Über Träume und Trümmer: Ein Brief an meine Familie im Libanon
Der Münchener Schriftsteller Pierre Jarawan hat Familie und Freunde im Libanon. In diesem eindringlichen (fiktiven) Brief, der kurz vor Beschluss der Waffenruhe am 27.11.2024 entstand, denkt er nach über die schwierige Lage in dem von zunehmender Gewalt gepeinigten Land.
*
Ihr Lieben,
ich bin erleichtert, euer Foto zu erhalten, und so froh zu wissen, dass ihr in Sicherheit seid. Dass es euch trotz allem gutgeht – kurz bin ich versucht, das zu schreiben. Der Krieg verleiht selbst den hohlsten Phrasen Bedeutung. Ich hoffe, es geht euch gut, wie in: Ich hoffe, ihr seid am Leben.
Das Foto: der vertraute Blick über Beirut von den Hängen aus. Hier sind wir oft gemeinsam gewandert. Die abgeernteten Feigenbäume im Vordergrund. Dahinter die Stadt, eingezwängt zwischen Hügeln und Meer. Ich würde es für ein Herbsttagfoto halten, wären da nicht die Rauchsäulen über den Vororten im Süden.
Vor fast einem Jahr, am 8. Oktober 2023, als mehrere hundert Hisbollah-Raketen Richtung Israel flogen, habe ich mir ein anderes Foto angesehen, das ihr mir 2019 geschickt habt, im Herbst: Wie ihr lachend im Stadtzentrum steht als Teil einer Menge aus Menschen und Fahnen. Ich erinnere mich gut, wie aufgebracht ich war, vor Rührung, vor Freude. Thawra! schriebt ihr, Revolution! Ich weiß noch, wie ich mich auf Instagram auf die Suche nach weiteren Bildern machte: Da war eine Flut aus Menschen, die in Richtung der Beiruter Innenstadt strömten, Kinder und Jugendliche, die Spruchbänder in die Höhe hielten, auf denen sie nach der Zukunft fragten. Es wurde gesungen, getanzt, in Liedern schmähtet ihr die politische Führung. Wie gern wäre ich da an eurer Seite gewesen, auch in den Wochen, die folgten, in all den Momenten, von denen zu erzählen ihr nicht aufhören wolltet. Als sei das Sprechen darüber der einzige Weg zu verstehen, was da vorging: Es gab die Menschenkette vor dem Monroe-Hotel, einhundertfünfzig Kilometer lang, die von Akkar bis nach Sidon reichte. Ihr standet am Straßenrand inmitten all dieser Fremden, die einander an den Händen hielten, und schicktet mir einen Satz zu dem Bild: Es fühlt sich fast an wie Versöhnung. Es gab die Nacht, in der ich das Video erhielt, in dem ihr mit vom Tränengas geschwollenen Augen in die Kamera grinstet, die Daumen siegesgewiss in die Höhe gereckt. Im Hintergrund die vertraute Parole aus tausenden Kehlen: „Das Volk will den Sturz des Regimes.“
Dann, wiederum wenige Monate später: der 4. August 2020, an dem mich sehr lange kein Foto von euch erreichte. Als die dreitausend Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut explodiert waren, starrte ich pausenlos auf mein Handy, schrieb Dutzende Nachrichten – alles okay? Erst am nächsten Tag, als auch ihr hattet realisieren können, was da geschehen war, kam das Bild der geborstenen Fensterscheiben, der umgekippten Möbel, des beschädigten Kühlschranks. Es ist alles okay.
Diese so unterschiedlichen Bilder fallen in Wahrheit in eins. Komprimierte libanesische Geschichte. Hoffnung, Enttäuschung, Katastrophe. Der immergleiche Kreislauf seit Jahrzehnten. Alle eure Träume, so einfach sie auch sein mochten, wurden früher oder später von den Staubwolken der Trümmer unsichtbar gemacht.
Manchmal werde ich gebeten, in Gastbeiträgen eure Lage zu schildern. Immer häufiger verspüre ich ein Zögern. Dann sage ich beklommen zu. Ich habe in diesen Momenten das Gefühl, euch mehr zu schulden, als meine Sprache zeigen kann, weil nichts von dem, was ich auszudrücken vermag, an eure Erfahrungen ranreicht.
