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06.12.2024, 09:38 Uhr
Juri Zaplin
Text & Debatte

Stadt der Sperrholzfenster

Juri Zaplin ist 1972 in Charkiw geboren, wo er bis heute lebt. Der Lyriker und Prosaschriftsteller studierte zunächst an der Fakultät für Hochfrequenztechnik des Luftfahrtinstituts in Charkiw. Er ist Mitbegründer und -herausgeber der Literaturzeitschrift Sojus Pisatelej (2000–2018, zu dt.: „Der Schriftstellerbund“) sowie Autor der Kurzprosa-Sammlung Malenki stschastliwy wetscher (1997, zu dt.: „Kleiner fröhlicher Abend“). Weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften in der Ukraine, Russland, USA und Deutschland. 2017 nahm er an „Eine Brücke aus Papier“ in Charkiw teil. Einige seiner Werke liegen in englischer, deutscher sowie italienischer Übersetzung vor.

*

 

Rückkehr 

Mit seiner zweiten Frau
(einer OP-Schwester) 
und einer erwachsenen Tochter 
(vielleicht Studentin) 
kehrte Igor zurück
in die Wohnung, wo er als Kind 

Im Erdgeschoss gewohnt hatte
Von der er zur Schule ging 

Seine Mutter ist längst gestorben
auf der Treppe zur Metro 
Seinen Vater hat es in drei Monaten dahingerafft
Sein halbes Leben war er in einer anderen Stadt

Und jetzt ist es wieder
derselbe Hof 
dieselbe kurzsichtige Bank 
dieselben Wege 
und dieselben Leute gehen 
zum Brunnen oder zum Markt 
Manchmal fallen sie unter die Erde 
Und manchmal aus tiefhängenden Wolken

 

* * *

Der backsteinfarbene Backstein der Häuser 
und das Himmelblaue des Himmels 
Balkone und Wolken weiß
(Gut, Balkone sind alle verschieden 
und Wolken sind‘s sowieso) 
Das ist es genau, was mich stets berührt 
Solange die trockene Pfote des Todes mich nicht berührt hat
Solange er andere berührt 
(Russischer Tod 
Genau jetzt)

 

* * *

Wenn man von einem Viertel ins andere geht, 
sieht man, alles ist gleich und alles verschieden. 
Hier wie dort wird ein Mops ausgeführt
das Frauchen im gefleckten Kleid, das Herrchen im karierten Hemd. 
Hier und da schreit ein Kind 
etwas gut Artikuliertes, Unwichtiges, sofort Vergessenes. 
Nur die Note bleibt im Gedächtnis: ein langes A in einem Fall, 
ein nasales C in dem anderen. 
Und überall, überall ein Kiosk mit Gemüse, ein Kiosk mit Milchprodukten, ein Kiosk mit Backwaren, 
eine Tiefkühltruhe mit Eis und Teigtaschen, ein Brotkiosk, ein Fleischkiosk, ein Krimskramskiosk. 
Und nun sind wir wieder am Anfang: 
Bei der Beschreibung der Welt, die vor uns liegt
und die nach uns bleibt. Ob sie dieselbe ist oder sich verändert hat —   
eine Frage der Perspektive. Hinsehen lohnt sich, es lohnt sich nicht,
zu bewerten, was wichtig ist und was nicht. 
Hinhören, wahrnehmen. Notieren. 
Erinnern, bevor man weggeht, 
als ginge man von einem Viertel ins andere.

 

Über den Mauersegler

Die meiste Zeit 
dieses kleinen Lebens 
glaubte ich, dass alles gut wird. 
Dass nichts jemals schiefgeht. 
Und dieser Glaube 
hat mich an einen Abgrund geführt. 

Am Rande des Abgrunds stand eine Mülltonne 
ihr Name war Johann Sebastian 
und sie tönte im Wind 
durchlöchert von Bombensplittern. 

Der Abgrund war voller Höhlen von Mauerseglern. 
Die Mauersegler schwirrten oben, unten und überall. 
Johann Sebastians Stimme war leise. 
Ich sang mit, ohne die Lippen zu öffnen. 

Die Mauersegler flogen wie irre, sie fühlten sich voll im Recht. 
Johann Sebastian schwankte leicht, 
als würde er das Universum dirigieren. 
Ich dachte an mein Zuhause und den Tischkalender, der fast abgelaufen war. 

