Verleihung des 45. Geschwister-Scholl-Preises an Katharina Gordeeva
Der russischen Journalistin Katerina Gordeeva wurde am Abend des 26. November in München vor rund 600 geladenen Gästen der Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Sie erhält den Preis für ihr Buch Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg (aus dem Russischen von Jennie Seitz, Droemer Verlag). Die Auszeichnung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern und der Landeshauptstadt München ist mit 10.000 Euro dotiert. Bei dem feierlichen Festakt in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität sprachen als Vertreter der Stifter des Preises Oberbürgermeister Dieter Reiter und Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins in Bayern. Prof. Dr. Oliver Jahraus, Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität, begrüßte als Hausherr. Die Laudatio auf Katerina Gordeeva hielt die Journalistin und Autorin Alice Bota.
*
„In meinem tiefsten Inneren wünsche ich mir jedoch, dass dieses Buch nie geschrieben worden wäre. Das würde bedeuten, dass der Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk – ein Krieg, den der Präsident meines Landes, Vladimir Putin, 2014 begonnen hat und der 2022 auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine ausgeweitet wurde – nie begonnen hätte. Und das hätte bedeutet, dass diese zehn Jahre der Straflosigkeit, der Böswilligkeit und der Geringschätzung des menschlichen Lebens nie stattgefunden hätten.“ Diesen Wunsch setzte Katerina Gordeeva an den Anfang ihrer Dankesrede, in der sie das unvorstellbare Leiden der Menschen im Krieg beschreibt und den Aggressor anprangerte. „Fast jeden Tag befinden sich Zivilisten in der Ukraine und im südlichen Grenzgebiet Russlands unter Beschuss. Und jeden Tag wachen Militärangehörige auf, ziehen sich an und gehen an die Front, als ob das gegenseitige Töten ein Job wäre. Der Krieg, den Putin in der Mitte Europas entfesselt hat, war zunächst ein Schock. Aber jetzt ist er zur Routine geworden, zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen hochrangigen Bürokraten, die für Gas, Öl und andere Ressourcen zuständig sind. Aber denken sie auch an die Menschen? An die Lebenden und die Toten? Hören sie die Stimmen der Waisen, Witwen, Mütter und Väter, die an ihrem Kummer und Schmerz fast zugrunde gehen?“ Katerina Gordeeva berichtet auch über die vielen Inhaftierten in Russland, die sich dem Krieg gegen die Ukraine entgegensetzen und bittet um Verzeihung: „Bitte, vergebt uns eines fernen Tages, wann und wie ihr es könnt. Und ich möchte aber auch, dass Sie wissen – ich denke, das ist wichtig –, dass es nicht mein ganzes Land ist, das sich diesem Wahnsinn ergeben hat. Es gibt Menschen, die Widerstand leisten. Ich kann bezeugen, dass sie einen sehr hohen Preis für ihren Widerstand zahlen, aber sie geben nicht auf und sie machen weiter.“
Alice Bota stellt an den Anfang ihrer Laudatio die Frage nach der Berechtigung „angesichts der Würdigung mit einer so besonderen Auszeichnung wie dem Geschwister-Scholl-Preis, immerhin benannt nach Widerstandskämpfern, die sich dem Krieg und dem Nazi-Terror der Deutschen entgegengestellt und dafür mit dem Leben bezahlt haben: Darf eine Russin das? Darf eine Russin über das Leid schreiben, das Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Krieg erleiden? In einem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt?“ Alice Bota bejaht in ihrer Rede mehrfach diese Frage und begründet dies unter anderem mit der Entstehungsgeschichte des Buches: „Eine russische Journalistin schreibt auf Russisch für ein Publikum, in dessen Land offiziell nicht vom Krieg gesprochen werden darf und schon gar nicht von den Verbrechen der eigenen Armee. Darauf stehen hohe Haftstrafen, tausende Menschen wurden bereits verurteilt, weil sie den Krieg oder das Vorgehen ihrer Armee kritisiert hatten. Katerina Gordeeva erreicht ein Millionenpublikum mit ihren Filmen und Interviews bei Youtube, gerade auch viele Menschen in Russland. Das macht dieses Buch so wichtig.“ Und weiter hebt Alice Bota hervor: „Katerina Gordeeva schont die Leserinnen und Leser nicht. Aber noch wichtiger: Sie schont die Russen nicht. Und sie schont sich selbst nicht. Sie schreibt keine abstrakten Manifeste über irgendeine Kollektivschuld der russischen Gesellschaft und ihre Verantwortung, der dieser Tage niemand mit einem russischen Pass entkommen kann; sie lässt einfach jene sprechen, die Opfer der russischen Aggression geworden sind. Sie dürfen anklagen, ohne dass ihre Worte gewogen werden, ob sie zu wütend oder ungerecht sind. Sie dürfen ihre Fassungslosigkeit und ihre Wut und ihren Schmerz den Leserinnen und Leser entgegenschmettern.“