Ich schreibe: Etwa 1,2 Millionen Menschen sind seit Beginn der Gewalteskalation vertrieben worden – in einem Land, das etwa 6 Millionen Einwohner zählt. Ich schreibe: In den vergangenen dreizehn Monaten sind nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums bei israelischen Angriffen mehr als 3000 Menschen getötet worden, darunter fast 600 Frauen und mehr als 180 Kinder [Anm. d. Red.: Angaben lt. dpa-Nachricht v. 02.11.24; das Gesundheitsministerium unterscheidet in seiner Aufzählung nicht zwischen Zivilisten und Mitgliedern der Hisbollah]. Ich schreibe: Die überwältigende Mehrheit der Libanesen fühlt sich im Kreuzfeuer gefangen. Sie lehnen die kriegerischen Akte der Hisbollah ab. Die meisten Menschen haben nicht vergessen, dass die Hisbollah die libanesische Politik seit Jahrzehnten lähmt und erstickt, dass sie über Jahre hinweg politische Attentate verübt und 2023 die Ermittlungen zur Explosion im Hafen von Beirut durch Absetzung des Untersuchungsrichters verhindert hat. Gleichzeitig jedoch steigt mit jedem zivilen Opfer, mit jedem zerstörten Wohnhaus die Wut auf Israel. So öffnen sich immer mehr Menschen der fatalen Idee des Widerstands. Ich lese laut, was ich geschrieben habe, aber es klingt, als sei es ohne Bedeutung, so etwas wie: Das Wetter schwenkt um. Dabei ist nichts davon alltäglich. Nichts davon ist normal. Ich denke an ein Gedicht von Paul Zweig: Wir wiederholen uns, bis die Worte / Dünn werden wie Insektenhüllen, / Und vergessen die entblößten Gesichter, die Suppe aus Gliedmaßen, / Die zurückbleiben, wenn Bomben fallen.
Im Versuch, den Menschen hierzulande ein Mitgefühl zu entlocken, das ihnen abhandengekommen ist, sage ich manchmal Dinge wie: Die Tempel von Baalbek, der Stadt, die jetzt bombardiert wird, sind UNESCO-Weltkulturerbe und bis zu dreitausend Jahre alt. Ich sage nicht: die Stadt, in deren Nähe meine Großmutter lebt, weil ich nicht weiß, ob das ausreicht. Das ist hier die neue Logik der Sprache: Menschen sind Schutzschilder, die in Hochburgen leben.
Was ich ebenfalls manchmal sage: Der Libanon ist ein multikonfessionelles Land. Er vereint 18 unterschiedliche Religionsgemeinschaften in sich, und zwölf davon sind christlich. Und ich weiß, wie schändlich das ist. Als habe christliches Leben einen höheren Wert. Als bekämen Wörter wie Zivilisten, tote Kinder, Wohnviertel oder Großmutter dadurch eine andere Färbung, als würden sie so erst vorstellbar. Oder als würde Netanjahus Rhetorik erst dadurch entlarvt, wenn er behauptet, die Raketen lägen in euren Wohnzimmern, Garagen und Kellern. Da war noch so ein Foto, das ihr mir kürzlich geschickt habt: haufenweise Oliven und Ziegenkäse in Einmachgläsern auf Regalen gestapelt: Wir finden die Raketen nicht …. Ich konnte darüber nicht lachen.
Vor einem Jahr habe ich mich an eure alten Bilder aus dem Jahr 2019 geklammert, und jetzt erkenne ich den Grund: Sie entstammen einer Zeit, als eure Stadt noch intakt und eure Hoffnungen noch überschäumend waren, und weil es, als Schwärme von Hisbollah-Raketen nach Israel flogen, nicht schwer war, vorauszusehen oder zu spüren, was euch erwarten würde. Schon 2019, als ihr im Stadtzentrum ein Zeltlager aufschlugt, weil ihr entschlossen wart, die Regierenden zum Teufel zu jagen, waren es Hisbollah-Anhänger, die diese Zelte zerstörten. Sie brauchten einen schwachen Staat. Sie brauchten eure Angst vor der Idee, die Wut, die ihr auf die Straßen trugt, könnte ein Vorläufer von Gewalt sein, vielleicht eines neuen Bürgerkriegs. Nur diese Faktoren erlaubten es ihnen, euch vorzugaukeln, die Hisbollah allein wäre in der Lage, euch gegen eine äußere Bedrohung zu beschützen. Egal wie hoch der Preis.