Alles wird gut, sagte Johann. 
Uns wird nichts passieren, sagte Sebastian, er 
taumelte zurück und heulte furchtbar auf. 
Der Wind stieß mir in den Rücken. 
Ich öffnete meine Flügel und seitdem berührte ich nie wieder über die Erde.

 

Berge und Meer (Minimal Music)

Was wäre, wenn man in unserer Stadt die Berge sehen könnte?
Was wäre, wenn man in unserer Stadt das Meer sehen könnte?
Was wäre, wenn man in unserer Stadt das Glück sehen könnte?
Ach nein, das ist schon so gewesen – und alle sagten: „Was ist schon dabei, 
jeder ist mal glücklich – aber es ist natürlich nett.“ 
Und so wäre es wahrscheinlich auch mit den Bergen und dem Meer. 
Ich wünschte, es wäre anders,
wenn man in unserer Stadt die Berge sehen könnte, 
wenn man in unserer Stadt das Meer sehen könnte,
wenn man die Freude in unserer Stadt sehen könnte,
obwohl das ja früher so war – und alle sagten: „Was ist schon dabei, 
alle freuen sich manchmal, aber es ist natürlich nett“ –  
und es wäre wahrscheinlich dasselbe mit den Bergen und dem Meer, 
und ich wünschte, es wäre anders.

 

Am Kanal

Die Fischer sitzen auf dem Eis, jeder um sein Loch.
Und zwischen ihnen 
gleiten anmutige Grazien, die Lenden breit.
Ein Großer
zieht seinen Großen auf dem Schlitten:
Das Kind von gestern zieht das Kind von morgen.
Woher auf einmal so viel Fruchtbarkeit
mitten im schrecklichen Winter?
Wurde sie von den Fischen geboren,
geboren?
auf der Suche nach Erholung von uns,
aber vergeblich. 
Und warum sind die Kohlmeisen so rund? 
Und dann kamen die Eishockeyspieler
in Geländewagen und Limousinen
sie kratzten
ein rechteckiges Fenster ins Dunkel, 
und sie rutschen darüber –  
und sie sind es,
die scheinen irgendwie die Kleinsten zu sein. 

 

Die Sonne scheint vor dem Sportclub „Tempo“

Die schnelle Stimme der alten Frau ist besser als eine langsame. 
Vielleicht bleiben ihr Fitness und Schwung für immer erhalten
sogar in der ... Hölle? im Himmel? jedenfalls in meiner Erinnerung,
eines bärtigen Kerls 
von zig Jahren. Was kümmert ihn bloß die Alte? 
Am Hauseingang, wo es ‘22 einen Mann erwischte. 
Weiß nicht mehr, was ihn da traf: Ich kann sie nicht auseinanderhalten, die Mittel 
zu unserer Vernichtung. Und der Alten geht’s gut,
ein guter Tag, sie war vielleicht in Europa, kehrt gerade zurück, 
vielleicht kehren wir auch zurück in uns
und zu uns, wie wir waren? 

(Nein, nichts wird je wiederkommen, außer natürlich der Sommer.) 

 

Traum

Gestern sprachen wir viel übers Leben
und über ein Buch über den Krieg,
das uns vieles erklärt hätte. 

Heute gingen wir in die Bücherei. 

Ein Flügel der Bücherei rauchte noch, 
der andere war noch intakt.

Die hinkende Bibliothekarin brachte uns einen Zettel. 

Darauf stand,
wir seien schon von diesem Buch ausgeliehen
und lebten dort.

 

Aus dem ABC für Einzelkinder

Geschichte schreibt eine Bestie. 
Geschichte schreibt ein Mörder. 
Geschichte schreibt der Tod. 
Geschichte schreibt, wer seinen Willen durchsetzt. 
Und nur Quatsch wird von irgendwem geschrieben: 
Absurde Sketche, bekiffter Rap, Witze mit verpatzter Pointe, 
Einstrophenlieder, Tagebücher, ereignis- und sinnlos, Benimmregeln für Ungeborene, 
Porträts von Dämonen, Landschaften fiktiver Planeten. 
Die Vielgötterei des Unsinns ist unser einziger Gott, 
der Glaube von Generationen von Waisen, gesegnet 
mit den Flügeln der Zwergfledermaus, der Libelle, 
ein Sprung der Spinnenhoffnung, ein Wettschwimmen der Wühlmaus, 
des Haubentauchers Tauchrekord.

 

Deutsch von Boris Borisovich