Besprechung von Thomas Meineckes Roman "Odenwald"
Einen „dekonstruktivistisch-feministischen Diskurszopf“ (so der Verlag) flicht Thomas Meinecke, Figur in dem Roman Odenwald des gleichnamigen Autors. Christina Madenach dröselt ihn in ihrer Besprechung ein Stück weit wieder auf.
*
Über den Roman Odenwald von Thomas Meinecke zu schreiben, fühlt sich für mich an, wie in dieses Werk einzugehen. Schreiben und Lesen und über das Lesen wiederum zu schreiben sowie die Positionen von schreibenden und lesenden Figuren sind in diesem Roman so eng miteinander verknüpft, dass jede Beschäftigung und jede Besprechung dieses Buchs wie eine Fortschreibung dessen wirkt.
Der Titel Odenwald verweist einerseits auf einen Schauplatz des Romans, vor allem aber dient er als Ausgangspunkt für Recherchen, Reflexionen und Erzählungen. Zentrale Themen sind die Auseinandersetzung mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, der die Sommer seiner Kindheit in Amorbach verbrachte, einem Städtchen im bayerischen Teil des Odenwalds; die Geschichte des Fürstenhauses Leiningen, das die Auswanderung der Bevölkerung aus seinen Territorien im Odenwald nach Texas beförderte; sowie die Beschäftigung mit dem aktuellen Gender- und Queerdiskurs.
Ineinander übergehende Tracks und gestickte Geschichten
Sowohl die Stoffe des Romans als auch das Gefühl des Weiterschreibens im Lesen sind eng mit seiner Form verknüpft. Die gut 400 Seiten erzählen keine fortlaufende Geschichte, sondern bestehen aus assoziativ verknüpften Fragmenten. An einer Stelle im Roman befinden sich zwei Figuren in einem Club und hören auf der Tanzfläche dabei zu, „wie ein Track nach dem anderen in den jeweils folgenden überging“. Musik ist in vielfältiger Hinsicht eines der großen Themen des Romans: die musiksoziologischen Schriften Adornos – seine Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik von Schönberg sowie seine Kritik am Jazz –, die Musik von John Cage – einem Schüler Schönbergs – sowie die Zusammenarbeit mit Julius Eastman und deren Zerwürfnis in Bezug auf den Umgang mit ihrer jeweiligen Homosexualität etc. Nicht zuletzt funktionieren aber die ineinander übergehenden Tracks als Bild für das assoziative Ineinandergreifen der einzelnen Passagen des Romans.
Das poetologische Konzept ist gleichzeitig auch inhaltlicher Ansatzpunkt. Wichtiges Vorbild ist das fragmentarisch gebliebene Passagen-Werk von Walter Benjamin, das 1982 von Rolf Tiedemann herausgegeben wurde. Der Roman zitiert aus dessen Einleitung, in der Tiedemann wiederum Adorno mit der Deutung zitiert, „Benjamin habe dafür ausschließlich Zitate montieren wollen“. Des Weiteren verweist der Roman auf die Montage-Technik von Thomas Mann in Bezug auf dessen so gut wie unveränderter Übernahme von „Adornos schriftliche[n] Erläuterungen sowie mündlich Mitgeteilte[m]“. Auch die Tragetaschentheorie der Fiktion von der feministischen Autorin Ursula K. Le Guin findet Eingang in das Buch von Meinecke: „I would go so far as to say that the natural, proper, fitting shape of the novel might be that of a sack, a bag. A book holds words. Words hold things. They bear meanings. A novel is a medicine bundle, holding things in a particular, powerful relation to one another and to us.” (Im Buch sind einige Zitate ausschließlich auf Englisch widergegeben, dieses würde ich wie folgt paraphrasieren: Die natürlichste und am besten passende Form des Romans wäre die einer Tasche. Ein Buch besteht aus Wörtern und diese aus Dingen, die mit Bedeutungen aufgeladen sind. Der Roman als Tasche stellt die Dinge in eine bestimmte Beziehung zueinander und zu uns.)
