstand die erste Wedekind-Biografie, Kutschers große Würdigung: Frank Wedekind: Sein Leben und seine Werke, die in drei Bänden erschien (1922, 1927, 1931). Der deutsch-schweizerische Germanist Fritz Strich (1882-1963) veröffentlichte parallel dazu Briefe und ausgewählte Werke Wedekinds in den 1920er Jahren. „Danach geschah lange Zeit gar nichts. Der Nachlass lag weiterhin in Wedekinds Wohnung“, erklärte Regnier. Als seine Großmutter Tilly 1928 nach Berlin zog, nahm sie die vielen in Kisten verwahrten Unterlagen mit. Nach mehreren Umzügen befanden sie sich schließlich in der Dachgeschosswohnung in der Lessingstraße 50. Als sich Regniers Eltern, Charles Regnier (1914-2001) und Pamela Wedekind (1906-1986) Ende der 1930er Jahre in Berlin kennenlernten, regte Charles an, den Nachlass in Sicherheit zu bringen. Tilly transportierte die Kisten mit dem Nachlass Frank Wedekinds in die Schweiz nach Aarau, wo ihr Vater seine Jugend verbracht hatte – gerade noch rechtzeitig, denn das Dachgeschoss der Lessingstraße 50 in Berlin wurde bei einem Bombenangriff vollständig zerstört.
Nach dem Krieg kam Anatol Regniers Tante (Pamelas Schwester) Kadidja Wedekind (1911-1994) traurig, verbittert und mit wenig Geld aus den USA zurück. Einer der Gründe für ihre Verbitterung war Pamelas Erfolg, denn sie wurde bereits 1934 von Gustaf Gründgens (damals Intendant des Preußischen Staatstheaters in Berlin) engagiert. Anatol Regniers Mutter Pamela war während des Krieges mit der Billigung des Reichsmarschalls Hermann Göring als Schauspielerin an verschiedenen Theatern tätig. „Dadurch kam eine politische Komponente in die Familiengeschichte und auch in den Nachlass“, so Regnier. Denn mit Kadidjas Versuchen, das Werk ihres Vaters zu aktualisieren, war Pamela nicht einverstanden. Der Streit zwischen den Schwestern wurde nie bereinigt.
Nach Tillys Tod 1970 in München stellte sich erneut die Nachlass-Frage. Ein Teil blieb in Aarau, der andere kam nach Bayern. Tilly verkaufte den Nachlass an die Stadt München, im Gegenzug bekam Kadidja eine lebenslange Rente. Der damalige Leiter der Handschriftenabteilung der Münchner Stadtbibliothek Richard Lemp (1917-1999) machte sich an die Arbeit, 64 eng beschriebene Wedekind-Notizhefte mit einer Fülle von Informationen zu transkribieren. Ein Gesamtausgabe, herausgegeben durch die Akademie der Künste in Mainz war in Planung, die nötigen Fördergelder waren vorhanden, „aber Kadidja machte so viele Schwierigkeiten, weil sie immer meinte, die einzige zu sein, die Wedekinds Werk richtig deuten konnte und ungeheures Misstrauen allen anderen gegenüber zeigte, dass Herr Lemp letztlich aufgab. Ich sehe ihn noch in seinem Büro sitzen. Er sagte: ‚Ich kann nicht mehr. Sie ahnen gar nicht, was ich mit Ihrer Tante mitgemacht habe‘.“ Als Trost schenkte Lemp Anatol Regnier eine Gitarre: „Ich habe sie immer noch, eine schöne, wie man sie in München um Neunzehnhundert hatte.“
Danach beauftragte Kadidja den Germanisten Gerhard Hay (1939-2014) Wedekinds Tagebücher zu editieren, die bis dahin gesperrt waren. „Das geschah unter großen Bedenken meiner Mutter, denn sie galten als hocherotisch, besonders die Pariser Tagebücher. Herr Hay hat die Arbeit gut gemacht, wurde aber dann von Kadidja so herangenommen, dass er alle Freude an seiner Tätigkeit verlor. Später habe ich ihn noch einmal angerufen. Er sagte: ‚Über dieses Thema möchte ich nicht sprechen‘. Dabei war Kadidja die begabteste von der ganzen Familie. Sie war wirklich eine sehr gute Schriftstellerin, gute Stilistin, sehr clevere Frau, aber halt sehr schwierig.“
1986 starb Pamela und 1993 starb Kadidja: Anatol Regnier war zu der Zeit in Australien und kam 1995 zurück nach München. In der Monacensia lagerte ein Konvolut, die gesamte Korrespondenz der Eheleute Frank und Tilly Wedekind. Hunderte von Briefen, aber auf Wunsch von Tilly und Pamela gesperrt. „Niemand sollte wissen, wie die Ehe dieser Eltern wirklich war. Das Problem war: Die Briefe liegen hier und niemand darf sie anschauen. Was soll das? Also sind mein Vater und ich eines Tages hierhergekommen und saßen tagelang in einem der Säle und haben gelesen. Das war erschütternd, was da herauskam. Als Erstes möchte ich aber sagen: Das Papier war von ungeheurer Qualität. Die Briefe waren ja schon hundert Jahre alt oder mehr, aber das Papier war wie neu.“