Oberbürgermeister Dieter Reiter hob die Leistung von Katerina Gordeeva hervor: „Sie bringt das Leid und die Verzweiflung und auch den Hass der Menschen angesichts der entfesselten Unmenschlichkeit so viel näher zu uns als alle Berichte über Frontverläufe, zerstörte Infrastruktur oder russische Drohgebärden. Man muss es so sagen: Es ist ein zutiefst erschütterndes und beklemmendes Buch. Eines, das unter die Haut geht und uns die Augen öffnet.“
Der Vorsitzende des Börsenvereins in Bayern Klaus Füreder erinnert daran, dass die in Katerina Gordeevas Buch geschilderten Schicksale „unerträglich schmerzhafte Wahrheiten und Wirklichkeiten eines Krieges [sind], der sich mittlerweile seit über 1.000 Tagen und nur wenig mehr als 1.000 Kilometer von uns entfernt, ereignet“ und ergänzt „Es sind diese eindringlichen Erzählungen, die uns die Kraft des gedruckten Wortes offenbaren. Es sind die verstörenden Bilder im Kopf, die beim Lesen entstehen.“
Der Preis
Der Geschwister-Scholl-Preis wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e. V. und der Landeshauptstadt München seit 1980 vergeben. Sinn und Ziel des Geschwister-Scholl-Preises ist es, jährlich ein Buch jüngeren Datums auszuzeichnen, das, wie es in den Statuten heißt, „von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.“ Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Zu den Preisträgerinnen und Preisträgern zählten in den letzten Jahren unter anderem David van Reybrouck, Andrej Kurkow, Joe Sacco, Dina Nayeri, Ahmet Altan, Götz Aly, Achille Mbembe, Glenn Greenwald, Otto Dov Kulka, Liao Yiwu, Joachim Gauck, Roberto Saviano, David Grossman und Anna Politkovskaja.
Verleihung des 45. Geschwister-Scholl-Preises an Katharina Gordeeva >
Der russischen Journalistin Katerina Gordeeva wurde am Abend des 26. November in München vor rund 600 geladenen Gästen der Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Sie erhält den Preis für ihr Buch Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg (aus dem Russischen von Jennie Seitz, Droemer Verlag). Die Auszeichnung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern und der Landeshauptstadt München ist mit 10.000 Euro dotiert. Bei dem feierlichen Festakt in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität sprachen als Vertreter der Stifter des Preises Oberbürgermeister Dieter Reiter und Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins in Bayern. Prof. Dr. Oliver Jahraus, Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität, begrüßte als Hausherr. Die Laudatio auf Katerina Gordeeva hielt die Journalistin und Autorin Alice Bota.
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„In meinem tiefsten Inneren wünsche ich mir jedoch, dass dieses Buch nie geschrieben worden wäre. Das würde bedeuten, dass der Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk – ein Krieg, den der Präsident meines Landes, Vladimir Putin, 2014 begonnen hat und der 2022 auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine ausgeweitet wurde – nie begonnen hätte. Und das hätte bedeutet, dass diese zehn Jahre der Straflosigkeit, der Böswilligkeit und der Geringschätzung des menschlichen Lebens nie stattgefunden hätten.“ Diesen Wunsch setzte Katerina Gordeeva an den Anfang ihrer Dankesrede, in der sie das unvorstellbare Leiden der Menschen im Krieg beschreibt und den Aggressor anprangerte. „Fast jeden Tag befinden sich Zivilisten in der Ukraine und im südlichen Grenzgebiet Russlands unter Beschuss. Und jeden Tag wachen Militärangehörige auf, ziehen sich an und gehen an die Front, als ob das gegenseitige Töten ein Job wäre. Der Krieg, den Putin in der Mitte Europas entfesselt hat, war zunächst ein Schock. Aber jetzt ist er zur Routine geworden, zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen hochrangigen Bürokraten, die für Gas, Öl und andere Ressourcen zuständig sind. Aber denken sie auch an die Menschen? An die Lebenden und die Toten? Hören sie die Stimmen der Waisen, Witwen, Mütter und Väter, die an ihrem Kummer und Schmerz fast zugrunde gehen?