Neben den Verweisen auf andere Werke finden sich Erklärungen zur Poetologie des Romans auch in Form von Rezensionen zu früheren Romanen von Meinecke. Da heißt es unter anderem, dass Meineckes „einzige Macht darin besteht, die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren“ und dass er „nicht Meister über das Material sein, sondern die Dinge selbst zum Sprechen bringen [wolle].“ Außerdem taucht in dem Roman immer wieder das Alter Ego von Thomas Meinecke auf – bezeichnet als Thomas –, das weitere poetologische Hinweise gibt: „Thomas behauptete einmal, am liebsten einen ganzen Roman ausschließlich entlang präziser Schilderungen solcher kleinsten körperlichen Gesten und Regungen verfassen zu wollen, allein, es seien immer wieder tendenziell wuchernde Zusammenhänge … oder gleich die großen Fragen der Menschheit, die ihn, ausgesprochen lästig, dazu bewegten, stark ausufernden Bögen zu folgen …“
Ganz subtil fließt außerdem das Bild der Stickerei in den Roman ein, das ich als Metapher für eine Form des Erzählens lese. Um das Sticken geht es zunächst in der Geschichte von John Rykener, der als Eleanor Rykener als Stickerin – im 14. Jahrhundert ein als sehr weiblich konnotierter Beruf – und als Sexarbeiterin arbeitete. Der Roman beschäftigt sich anhand dieser Geschichte u. a. mit Prostitution und Transsexualität. Das Sticken im Kontext des Geschichtenerzählens greift Meinecke an anderer Stelle wieder auf, als er die feministische Theoretikerin Donna Harraway zitiert, die eine Einführung für die Wiederveröffentlichung des Texts zur Tragetaschentheorie von Le Guin geschrieben hat. Darin geht es um die Stickerei als Kulturtechnik für das Erzählen von Geschichten.
Echtzeit im Roman und bei der Lektüre
Bei den Fragmenten handelt es sich neben Zitaten aus anderen literarischen oder theoretischen Werken um Recherchematerial, das das Alter Ego Thomas bei seinen Reisen in den Odenwald und nach Texas vorfindet, sowie um fiktive Szenen mit fiktivem Personal, die teilweise wiederum selbst recherchieren und dabei ihre Lektüre kommentieren. Auch Gespräche und E-Mails, die sich direkt auf diesen Roman beziehen, werden Teil davon. In einem E-Mail-Austausch mit einem Bekannten von Thomas geht es um den Besuch eines Julius Eastman-Festivals im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses. In einer dieser E-Mails von Thomas an den Bekannten heißt es: „… ich würde diesen kleinen Austausch zum gestrigen Abend am liebsten quasi in Echtzeit in meinen entstehenden Roman stellen …“
Durch das Nebeneinander der einzelnen Fragmente können diese neue Bedeutungen erhalten: einerseits, indem vermeintlich nebensächliche Beobachtungen neben komplexe Reflektionen gestellt werden, andererseits durch das Ineinandergleiten von Situationen. An einer Stelle beispielsweise berichtet der Erzähler, dass sich Thomas bei seiner Recherchereise in einem Café in Amorbach der Lektüre eines Aufsatzes über die Säkularisation des Benediktinerklosters Amorbach widmet. Davon lenkt ihn aber immer wieder ein Gespräch ab, das die Personen am Tisch nebenan führen. Sie reden über Nick Hornbys Roman High Fidelity und die Frage, ob „der selber Pop war oder nur über Pop.“ Angelegt hierin ist, dass dieser Gedanke weitergesponnen werden kann: Während ich diese Stelle im Roman lese, befinde ich mich im Zug und werde immer wieder abgelenkt durch die Gesprächsfetzen der Unterhaltungen um mich, die nun auch wiederum in Wechselwirkung mit dem Gelesenen treten.
