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27.11.2024, 13:12 Uhr
Jürgen Bulla
Rezensionen
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Christian Schloyer (c) privat

Rezension zu Christian Schloyers Lyrikband „Venus – Mars“

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(c) poetenladen

In seinem lyrischen Doppelband Venus-Mars (erschienen bei poetenladen 2024) begibt sich der Nürnberger Dichter Christian Schloyer auf eine komplexe, poetisch-sprachschöpferische Planetenerkundung. Der Münchner Lyriker Jürgen Bulla hat Venus-Mars für uns gelesen. 

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Der im Leipziger poetenladen erschienene Doppelband des Dichters Christian Schloyer stellt an den Leser einen ebenso hohen Anspruch, wie die Vision traurig groß ist, an der er beteiligt werden soll: Es geht um die unausweichliche Erforschung zweier ferner Planeten. Die Erde ist endgültig unbewohnbar geworden, und der Versuch einer hilflosen Fortsetzung menschlichen Lebens auf Mars und Venus wird mit lyrischen Mitteln unternommen, denn die Poesie ist das Genre, das sich am ehesten das ganz und gar Neue erschließen kann, mittels einer rhythmisierten, sphärenmusikalischen, morphologisch und syntaktisch neuartigen Form der Sprache, die den semantischen Zugriff oftmals bewusst verweigert und in ihrer bruchstückhaften Gestalt der Notlandung eines angeschlagenen Raumschiffs, zunächst auf dem Mars, nahekommt.

Schloyers vom Deutschen Literaturfonds geförderter Gedichtband präsentiert sich schon in seiner Konzeption als ausgesprochen komplexes Werk.

„Venus und Mars liegen kopf- und gegenüber“, wie der Klappentext zutreffend mitteilt, was sowohl zu einer deutlichen Verwobenheit in der Anordnung der Texte beider Einzelbände führt, als auch die Notwendigkeit mit sich bringt, zur abwechselnden Lektüre von Mars- und Venusgedichten das Buch jeweils in Nachahmung kosmischer Spiralbewegung zu drehen. Während die Venus-Gedichte sich in der bekannten Manier von Gedichtsammlungen in den drei Kapiteln Sphäre, Polis und Soma fortlaufend aneinanderreihen, sind die Mars-Gedichte als „Text Adventure Game“ konzipiert, „im Stil des gleichnamigen Computerspielgenres aus den 1970er Jahren“, wie der Autor im vorgeschalteten Abschnitt Spielregeln erläutert.

Im entgrammatikalisierten Kosmos

Unter jedem der lyrischen Texte der Mars-Sammlung befinden sich Handlungsanweisungen für den Leser, wie etwa „gehe zurück nach osten (ausgangspunkt) [S. 43]“ oder „→ deine O22-reserven werden knapp! was tust du nun? wähle: …“. Dieser Transfer der Gaming-Tradition auf das gedruckte Buch erscheint ebenso originell wie rezeptionshilfreich, wenn es um die Vermeidung der gängigen Praxis des Überblätterns geht, das bei der Lektüre von Gedichtbänden landläufig üblich ist: Hier muss jeder Text nach der in der Spielanweisung vorgeschlagenen Reihenfolge studiert werden, damit der Leser/Player die Lektüre/das Spiel fortsetzen kann. Auch findet sich auf Seite 7 ein Luftbild von einem Stück Marslandschaft, in dessen Gitterraster der Leser/Spielteilnehmer die von ihm genommene Route bei der Marserkundung eintragen soll.

Die Idee der erzwungenen Weltraummission als Spiel deutet weiter auf einen letzten Rest Hoffnung im dystopischen Szenario hin, die Erprobung der Weltraumbesiedelung möge trotz der weit fortgeschrittenen Zerstörung des blauen Planeten vielleicht doch nicht zum Ernstfall werden. Der bereits angesprochene bruchstückhafte Charakter des Sprechens nach der Bruchlandung, des Sprechens in dünner Luft, des Sprechens in buchstäblich atemberaubender Umgebung manifestiert sich vor allem in der kontinuierlichen Arbeit des Autors mit Auslassungspunkten.