Es ist zwei Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen, einander in die Arme geschlossen haben. Ich erinnere mich, wie verändert mir Beirut 2022 erschien, zwei Jahre nach der Explosion im Hafen. Straßen, die einst belebt von Nachtschwärmern gewesen waren, wurden nun von hungernden Menschen bevölkert. Der Preis für Babymilch hatte sich binnen Jahresfrist verdreifacht, der für Windeln verdoppelt. Die Inflation lag bei mehr als einhundertfünfzig Prozent, sodass ich für ein einfaches Sandwich umgerechnet fast dreißig US-Dollar bezahlte. In Facebook-Foren boten Menschen ihre Fernseher zum Tausch gegen Medizin. Wir brauchen eine Insulinpumpe für unser Kind. Kommt jemand bald aus dem Ausland und kann etwas mitbringen? Ich lief die Küstenstraße entlang, vorbei an den Skeletten ehemals gläserner Wohntürme, die unrepariert geblieben waren, bis ich am Hafen stand. Auch dort sah es aus, als habe sich die Explosion erst gestern ereignet. Die eingestürzten Getreidesilos, zertrümmerte Lagerhäuser, soweit das Auge sah. Und davor ein gigantischer Riese aus verbogenem Stahl, der eine Blume in der Hand hielt. Ich machte ein Foto. Später las ich von dem Künstler des Mahnmals, Nadim Karam, der sagte, diese Figur stehe für jeden einzelnen von uns. Sie sei eine Erinnerung daran, dass wir die lebendige Energie Beiruts sind. In den Wohnvierteln hinter der Küstenstraße waren kaum noch Trümmer zu sehen. Die Häuser frisch gestrichen, aus den Cafés drang Musik. Nach unserer Verabschiedung am Flughafen, war es dieses Bild, an das ich mich klammerte. Wann immer etwas zerstört wurde, habt ihr es wieder neu zusammengesetzt.
Hoffnung, Enttäuschung, Katastrophe.
Briefe wie dieser enden in der Regel mit einem Blick in die Zukunft, einer möglichst positiven Aussicht. Aber so, wie Krise und Krieg euren Tag strukturieren – gibt es Warnungen, bestimmte Viertel zu meiden? Schwirren Drohnen über der Stadt? Wie ist der Stand der Währung? Wie teuer Benzin? Wie lang die Schlange vor der Bäckerei? –, strukturiert meine Sorge um euch meine Stunden, und die Zukunft wird auf die Frage reduziert: Wann kommt das nächste Foto?
Von Pierre Jarawan erscheint im April 2025 im Berlin Verlag der Roman Die Frau im Mond.
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Der Münchener Schriftsteller Pierre Jarawan hat Familie und Freunde im Libanon. In diesem eindringlichen (fiktiven) Brief, der kurz vor Beschluss der Waffenruhe am 27.11.2024 entstand, denkt er nach über die schwierige Lage in dem von zunehmender Gewalt gepeinigten Land.
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Ihr Lieben,
ich bin erleichtert, euer Foto zu erhalten, und so froh zu wissen, dass ihr in Sicherheit seid. Dass es euch trotz allem gutgeht – kurz bin ich versucht, das zu schreiben. Der Krieg verleiht selbst den hohlsten Phrasen Bedeutung. Ich hoffe, es geht euch gut, wie in: Ich hoffe, ihr seid am Leben.
Das Foto: der vertraute Blick über Beirut von den Hängen aus. Hier sind wir oft gemeinsam gewandert. Die abgeernteten Feigenbäume im Vordergrund. Dahinter die Stadt, eingezwängt zwischen Hügeln und Meer. Ich würde es für ein Herbsttagfoto halten, wären da nicht die Rauchsäulen über den Vororten im Süden.