Ich fühle mich als Lesende von Meinecke mitgedacht, da er neben den intertextuellen Verweisen weitere interdiskursive liefert. Neben Zitaten und Hinweisen gibt es Hashtags und Links, und als Leserin greife ich zurück auf Wikipedia, Youtube und Google, um zu lesen, zu hören und zu sehen, was die Figuren des Romans lesen, hören und sehen. Auch das Spiel mit dem Paratext vermischt Fiktion und Wirklichkeit. Das Cover ist gestaltet von Michaela Melián, der Ehefrau von Thomas Meinecke; im Roman soll Thomas einer Michaela Grüße ausrichten und an einer anderen Stelle bedient sich eine Figur aus einer angebrochenen Tüte Russisch Brot; der Schriftzug Odenwald auf dem Cover ist wiederum aus Russisch Brot gebildet. Und das Autorenfoto von Thomas Meinecke innen auf der Klappe des Schutzumschlags zeigt ihn vor dem Café Pannonica in Heidelberg, das auch in dem Buch vorkommt, ebenso wie Thelonious Monk, der ein Musikstück der Baronin Pannonica widmete, nach der das Café benannt ist.
Von der ewigen Transformation und dem Weiterschreiben
Es erscheint mir wichtig, so detailliert auf die Form des Romans einzugehen, weil seine Inhalte auch durch diese Form verhandelt werden. Ausgehend von Amorbach als Adornos Sehnsuchtsort beschäftigt sich der Roman mit seinem Leben und Schaffen, u.a. der Kritischen Theorie, als deren Hauptvertreter Adorno neben Max Horkheimer zählt. Im Roman liest Thomas einen Beitrag des Philosophen Markus Quent in einer Adorno gewidmeten Ausgabe der ZEITSCHRIFT FÜR IDEENGESCHICHTE. Darin heißt es: „Die Bewegung des kritischen Denkens liegt nicht in der Infragestellung einer Position durch eine andere, sondern sie ist immer die Bewegung der Auflösung des Einen jeder Position. Das Wesen des kritischen Denkens liegt nicht im Urteil, sondern in der Unterbrechung des Urteils.“
Die Interpretation des kritischen Denkens als Positionen, die aufeinanderprallen und dann „brüchig, fragil, durchlässig“ werden, also sich gegenseitig ineinander auflösen, finde ich in dem Roman in der Auseinandersetzung mit dem Genderdiskurs gespiegelt. Neben John / Eleanor Rykener verweist der Text auf weitere transgeschlechtliche und nonbinäre Figuren und erzählt deren Geschichten und die der sich transformierenden Körper. Gleichzeitig ist auch der Textkörper ein sich ständig transformierender. Die unterschiedlichen Erzählstränge werden immer wieder neu aufgenommen, variiert, weitererzählt und mit neuen Aspekten kombiniert.
Die Verknüpfungen zwischen den Themen sind so komplex, dass es beinahe ebenfalls 400 Seiten bräuchte, um sie nachzuerzählen. Es ist faszinierend, wo Thomas Meinecke jeweils Berührungspunkte findet. Wie diese Assoziationsketten funktionieren, soll folgendes Beispiel versinnbildlichen: Der Roman erzählt die Geschichte der im Odenwald ansässigen Firma Koziol, die Produkte aus Kunststoff herstellt. Ausgehend davon beschäftigt er sich mit dem Material Plastik, das verschiedene Formen annehmen kann und damit auf den Transformationsdiskurs verweist; außerdem werden die von dem Unternehmen erfundenen Schneekugeln erwähnt, deren Motive meist Märchen entnommen sind; und es wird davon berichtet, dass die Firma vor dem Umstieg auf Kunststoff Elfenbein benutzte, was zwar etymologisch nichts mit der Elfe zu tun hat, aber an sie erinnert und genau wie die Referenz auf das Märchen die Assoziation der Fee hervorruft. Bei der Fee wiederum handelt es sich um ein durchgängiges Motiv des Romans, über das vor allem Aspekte der Mystik aber auch wiederum des Genderdiskurses behandelt werden.
Der Roman webt – um in dem Wortfeld der textilen Handarbeit zu bleiben – seinen Stoff immer weiter und über seine Buchdeckel hinaus. Ganz passend dazu zitiert er an einer Stelle die Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous: „Writing is not arriving; most of the time writing is not arriving.“ (Meine Paraphrase: Schreiben bedeutet nicht anzukommen, sondern im Gegenteil: die meiste Zeit, nirgendwo anzukommen.)
