FREISCHWIMMEN – DER ORT AN DEM ICH BIN. Ein mäandernder Text über Schreiben und Schwimmen (3)
Literatur und Bewegung gehen ein spannendes Gespann ein. Der Bewegung im Kopf setzen viele Autorinnen und Autoren eine körperliche Bewegung entgegen oder ergänzen die eine mit der anderen. Von den offensichtlichen gesundheitlichen Gründen abgesehen, ist das eine oftmals die Verlängerung des anderen.
Die Autorin Sara Goméz ist leidenschaftliche Schwimmerin ohne jede Ambition an sportliches Achievement. In dieser 9-teiligen Blogreihe lässt sie sich treiben wie in einem See und kommt dennoch immer wieder zurück in ihre Bahnen. Sie schreibt darüber, wie Schreiben und Schwimmen, wie Bewegung und Denken für sie zusammenhängen. Wir präsentieren hier die erste Folge.
*
THEN, ONE DAY, IT BECAME MORE SERIOUS. THEN … IT BECAME SOMEHOW PERSONAL
Es braucht einen Hang zur Obsession, um sich wie Diane Nyad in den Kopf zu setzen, die Strecke Kuba-Miami, die noch nie jemand frei, ohne Hai-Käfig geschwommen war, zu bezwingen oder wie Maggie Nelson ein ganzes Buch über ihre Besessenheit zur Farbe Blau zu füllen: „Dann eines Tages wurde es ernster Dann … wurde es irgendwie persönlich … Und so verliebte ich mich … in die Farbe Blau“[1].
Ich bewundere diese Frauen um ihre jeweilige Obsession, die das Spielfeld des handelsüblichen Ehrgeizes längst verlassen hat. Ehrgeiz ist kleinlich, geht meist Hand in Hand mit Perfektionismus – nichts, was mich interessiert oder inspiriert. Aber Obsession ist ein Verfallensein an ... an eine Idee, einen Menschen, eine Kunst, eine Bewegung. Und wenn man dann auch noch darüber schreiben kann – beneidenswert! Ich selbst empfinde meine Obsessionen noch zu kleinlich, aber vielleicht liegt es mehr an der fehlenden Form, eine, in die ich sie noch gießen müsste. Ein wunderbarer Gedanke, um damit schwimmen zu gehen! Ein Drehen und Wenden im Kopf, nur hin und wieder abgelöst vom Zählen der Bahnen, drei, vierzehn, zweiunddreißig. Und was habe ich gemacht, gedacht und gefühlt als ich in dem Alter war? Dieses Spiel spiele ich jedes Mal, wenn ich schwimmen gehe: Was war mit 8, 13, mit 27?
Meine Eltern, die mir zwar ihre Liebe zur Bewegung, aber auch ihren fehlenden Ehrgeiz bezüglich sportlicher Leistungen vererbt haben, hatten mich nie zu irgendeinem Abzeichen gedrängt. So hat die 9-jährige Tochter einer Freundin mir mittlerweile mindestens drei Abzeichen voraus. Geduldig erklärt sie mir, was ich tun muss, um ein Seepferdchen und später Bronze, Silber, Gold zu bekommen. Gold! Ich! Nichts, was ich mit mir verbinde – aber im Gegensatz zum Fahrradfahren, wo mir auch alle möglichen Abzeichen fehlen, träume ich beim Schwimmen sogar wirklich manchmal, irgendwann noch vorstellig zu werden. Und zwar als Rache an der Genese meiner Ängste just in jener Kleinstadt, in der ich Angst vor dem Tauchen bekam, nachdem ich an einem kreischenden Sommertag unfreiwillig untergetaucht wurde im örtlichen Freibad. Einer der vielen Balzvorgänge, mit denen sich Mädchen und Jungen in zart-harter (Vor-)Pubertät annäherten und dies hinter ähnlich schematischen Vorgängen verbargen wie der Tatsache, dass für alles nur zwei Geschlechter vorgesehen waren.
Man wird mit Geschlechtsteilen geboren, aber zu was für einem (Gesamt-)Geschlecht mensch sich zugehörig fühlt, das ist eben wie der gesamte psychische Apparat Teil eines Spektrums, auf dem sich jede Person im Laufe ihres Lebens (bestenfalls selbst) verortet und/oder (oft unfreiwillig) von ihrem Vorfeld verortet wird. In diesem Sinne ist, Simone de Beauvoirs Ausspruch on ne naît pas femme, on le devient weitsichtig dekonstruierend, weit über das hinaus, was die Schriftstellerin und Philosophin eigentlich beabsichtigt hatte. Von Beauvoir wissen wir übrigens, dass sie mindestens während jener Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs passionierte Radfahrerin war: „Ich wollte die Kilometer auf meinem Rad nur so fressen. Es ist eine neue Lebensfreude, die ich entdeckt habe“[2], zitiert Hannah Ross sie in ihrem Buch Revolutions – Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten. Ross schließt ihr Kapitel über die französische Ikone mit einem Sinnieren: „Jene Bewegung ihrer Beine mag Ideen zu Feminismus und Existenzialismus ins Rollen gebracht haben, die Simone de Beauvoir zu einer der größten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts machten“[3].