Vor fast einem Jahr, am 8. Oktober 2023, als mehrere hundert Hisbollah-Raketen Richtung Israel flogen, habe ich mir ein anderes Foto angesehen, das ihr mir 2019 geschickt habt, im Herbst: Wie ihr lachend im Stadtzentrum steht als Teil einer Menge aus Menschen und Fahnen. Ich erinnere mich gut, wie aufgebracht ich war, vor Rührung, vor Freude. Thawra! schriebt ihr, Revolution! Ich weiß noch, wie ich mich auf Instagram auf die Suche nach weiteren Bildern machte: Da war eine Flut aus Menschen, die in Richtung der Beiruter Innenstadt strömten, Kinder und Jugendliche, die Spruchbänder in die Höhe hielten, auf denen sie nach der Zukunft fragten. Es wurde gesungen, getanzt, in Liedern schmähtet ihr die politische Führung. Wie gern wäre ich da an eurer Seite gewesen, auch in den Wochen, die folgten, in all den Momenten, von denen zu erzählen ihr nicht aufhören wolltet. Als sei das Sprechen darüber der einzige Weg zu verstehen, was da vorging: Es gab die Menschenkette vor dem Monroe-Hotel, einhundertfünfzig Kilometer lang, die von Akkar bis nach Sidon reichte. Ihr standet am Straßenrand inmitten all dieser Fremden, die einander an den Händen hielten, und schicktet mir einen Satz zu dem Bild: Es fühlt sich fast an wie Versöhnung. Es gab die Nacht, in der ich das Video erhielt, in dem ihr mit vom Tränengas geschwollenen Augen in die Kamera grinstet, die Daumen siegesgewiss in die Höhe gereckt. Im Hintergrund die vertraute Parole aus tausenden Kehlen: „Das Volk will den Sturz des Regimes.“
Dann, wiederum wenige Monate später: der 4. August 2020, an dem mich sehr lange kein Foto von euch erreichte. Als die dreitausend Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut explodiert waren, starrte ich pausenlos auf mein Handy, schrieb Dutzende Nachrichten – alles okay? Erst am nächsten Tag, als auch ihr hattet realisieren können, was da geschehen war, kam das Bild der geborstenen Fensterscheiben, der umgekippten Möbel, des beschädigten Kühlschranks. Es ist alles okay.
Diese so unterschiedlichen Bilder fallen in Wahrheit in eins. Komprimierte libanesische Geschichte. Hoffnung, Enttäuschung, Katastrophe. Der immergleiche Kreislauf seit Jahrzehnten. Alle eure Träume, so einfach sie auch sein mochten, wurden früher oder später von den Staubwolken der Trümmer unsichtbar gemacht.
Manchmal werde ich gebeten, in Gastbeiträgen eure Lage zu schildern. Immer häufiger verspüre ich ein Zögern. Dann sage ich beklommen zu. Ich habe in diesen Momenten das Gefühl, euch mehr zu schulden, als meine Sprache zeigen kann, weil nichts von dem, was ich auszudrücken vermag, an eure Erfahrungen ranreicht.
Ich schreibe: Etwa 1,2 Millionen Menschen sind seit Beginn der Gewalteskalation vertrieben worden – in einem Land, das etwa 6 Millionen Einwohner zählt. Ich schreibe: In den vergangenen dreizehn Monaten sind nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums bei israelischen Angriffen mehr als 3000 Menschen getötet worden, darunter fast 600 Frauen und mehr als 180 Kinder [Anm. d. Red.: Angaben lt. dpa-Nachricht v. 02.11.24; das Gesundheitsministerium unterscheidet in seiner Aufzählung nicht zwischen Zivilisten und Mitgliedern der Hisbollah]. Ich schreibe: Die überwältigende Mehrheit der Libanesen fühlt sich im Kreuzfeuer gefangen. Sie lehnen die kriegerischen Akte der Hisbollah ab. Die meisten Menschen haben nicht vergessen, dass die Hisbollah die libanesische Politik seit Jahrzehnten lähmt und erstickt, dass sie über Jahre hinweg politische Attentate verübt und 2023 die Ermittlungen zur Explosion im Hafen von Beirut durch Absetzung des Untersuchungsrichters verhindert hat. Gleichzeitig jedoch steigt mit jedem zivilen Opfer, mit jedem zerstörten Wohnhaus die Wut auf Israel. So öffnen sich immer mehr Menschen der fatalen Idee des Widerstands. Ich lese laut, was ich geschrieben habe, aber es klingt, als sei es ohne Bedeutung, so etwas wie: Das Wetter schwenkt um. Dabei ist nichts davon alltäglich. Nichts davon ist normal. Ich denke an ein Gedicht von Paul Zweig: Wir wiederholen uns, bis die Worte / Dünn werden wie Insektenhüllen, / Und vergessen die entblößten Gesichter, die Suppe aus Gliedmaßen, / Die zurückbleiben, wenn Bomben fallen.
Im Versuch, den Menschen hierzulande ein Mitgefühl zu entlocken, das ihnen abhandengekommen ist, sage ich manchmal Dinge wie: Die Tempel von Baalbek, der Stadt, die jetzt bombardiert wird, sind UNESCO-Weltkulturerbe und bis zu dreitausend Jahre alt. Ich sage nicht: die Stadt, in deren Nähe meine Großmutter lebt, weil ich nicht weiß, ob das ausreicht. Das ist hier die neue Logik der Sprache: Menschen sind Schutzschilder, die in Hochburgen leben.