Thomas Meinecke: Odenwald. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 440 S., ISBN: 978-3-518-43191-7, 26,00 €
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Einen „dekonstruktivistisch-feministischen Diskurszopf“ (so der Verlag) flicht Thomas Meinecke, Figur in dem Roman Odenwald des gleichnamigen Autors. Christina Madenach dröselt ihn in ihrer Besprechung ein Stück weit wieder auf.
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Über den Roman Odenwald von Thomas Meinecke zu schreiben, fühlt sich für mich an, wie in dieses Werk einzugehen. Schreiben und Lesen und über das Lesen wiederum zu schreiben sowie die Positionen von schreibenden und lesenden Figuren sind in diesem Roman so eng miteinander verknüpft, dass jede Beschäftigung und jede Besprechung dieses Buchs wie eine Fortschreibung dessen wirkt.
Der Titel Odenwald verweist einerseits auf einen Schauplatz des Romans, vor allem aber dient er als Ausgangspunkt für Recherchen, Reflexionen und Erzählungen. Zentrale Themen sind die Auseinandersetzung mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, der die Sommer seiner Kindheit in Amorbach verbrachte, einem Städtchen im bayerischen Teil des Odenwalds; die Geschichte des Fürstenhauses Leiningen, das die Auswanderung der Bevölkerung aus seinen Territorien im Odenwald nach Texas beförderte; sowie die Beschäftigung mit dem aktuellen Gender- und Queerdiskurs.
Ineinander übergehende Tracks und gestickte Geschichten
Sowohl die Stoffe des Romans als auch das Gefühl des Weiterschreibens im Lesen sind eng mit seiner Form verknüpft. Die gut 400 Seiten erzählen keine fortlaufende Geschichte, sondern bestehen aus assoziativ verknüpften Fragmenten. An einer Stelle im Roman befinden sich zwei Figuren in einem Club und hören auf der Tanzfläche dabei zu, „wie ein Track nach dem anderen in den jeweils folgenden überging“. Musik ist in vielfältiger Hinsicht eines der großen Themen des Romans: die musiksoziologischen Schriften Adornos – seine Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik von Schönberg sowie seine Kritik am Jazz –, die Musik von John Cage – einem Schüler Schönbergs – sowie die Zusammenarbeit mit Julius Eastman und deren Zerwürfnis in Bezug auf den Umgang mit ihrer jeweiligen Homosexualität etc. Nicht zuletzt funktionieren aber die ineinander übergehenden Tracks als Bild für das assoziative Ineinandergreifen der einzelnen Passagen des Romans.
Das poetologische Konzept ist gleichzeitig auch inhaltlicher Ansatzpunkt. Wichtiges Vorbild ist das fragmentarisch gebliebene Passagen-Werk von Walter Benjamin, das 1982 von Rolf Tiedemann herausgegeben wurde. Der Roman zitiert aus dessen Einleitung, in der Tiedemann wiederum Adorno mit der Deutung zitiert, „Benjamin habe dafür ausschließlich Zitate montieren wollen“. Des Weiteren verweist der Roman auf die Montage-Technik von Thomas Mann in Bezug auf dessen so gut wie unveränderter Übernahme von „Adornos schriftliche[n] Erläuterungen sowie mündlich Mitgeteilte[m]“. Auch die Tragetaschentheorie der Fiktion von der feministischen Autorin Ursula K. Le Guin findet Eingang in das Buch von Meinecke: „I would go so far as to say that the natural, proper, fitting shape of the novel might be that of a sack, a bag. A book holds words. Words hold things. They bear meanings. A novel is a medicine bundle, holding things in a particular, powerful relation to one another and to us.” (Im Buch sind einige Zitate ausschließlich auf Englisch widergegeben, dieses würde ich wie folgt paraphrasieren: Die natürlichste und am besten passende Form des Romans wäre die einer Tasche. Ein Buch besteht aus Wörtern und diese aus Dingen, die mit Bedeutungen aufgeladen sind. Der Roman als Tasche stellt die Dinge in eine bestimmte Beziehung zueinander und zu uns.)