Diese Ellipsen bevölkern sämtliche Gedichte des Doppelbandes und suggerieren ein erschöpftes, verstörtes Atemholen ebenso wie die Vorstellung, dass die vorliegenden Gedichte nur aus monologischen Fetzen, bemüht um einen imaginären Gesprächspartner bestehen, und die eigentlich wesentlichen Aussagen hinter den Auslassungszeichen verborgen bleiben, im Astralnebel oder etwaigen schwarzen Löchern verschwinden. Gleichzeitig sind es gerade die hier entstehenden Sprechpausen, die die in ihrem Stottern so eindringliche Rhythmizität der Texte verursachen:

insekten welche diese spuren hätten […] ziehen oder generieren können […] zieren sich zu existieren … (aus: epitaph)

In konsequenter Kleinschreibung treten die Gedichte des Doppelbandes fast durchgehend mehrstrophig auf und häufig bestehen die Strophen aus je zwei bis vier Versen. Weiter zeigt sich, dass der Autor auf Interpunktion fast vollständig verzichtet, was dem verschränkten Satzbau und bestimmten morphologischen Strukturen geschuldet ist. Nur gelegentlich wird nervlich-moralische Erregung von einzelnen Ausrufezeichen oder Fragezeichen untermauert, eine Art Relikt der Interpunktion im entgrammatikalisierten Kosmos:

züge + der warnende piepton einer rück […] wärts rangierenden müllpresse deren ver […] dichtungswerk du hörst ein splittern als ob sie […] platzt dermaßen rüpelhaft + nippel […] hart durchs fenster spratzt meine […] fresse! dir ungeschminkt in die […] fassade klatscht dir nen seiten (aus: so fett geht sonnenaufgang

Ferner fallen die Titel auf, die oftmals schon Gedicht sind, wie z. B. als der glückskeks auf der erde einschlägt verdunkelt sich der himmel hinter sinnsprüchen (in der Venus-Sammlung), und der Hang zur kaufmännischen („&“) oder mathematischen („+“) Konjunktion. Das altmodisch verbindende Wort „und“ sucht der Leser vergebens in diesem Gedichtband, der ein zusammenhangloses, isoliertes nur in ökonomischen oder anderweitig rechnerischen Endzeitüberlegungen Halt suchendes Dasein beschreibt. Das Miteinander des „und“ ist Geschichte. Hinsichtlich der Sprecherinstanz lassen sich gelegentlich ein lyrisches Ich oder ein lyrisches Du feststellen, das jedoch eher eine distanziertere Selbstanrede in einigen monologisch wirkenden Texten darzustellen, als unmittelbar an die Adresse des Lesers gerichtet scheint (so etwa in sich selbst erhaltender tierversuch in der Venus-Sammlung), der nur in den Handlungsanweisungen des Mars-Spiels direkt angesprochen wird (siehe oben).

ebay dubai bayern bye-bye

Großteils bleibt der Sprecher dieser Gedichte jedoch im Hintergrund und verkündet in der dritten Person gleichsam den explorativen Befund der gesamten restlichen Menschheit. Worin besteht der Befund?

Die motivisch-inhaltliche Bandbreite der Texte erstreckt sich über Details der Planetenerkundung auch stets auf Repliken auf die irdischen Fehler und Versäumnisse, die den Planeten Erde zerstört haben: Angespielt werden Themen wie der Klimawandel, Populismus und Korruption, kommerzielle Exzesse, die Gender-Problematik mit der aufreibenden Geschlechterpolarität und deren erhoffter Überwindung, ebenso wie die gesunden und ungesunden Wucherungen moderner Technik, aussterbende Tiere und mythische Tiersymbole, klassisches Bildungsgut wie die Kapitelüberschrift Polis, antike Mythologie, Verweise auf Dante und Shakespeare, die Gaming-Tradition der letzten Jahrzehnte und Reminiszenzen an den globalen wie auch regionalen Erdenalltag. Einzelne Orte wie etwa Dubai („ebay dubai bayern bye-bye“) werden konkret benannt. Nicht zuletzt finden sich auch immer wieder Anspielungen auf religiöse Zusammenhänge in der christlichen oder buddhistischen Tradition und Märchenzitate und Sprachreflexionen, poetologische Überlegungen.