“ Katerina Gordeeva berichtet auch über die vielen Inhaftierten in Russland, die sich dem Krieg gegen die Ukraine entgegensetzen und bittet um Verzeihung: „Bitte, vergebt uns eines fernen Tages, wann und wie ihr es könnt. Und ich möchte aber auch, dass Sie wissen – ich denke, das ist wichtig –, dass es nicht mein ganzes Land ist, das sich diesem Wahnsinn ergeben hat. Es gibt Menschen, die Widerstand leisten. Ich kann bezeugen, dass sie einen sehr hohen Preis für ihren Widerstand zahlen, aber sie geben nicht auf und sie machen weiter.“
Alice Bota stellt an den Anfang ihrer Laudatio die Frage nach der Berechtigung „angesichts der Würdigung mit einer so besonderen Auszeichnung wie dem Geschwister-Scholl-Preis, immerhin benannt nach Widerstandskämpfern, die sich dem Krieg und dem Nazi-Terror der Deutschen entgegengestellt und dafür mit dem Leben bezahlt haben: Darf eine Russin das? Darf eine Russin über das Leid schreiben, das Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Krieg erleiden? In einem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt?“ Alice Bota bejaht in ihrer Rede mehrfach diese Frage und begründet dies unter anderem mit der Entstehungsgeschichte des Buches: „Eine russische Journalistin schreibt auf Russisch für ein Publikum, in dessen Land offiziell nicht vom Krieg gesprochen werden darf und schon gar nicht von den Verbrechen der eigenen Armee. Darauf stehen hohe Haftstrafen, tausende Menschen wurden bereits verurteilt, weil sie den Krieg oder das Vorgehen ihrer Armee kritisiert hatten. Katerina Gordeeva erreicht ein Millionenpublikum mit ihren Filmen und Interviews bei Youtube, gerade auch viele Menschen in Russland. Das macht dieses Buch so wichtig.“ Und weiter hebt Alice Bota hervor: „Katerina Gordeeva schont die Leserinnen und Leser nicht. Aber noch wichtiger: Sie schont die Russen nicht. Und sie schont sich selbst nicht. Sie schreibt keine abstrakten Manifeste über irgendeine Kollektivschuld der russischen Gesellschaft und ihre Verantwortung, der dieser Tage niemand mit einem russischen Pass entkommen kann; sie lässt einfach jene sprechen, die Opfer der russischen Aggression geworden sind. Sie dürfen anklagen, ohne dass ihre Worte gewogen werden, ob sie zu wütend oder ungerecht sind. Sie dürfen ihre Fassungslosigkeit und ihre Wut und ihren Schmerz den Leserinnen und Leser entgegenschmettern.“
Oberbürgermeister Dieter Reiter hob die Leistung von Katerina Gordeeva hervor: „Sie bringt das Leid und die Verzweiflung und auch den Hass der Menschen angesichts der entfesselten Unmenschlichkeit so viel näher zu uns als alle Berichte über Frontverläufe, zerstörte Infrastruktur oder russische Drohgebärden. Man muss es so sagen: Es ist ein zutiefst erschütterndes und beklemmendes Buch. Eines, das unter die Haut geht und uns die Augen öffnet.“
Der Vorsitzende des Börsenvereins in Bayern Klaus Füreder erinnert daran, dass die in Katerina Gordeevas Buch geschilderten Schicksale „unerträglich schmerzhafte Wahrheiten und Wirklichkeiten eines Krieges [sind], der sich mittlerweile seit über 1.000 Tagen und nur wenig mehr als 1.000 Kilometer von uns entfernt, ereignet“ und ergänzt „Es sind diese eindringlichen Erzählungen, die uns die Kraft des gedruckten Wortes offenbaren. Es sind die verstörenden Bilder im Kopf, die beim Lesen entstehen.“
Der Preis
Der Geschwister-Scholl-Preis wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e. V. und der Landeshauptstadt München seit 1980 vergeben. Sinn und Ziel des Geschwister-Scholl-Preises ist es, jährlich ein Buch jüngeren Datums auszuzeichnen, das, wie es in den Statuten heißt, „von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.“ Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Zu den Preisträgerinnen und Preisträgern zählten in den letzten Jahren unter anderem David van Reybrouck, Andrej Kurkow, Joe Sacco, Dina Nayeri, Ahmet Altan, Götz Aly, Achille Mbembe, Glenn Greenwald, Otto Dov Kulka, Liao Yiwu, Joachim Gauck, Roberto Saviano, David Grossman und Anna Politkovskaja.