Dass Beauvoir letztlich nicht viel vom Körper hielt, liegt auch daran, dass der Körper von Frauen und nicht-binären Personen oft genug einem Gefängnis gleicht: Gefangen aufgrund des gesellschaftlichen Umgangs mit den Dingen des Körpers wie Körperhaaren, Pubertät, Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, Unfruchtbarkeit, Abgängen, Menopause einerseits und dem Anspruch an die „göttliche Hure“, sowohl Mama als auch bad bitch zu sein, also sexuell verfügbar auszusehen, es aber (meistens) nicht zu sein – jedenfalls nicht für jemand anderen als den, der gerade guckt und die jeweilige Frau mit seinem Blick auszieht – als dann auch noch den Löwenanteil der Care-Arbeit zu verrichten. Angefangen damit, dem Typen zu erklären, was Feminismus eigentlich in der Praxis bedeutet…
Ja, diese Bewegungen – Tanzen, Schwimmen, Vögeln –, die einen den Geist ausknipsen lassen, wirklich zu genießen, das war und ist in der Tat oftmals Sache der Männer. Da landen wir im weiteren Verlauf beim Flanieren, zwar weniger sportlich, aber doch eng an die Bewegung gekoppelt, das Dandys wie Oscar Wilde berühmt machte. Bis heute ist es ebenfalls in erster Linie weißen, heterosexuellen Männern vorbehalten, wovon nicht zuletzt die Flâneusen in FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte kundtun: „Mich treibt die Neugier, die Lust am Wandeln, das Alleinsein mit der Stadt … Das passt nicht allen. Ich gerate ins Blickfeld. Ich störe. Ich habe Lust am Stören, und das kann ich schon durch meine reine Anwesenheit. Es war nicht vorgesehen, dass ich hier bin“.
Männer also, die … ja, was eigentlich? Gehen und denken. Sich den Raum nehmen, den Gedanken nachzuhängen. Und das funktioniert bei vielen besonders gut, wenn sie sich bewegen.
[1] Maggie Nelson, BLUETS, Hanser Verlag, 2018.
[2] Hannah Ross, REVOLUTIONS – WIE FRAUEN AUF DEM FAHRRAD DIE WELT VERÄNDERTEN, Marisch Verlag, 2022.
[3] Ebd.
FREISCHWIMMEN – DER ORT AN DEM ICH BIN. Ein mäandernder Text über Schreiben und Schwimmen (3)>
Literatur und Bewegung gehen ein spannendes Gespann ein. Der Bewegung im Kopf setzen viele Autorinnen und Autoren eine körperliche Bewegung entgegen oder ergänzen die eine mit der anderen. Von den offensichtlichen gesundheitlichen Gründen abgesehen, ist das eine oftmals die Verlängerung des anderen.
Die Autorin Sara Goméz ist leidenschaftliche Schwimmerin ohne jede Ambition an sportliches Achievement. In dieser 9-teiligen Blogreihe lässt sie sich treiben wie in einem See und kommt dennoch immer wieder zurück in ihre Bahnen. Sie schreibt darüber, wie Schreiben und Schwimmen, wie Bewegung und Denken für sie zusammenhängen. Wir präsentieren hier die erste Folge.
*
THEN, ONE DAY, IT BECAME MORE SERIOUS. THEN … IT BECAME SOMEHOW PERSONAL
Es braucht einen Hang zur Obsession, um sich wie Diane Nyad in den Kopf zu setzen, die Strecke Kuba-Miami, die noch nie jemand frei, ohne Hai-Käfig geschwommen war, zu bezwingen oder wie Maggie Nelson ein ganzes Buch über ihre Besessenheit zur Farbe Blau zu füllen: „Dann eines Tages wurde es ernster Dann … wurde es irgendwie persönlich … Und so verliebte ich mich … in die Farbe Blau“[1].
Ich bewundere diese Frauen um ihre jeweilige Obsession, die das Spielfeld des handelsüblichen Ehrgeizes längst verlassen hat. Ehrgeiz ist kleinlich, geht meist Hand in Hand mit Perfektionismus – nichts, was mich interessiert oder inspiriert. Aber Obsession ist ein Verfallensein an ... an eine Idee, einen Menschen, eine Kunst, eine Bewegung. Und wenn man dann auch noch darüber schreiben kann – beneidenswert! Ich selbst empfinde meine Obsessionen noch zu kleinlich, aber vielleicht liegt es mehr an der fehlenden Form, eine, in die ich sie noch gießen müsste. Ein wunderbarer Gedanke, um damit schwimmen zu gehen! Ein Drehen und Wenden im Kopf, nur hin und wieder abgelöst vom Zählen der Bahnen, drei, vierzehn, zweiunddreißig. Und was habe ich gemacht, gedacht und gefühlt als ich in dem Alter war? Dieses Spiel spiele ich jedes Mal, wenn ich schwimmen gehe: Was war mit 8, 13, mit 27?