Einige wenige Zitate mögen diesen inhaltlichen Beobachtungen als Belege dienen: So gibt der schon angesprochene Glückskeks-Text darüber Aufschluss, dass der Mensch höchstwahrscheinlich Sterne gezeugt, „(nicht aber […] die erderwärmung entschleunigt)“ hat. In erinnerungsingenieur:in (m/w/d) blenden den Sprecher, oder besser: Sprecher:in „agressive mönchsgesänge“, in kalte kriegstrophäe ist von „schnee // wittchens knöchernem finger“ die Rede, „es gibt diese vögel sechsflügelig“, heißt es in träume mit sauerstoffflaschen, („ob autokraten in den nachthimmel blicken / bevor sie wieder […] wählen lassen zu 99,7%?) wirft den Blick auf jene demokratiefeindlichen Machenschaften, die ihren Teil zur Zerstörung der Welt beitragen (aus: freejazz-alkaloide für den DNA-drucker), im Gedicht ebay dbai bayern bye-bye wird der „firmenadel so vermögend“ angesprochen und ein Venus-Gedicht stellt die Titelfrage: „war mein herr jesus zivilist oder vegan?“.

Vom kosmischen Schöpfungsprozess einer neuen Sprache 

Fast noch aussagekräftiger als die zahllosen inhaltlichen Andeutungen, Hinweise, Querverweise und Zitate, die zur semantischen Vielschichtigkeit des Doppelbandes beitragen und von der hochassoziativen Schreibweise des Autors herrühren, aber auch den bruchstückhaften, sich einer schlüssigen Deutung oft bewusst entziehenden Charakter der Gedichte herbeiführen, scheint die sprachliche Raffinesse, mit der Christian Schloyer vorgeht, teils im Stile des homo ludens (gaming!), teils in sehr ernsthafter Auseinandersetzung mit der lyrischen Tradition. In syntaktischer Hinsicht führt das Aufbrechen von Satzbaukonventionen ein ums andere Mal zu Mehrfachbezügen von Satzteilen, die von der Orientierungslosigkeit des gestrandeten Zwangskosmonauten ebenso zeugen mögen wie vom Schöpfungsprozess einer neuen Sprache in buchstäblich weltfremder Umgebung:

öffne fenster + türen dem frühling / […] erkennst du! Am halleffekt am erstschlags […] echo zwischen den bergen am […] / menstruationsblut der vulkane an schnee // wittchens knöchernem finger ziehst du fürsorglich […] den korken aus der buchse … (aus: kalte kriegstrophäe)

Nicht nur der Satzbau, auch die Morphologie unterliegt zahlreichen Trennungen und Neuzusammensetzungen von Silben, oft überraschende Kombinationen. Nur eines von vielen Beispielen: 

…unter gasgeblasenen hohl // räumen (innerirdische soundglasbläser ) mit ge […] heimen abzweigungen … (aus: adamsapfel im orbit des roten planeten).

Die Gedichte beider Bände enthalten ausnahmslos eine Vielzahl an Neologismen, deren sprachschöpferische Wirkkraft nicht ausbleibt, beispielsweise „unwillensbildung“, „leistungsschlips“, „lendenschurzgott“ oder „toyboybody“. Außerdem könnte das eingesetzte, kraftvolle Nebeneinander verschiedenster sprachlicher Ebenen wohl kaum noch vielschichtiger sein: Wissenschaftssprache paart sich mit Alltagssprache und Jugendsprache („so fett geht sonnenaufgang“), ferner Fachsprache aus dem Gaming-Bereich oder den schon erwähnten Märchenzitaten.

Das sensibel eingesetzte Pathos führt dabei nicht selten zu komischen, teilweise ironischen Effekten und vermeidet jedes Aufkommen von Larmoyanz: „war mit oma beim frisör im […] cockpit dieses lunar landers …“ (aus: erinnerungsingenieru:in (m/w/d)). Hier und da hört der Leser dieser rhythmisierten, von Alliterationen und Assonanzen geprägten und immer wieder mit musikalischem Vokabular durchsetzen Verse sogar Anklänge an die religiöse Symbolik der Romantik:

…neulich / ist hier ein erzengel herabgefahren als meteor […] im moor verglüht (du berauschst / […] dich noch heute an seinen dämpfen) (aus: kontamination). 

Christian Schloyers Gedichte, deren Reichtum hier nur im Ansatz aufgezeigt werden konnte, sollten in kleinen Dosen über einen langen Zeitraum wieder und wieder gelesen werden, um ihnen formal, sprachlich und inhaltlich beikommen zu können. Sie beweisen eindrucksvoll: Zur Erforschung neuen kosmischen Terrains findet die Lyrik die geeignetste Sprache. Sachbücher werden erst später geschrieben.

 

Christian Schloyer: Venus-Mars. Gedichte. Verlag poetenladen, Leipzig 2024, 120 S., ISBN 978-3-948305-27-7, 19,80 €