Anatol und Charles Regnier waren von der Tragödie des Dichters Frank Wedekind und seiner Frau Tilly erschüttert. „Wedekind galt ja als Befreier der Frau, der das Fenster aufgestoßen und die weibliche Sexualität thematisiert hat, die es damals eigentlich gar nicht gab. Aber zugleich war er der eifersüchtigste Ehemann, den man sich vorstellen kann“, so Anatol Regnier. Wichtig ist für ihn auch die besondere Rolle der Tilly, die ihn mit großgezogen hatte. „Aber wir haben sie nie gefragt. Das war halt die Oma, die da war. Aber dann lasen wir, welche Rolle sie gespielt hat. Die Opferrolle betreffend der Wedekind-Stücke, die sie alle mit ihm gemeinsam aus der Taufe hob. Der Spott, die schlechten Kritiken, die Skandale – alles hat sie gemeinsam mit ihm erlebt. Auf der anderen Seite litt sie unter seiner Eifersucht, denn sie war ja zwanzig Jahre jünger als er; sie war schön, die Männer flogen auf sie, das wusste sie. Tilly konnte die Männer sehr leicht um den Finger wickeln, hat aber nie etwas gemacht. Aber Frank hat gespürt, sie hätte gekonnt. Und das war’s. Das war das Problem, ein tiefes Problem der Mann-Frau-Beziehung, das sich hier offenbarte.“
Es gab ein weiteres Konvolut in der Monacensia, das Frank Wedekind noch persönlich versiegelt hatte, nämlich die Korrespondenz mit seinem Sohn Friedrich Strindberg (1897-1978), den er gemeinsam mit der österreichischen Schriftstellerin Frida Uhl (1872-1943) gezeugt hatte. Zu der Zeit war Frida noch mit August Strindberg verheiratet, weshalb sie den Namen Strindberg trug, weshalb Sohn Friedrich, der aber Wedekinds Sohn war, den Namen Strindberg trug. „Man kann sich vorstellen, was das in einem jungen Mann anrichtet, zwei solche Vorfahren zu haben.“ Anatol Regnier berichtet, dass Friedrich Strindberg sich nicht sicher war, wie er sich nennen sollte und sich schließlich für den Doppelnamen Strindberg-Wedekind entschied. „Mit dem Namen stellte er sich in Berlin Siegfried Jacobsohn, dem Herausgeber der Zeitschrift Die Welbühne vor: ‚Gestatten, Strindberg-Wedekind‘. Daraufhin Jacobsohn: ‚Anjenehm – Schiller-Jöhte‘. Die Replik Jacobsohns hat ihn berühmter gemacht als alle seine literarischen Tätigkeiten.“
Anatol Regnier berichtet von einem schlimmen Streit zwischen Friedrich Strindberg und seinem Vater Frank Wedekind, der wohl im Konvolut dokumentiert war. „Ich sehe mich noch mit Herrn Lemp angesichts dieses von Frank Wedekind persönlich versiegelten Dokuments. ‚Was machen wir jetzt? Na gut: Jetzt brechen wir es auf.‘ Da kam wieder eine menschliche Tragödie zum Vorschein.“ Diese Geschichte habe ihm die Möglichkeit gegeben, das Buch Du auf deinem höchsten Dach: Tilly Wedekind und ihre Töchter – Eine Familienbiografie zu schreiben. „Ich hatte ungeheures Material, das noch niemand gesehen hatte.“ Dazu gehörten auch Dokumente, die Anatol Regnier in Ambach fand, wo seine Mutter gestorben war. Dazu gehörten Briefe an und von Erika Mann: „Eine ungeheure Liebegeschichte zwischen Pamela Wedekind und Erika Mann in den 1920er Jahren, wo Erika die Werbende war, nicht Pamela. Die Beziehung zerbrach aber, als die Mann-Kinder emigrierten und meine Mutter da blieb. Eine tiefe Kluft wurde in diese Freundschaft gerissen. Das alles befindet sich nun in der Monacensia, mit der mich so viel verbindet.“
Nach Anatol Regniers Festrede folgte eine weitere von Bülent Tulay, Verleger des Babel Verlages in München, der auf seine Weise die eigenen engen Beziehungen zur Monacensia schilderte. Den Kern des Symposium bildete der Vortrag Thomas Schüttes zur Institutionsgeschichte der Monacensia in den Jahren 1924 bis 1980. Dieser und auch weitere Beiträge werden zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht.
Es folgten Vorträge zur Provenienzforschung und zur Aufarbeitung der NS-Geschichte des Stadtmuseums München von Regina Prinz und Luisa Rupprich und schließlich Impulsvorträge zum Schließen von Lücken und Leerstellen in Archiven und in der Erinnerungskultur von Albert Knoll vom Forum Queeres Archiv in München und von Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv München.