Meine Eltern, die mir zwar ihre Liebe zur Bewegung, aber auch ihren fehlenden Ehrgeiz bezüglich sportlicher Leistungen vererbt haben, hatten mich nie zu irgendeinem Abzeichen gedrängt. So hat die 9-jährige Tochter einer Freundin mir mittlerweile mindestens drei Abzeichen voraus. Geduldig erklärt sie mir, was ich tun muss, um ein Seepferdchen und später Bronze, Silber, Gold zu bekommen. Gold! Ich! Nichts, was ich mit mir verbinde – aber im Gegensatz zum Fahrradfahren, wo mir auch alle möglichen Abzeichen fehlen, träume ich beim Schwimmen sogar wirklich manchmal, irgendwann noch vorstellig zu werden. Und zwar als Rache an der Genese meiner Ängste just in jener Kleinstadt, in der ich Angst vor dem Tauchen bekam, nachdem ich an einem kreischenden Sommertag unfreiwillig untergetaucht wurde im örtlichen Freibad. Einer der vielen Balzvorgänge, mit denen sich Mädchen und Jungen in zart-harter (Vor-)Pubertät annäherten und dies hinter ähnlich schematischen Vorgängen verbargen wie der Tatsache, dass für alles nur zwei Geschlechter vorgesehen waren.
Man wird mit Geschlechtsteilen geboren, aber zu was für einem (Gesamt-)Geschlecht mensch sich zugehörig fühlt, das ist eben wie der gesamte psychische Apparat Teil eines Spektrums, auf dem sich jede Person im Laufe ihres Lebens (bestenfalls selbst) verortet und/oder (oft unfreiwillig) von ihrem Vorfeld verortet wird. In diesem Sinne ist, Simone de Beauvoirs Ausspruch on ne naît pas femme, on le devient weitsichtig dekonstruierend, weit über das hinaus, was die Schriftstellerin und Philosophin eigentlich beabsichtigt hatte. Von Beauvoir wissen wir übrigens, dass sie mindestens während jener Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs passionierte Radfahrerin war: „Ich wollte die Kilometer auf meinem Rad nur so fressen. Es ist eine neue Lebensfreude, die ich entdeckt habe“[2], zitiert Hannah Ross sie in ihrem Buch Revolutions – Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten. Ross schließt ihr Kapitel über die französische Ikone mit einem Sinnieren: „Jene Bewegung ihrer Beine mag Ideen zu Feminismus und Existenzialismus ins Rollen gebracht haben, die Simone de Beauvoir zu einer der größten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts machten“[3].
Dass Beauvoir letztlich nicht viel vom Körper hielt, liegt auch daran, dass der Körper von Frauen und nicht-binären Personen oft genug einem Gefängnis gleicht: Gefangen aufgrund des gesellschaftlichen Umgangs mit den Dingen des Körpers wie Körperhaaren, Pubertät, Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, Unfruchtbarkeit, Abgängen, Menopause einerseits und dem Anspruch an die „göttliche Hure“, sowohl Mama als auch bad bitch zu sein, also sexuell verfügbar auszusehen, es aber (meistens) nicht zu sein – jedenfalls nicht für jemand anderen als den, der gerade guckt und die jeweilige Frau mit seinem Blick auszieht – als dann auch noch den Löwenanteil der Care-Arbeit zu verrichten. Angefangen damit, dem Typen zu erklären, was Feminismus eigentlich in der Praxis bedeutet…
Ja, diese Bewegungen – Tanzen, Schwimmen, Vögeln –, die einen den Geist ausknipsen lassen, wirklich zu genießen, das war und ist in der Tat oftmals Sache der Männer. Da landen wir im weiteren Verlauf beim Flanieren, zwar weniger sportlich, aber doch eng an die Bewegung gekoppelt, das Dandys wie Oscar Wilde berühmt machte. Bis heute ist es ebenfalls in erster Linie weißen, heterosexuellen Männern vorbehalten, wovon nicht zuletzt die Flâneusen in FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte kundtun: „Mich treibt die Neugier, die Lust am Wandeln, das Alleinsein mit der Stadt … Das passt nicht allen. Ich gerate ins Blickfeld. Ich störe. Ich habe Lust am Stören, und das kann ich schon durch meine reine Anwesenheit. Es war nicht vorgesehen, dass ich hier bin“.
Männer also, die … ja, was eigentlich? Gehen und denken. Sich den Raum nehmen, den Gedanken nachzuhängen. Und das funktioniert bei vielen besonders gut, wenn sie sich bewegen.
[1] Maggie Nelson, BLUETS, Hanser Verlag, 2018.
[2] Hannah Ross, REVOLUTIONS – WIE FRAUEN AUF DEM FAHRRAD DIE WELT VERÄNDERTEN, Marisch Verlag, 2022.
[3] Ebd.