Neben den Verweisen auf andere Werke finden sich Erklärungen zur Poetologie des Romans auch in Form von Rezensionen zu früheren Romanen von Meinecke. Da heißt es unter anderem, dass Meineckes „einzige Macht darin besteht, die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren“ und dass er „nicht Meister über das Material sein, sondern die Dinge selbst zum Sprechen bringen [wolle].“ Außerdem taucht in dem Roman immer wieder das Alter Ego von Thomas Meinecke auf – bezeichnet als Thomas –, das weitere poetologische Hinweise gibt: „Thomas behauptete einmal, am liebsten einen ganzen Roman ausschließlich entlang präziser Schilderungen solcher kleinsten körperlichen Gesten und Regungen verfassen zu wollen, allein, es seien immer wieder tendenziell wuchernde Zusammenhänge … oder gleich die großen Fragen der Menschheit, die ihn, ausgesprochen lästig, dazu bewegten, stark ausufernden Bögen zu folgen …“
Ganz subtil fließt außerdem das Bild der Stickerei in den Roman ein, das ich als Metapher für eine Form des Erzählens lese. Um das Sticken geht es zunächst in der Geschichte von John Rykener, der als Eleanor Rykener als Stickerin – im 14. Jahrhundert ein als sehr weiblich konnotierter Beruf – und als Sexarbeiterin arbeitete. Der Roman beschäftigt sich anhand dieser Geschichte u. a. mit Prostitution und Transsexualität. Das Sticken im Kontext des Geschichtenerzählens greift Meinecke an anderer Stelle wieder auf, als er die feministische Theoretikerin Donna Harraway zitiert, die eine Einführung für die Wiederveröffentlichung des Texts zur Tragetaschentheorie von Le Guin geschrieben hat. Darin geht es um die Stickerei als Kulturtechnik für das Erzählen von Geschichten.
Echtzeit im Roman und bei der Lektüre
Bei den Fragmenten handelt es sich neben Zitaten aus anderen literarischen oder theoretischen Werken um Recherchematerial, das das Alter Ego Thomas bei seinen Reisen in den Odenwald und nach Texas vorfindet, sowie um fiktive Szenen mit fiktivem Personal, die teilweise wiederum selbst recherchieren und dabei ihre Lektüre kommentieren. Auch Gespräche und E-Mails, die sich direkt auf diesen Roman beziehen, werden Teil davon. In einem E-Mail-Austausch mit einem Bekannten von Thomas geht es um den Besuch eines Julius Eastman-Festivals im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses. In einer dieser E-Mails von Thomas an den Bekannten heißt es: „… ich würde diesen kleinen Austausch zum gestrigen Abend am liebsten quasi in Echtzeit in meinen entstehenden Roman stellen …“
Durch das Nebeneinander der einzelnen Fragmente können diese neue Bedeutungen erhalten: einerseits, indem vermeintlich nebensächliche Beobachtungen neben komplexe Reflektionen gestellt werden, andererseits durch das Ineinandergleiten von Situationen. An einer Stelle beispielsweise berichtet der Erzähler, dass sich Thomas bei seiner Recherchereise in einem Café in Amorbach der Lektüre eines Aufsatzes über die Säkularisation des Benediktinerklosters Amorbach widmet. Davon lenkt ihn aber immer wieder ein Gespräch ab, das die Personen am Tisch nebenan führen. Sie reden über Nick Hornbys Roman High Fidelity und die Frage, ob „der selber Pop war oder nur über Pop.“ Angelegt hierin ist, dass dieser Gedanke weitergesponnen werden kann: Während ich diese Stelle im Roman lese, befinde ich mich im Zug und werde immer wieder abgelenkt durch die Gesprächsfetzen der Unterhaltungen um mich, die nun auch wiederum in Wechselwirkung mit dem Gelesenen treten.