Was ich ebenfalls manchmal sage: Der Libanon ist ein multikonfessionelles Land. Er vereint 18 unterschiedliche Religionsgemeinschaften in sich, und zwölf davon sind christlich. Und ich weiß, wie schändlich das ist. Als habe christliches Leben einen höheren Wert. Als bekämen Wörter wie Zivilisten, tote Kinder, Wohnviertel oder Großmutter dadurch eine andere Färbung, als würden sie so erst vorstellbar. Oder als würde Netanjahus Rhetorik erst dadurch entlarvt, wenn er behauptet, die Raketen lägen in euren Wohnzimmern, Garagen und Kellern. Da war noch so ein Foto, das ihr mir kürzlich geschickt habt: haufenweise Oliven und Ziegenkäse in Einmachgläsern auf Regalen gestapelt: Wir finden die Raketen nicht …. Ich konnte darüber nicht lachen.
Vor einem Jahr habe ich mich an eure alten Bilder aus dem Jahr 2019 geklammert, und jetzt erkenne ich den Grund: Sie entstammen einer Zeit, als eure Stadt noch intakt und eure Hoffnungen noch überschäumend waren, und weil es, als Schwärme von Hisbollah-Raketen nach Israel flogen, nicht schwer war, vorauszusehen oder zu spüren, was euch erwarten würde. Schon 2019, als ihr im Stadtzentrum ein Zeltlager aufschlugt, weil ihr entschlossen wart, die Regierenden zum Teufel zu jagen, waren es Hisbollah-Anhänger, die diese Zelte zerstörten. Sie brauchten einen schwachen Staat. Sie brauchten eure Angst vor der Idee, die Wut, die ihr auf die Straßen trugt, könnte ein Vorläufer von Gewalt sein, vielleicht eines neuen Bürgerkriegs. Nur diese Faktoren erlaubten es ihnen, euch vorzugaukeln, die Hisbollah allein wäre in der Lage, euch gegen eine äußere Bedrohung zu beschützen. Egal wie hoch der Preis.
Es ist zwei Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen, einander in die Arme geschlossen haben. Ich erinnere mich, wie verändert mir Beirut 2022 erschien, zwei Jahre nach der Explosion im Hafen. Straßen, die einst belebt von Nachtschwärmern gewesen waren, wurden nun von hungernden Menschen bevölkert. Der Preis für Babymilch hatte sich binnen Jahresfrist verdreifacht, der für Windeln verdoppelt. Die Inflation lag bei mehr als einhundertfünfzig Prozent, sodass ich für ein einfaches Sandwich umgerechnet fast dreißig US-Dollar bezahlte. In Facebook-Foren boten Menschen ihre Fernseher zum Tausch gegen Medizin. Wir brauchen eine Insulinpumpe für unser Kind. Kommt jemand bald aus dem Ausland und kann etwas mitbringen? Ich lief die Küstenstraße entlang, vorbei an den Skeletten ehemals gläserner Wohntürme, die unrepariert geblieben waren, bis ich am Hafen stand. Auch dort sah es aus, als habe sich die Explosion erst gestern ereignet. Die eingestürzten Getreidesilos, zertrümmerte Lagerhäuser, soweit das Auge sah. Und davor ein gigantischer Riese aus verbogenem Stahl, der eine Blume in der Hand hielt. Ich machte ein Foto. Später las ich von dem Künstler des Mahnmals, Nadim Karam, der sagte, diese Figur stehe für jeden einzelnen von uns. Sie sei eine Erinnerung daran, dass wir die lebendige Energie Beiruts sind. In den Wohnvierteln hinter der Küstenstraße waren kaum noch Trümmer zu sehen. Die Häuser frisch gestrichen, aus den Cafés drang Musik. Nach unserer Verabschiedung am Flughafen, war es dieses Bild, an das ich mich klammerte. Wann immer etwas zerstört wurde, habt ihr es wieder neu zusammengesetzt.
Hoffnung, Enttäuschung, Katastrophe.
Briefe wie dieser enden in der Regel mit einem Blick in die Zukunft, einer möglichst positiven Aussicht. Aber so, wie Krise und Krieg euren Tag strukturieren – gibt es Warnungen, bestimmte Viertel zu meiden? Schwirren Drohnen über der Stadt? Wie ist der Stand der Währung? Wie teuer Benzin? Wie lang die Schlange vor der Bäckerei? –, strukturiert meine Sorge um euch meine Stunden, und die Zukunft wird auf die Frage reduziert: Wann kommt das nächste Foto?
Von Pierre Jarawan erscheint im April 2025 im Berlin Verlag der Roman Die Frau im Mond.