Ich fühle mich als Lesende von Meinecke mitgedacht, da er neben den intertextuellen Verweisen weitere interdiskursive liefert. Neben Zitaten und Hinweisen gibt es Hashtags und Links, und als Leserin greife ich zurück auf Wikipedia, Youtube und Google, um zu lesen, zu hören und zu sehen, was die Figuren des Romans lesen, hören und sehen. Auch das Spiel mit dem Paratext vermischt Fiktion und Wirklichkeit. Das Cover ist gestaltet von Michaela Melián, der Ehefrau von Thomas Meinecke; im Roman soll Thomas einer Michaela Grüße ausrichten und an einer anderen Stelle bedient sich eine Figur aus einer angebrochenen Tüte Russisch Brot; der Schriftzug Odenwald auf dem Cover ist wiederum aus Russisch Brot gebildet. Und das Autorenfoto von Thomas Meinecke innen auf der Klappe des Schutzumschlags zeigt ihn vor dem Café Pannonica in Heidelberg, das auch in dem Buch vorkommt, ebenso wie Thelonious Monk, der ein Musikstück der Baronin Pannonica widmete, nach der das Café benannt ist.
Von der ewigen Transformation und dem Weiterschreiben
Es erscheint mir wichtig, so detailliert auf die Form des Romans einzugehen, weil seine Inhalte auch durch diese Form verhandelt werden. Ausgehend von Amorbach als Adornos Sehnsuchtsort beschäftigt sich der Roman mit seinem Leben und Schaffen, u.a. der Kritischen Theorie, als deren Hauptvertreter Adorno neben Max Horkheimer zählt. Im Roman liest Thomas einen Beitrag des Philosophen Markus Quent in einer Adorno gewidmeten Ausgabe der ZEITSCHRIFT FÜR IDEENGESCHICHTE. Darin heißt es: „Die Bewegung des kritischen Denkens liegt nicht in der Infragestellung einer Position durch eine andere, sondern sie ist immer die Bewegung der Auflösung des Einen jeder Position. Das Wesen des kritischen Denkens liegt nicht im Urteil, sondern in der Unterbrechung des Urteils.“
Die Interpretation des kritischen Denkens als Positionen, die aufeinanderprallen und dann „brüchig, fragil, durchlässig“ werden, also sich gegenseitig ineinander auflösen, finde ich in dem Roman in der Auseinandersetzung mit dem Genderdiskurs gespiegelt. Neben John / Eleanor Rykener verweist der Text auf weitere transgeschlechtliche und nonbinäre Figuren und erzählt deren Geschichten und die der sich transformierenden Körper. Gleichzeitig ist auch der Textkörper ein sich ständig transformierender. Die unterschiedlichen Erzählstränge werden immer wieder neu aufgenommen, variiert, weitererzählt und mit neuen Aspekten kombiniert.
Die Verknüpfungen zwischen den Themen sind so komplex, dass es beinahe ebenfalls 400 Seiten bräuchte, um sie nachzuerzählen. Es ist faszinierend, wo Thomas Meinecke jeweils Berührungspunkte findet. Wie diese Assoziationsketten funktionieren, soll folgendes Beispiel versinnbildlichen: Der Roman erzählt die Geschichte der im Odenwald ansässigen Firma Koziol, die Produkte aus Kunststoff herstellt. Ausgehend davon beschäftigt er sich mit dem Material Plastik, das verschiedene Formen annehmen kann und damit auf den Transformationsdiskurs verweist; außerdem werden die von dem Unternehmen erfundenen Schneekugeln erwähnt, deren Motive meist Märchen entnommen sind; und es wird davon berichtet, dass die Firma vor dem Umstieg auf Kunststoff Elfenbein benutzte, was zwar etymologisch nichts mit der Elfe zu tun hat, aber an sie erinnert und genau wie die Referenz auf das Märchen die Assoziation der Fee hervorruft. Bei der Fee wiederum handelt es sich um ein durchgängiges Motiv des Romans, über das vor allem Aspekte der Mystik aber auch wiederum des Genderdiskurses behandelt werden.
Der Roman webt – um in dem Wortfeld der textilen Handarbeit zu bleiben – seinen Stoff immer weiter und über seine Buchdeckel hinaus. Ganz passend dazu zitiert er an einer Stelle die Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous: „Writing is not arriving; most of the time writing is not arriving.“ (Meine Paraphrase: Schreiben bedeutet nicht anzukommen, sondern im Gegenteil: die meiste Zeit, nirgendwo anzukommen.)
Thomas Meinecke: Odenwald. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 440 S., ISBN: 978-3-518-43191-7, 26,00 €