FREISCHWIMMEN – DER ORT AN DEM ICH BIN. Ein mäandernder Text über Schreiben und Schwimmen (1)
Literatur und Bewegung gehen ein spannendes Gespann ein. Der Bewegung im Kopf setzen viele Autorinnen und Autoren eine körperliche Bewegung entgegen oder ergänzen die eine mit der anderen. Von den offensichtlichen gesundheitlichen Gründen abgesehen, ist das eine oftmals die Verlängerung des anderen.
Die Autorin Sara Goméz ist leidenschaftliche Schwimmerin ohne jede Ambition an sportliches Achievement. In dieser 9-teiligen Blogreihe lässt sie sich treiben wie in einem See und kommt dennoch immer wieder zurück in ihre Bahnen. Sie schreibt darüber, wie Schreiben und Schwimmen, wie Bewegung und Denken für sie zusammenhängen. Wir präsentieren hier die erste Folge.
*
LOS TÉMPANOS FLOTABAN EN LA NOCHE COMO BALLENAS BLANCAS[1]
Témpanos, das sind die Kälber der Gletschermutter – der spanische Begriff entführt mich sofort in den Süden Chiles, nach Patagonien, wo ich dem Naturspektakel das erste und einzige Mal in meinem Leben beiwohnte: Wenn sich so ein stattlicher Brocken löst und mit aller Wucht in den Gletschersee fällt, wo er dann friedlich schaukelnd hin und her schwimmt und langsam schmilzt, nicht wissend, dass seine Existenz in dem Moment, in dem er sich lossagt, sich langsam aufzulösen beginnt.
Wenn ich nicht weiter weiß beim Schreiben, mache ich erstmal eine Playlist. Eine sehr intensive Art der Ablenkung, denn von Hölzchen komme ich auf Stöckchen, verliere mich in diesem Element, das mich fast ständig begleitet und gleichzeitig in keinster Weise an meinen Ehrgeiz rührt: Ich werde niemals Musikerin werden, ich hatte es auch nie vor. Schauspielerin wollte ich werden, Malerin ist meine Mutter, Autorin bin ich selbst. Musik begleitet mein Schreiben mehr als alle anderen Künste, ausgenommen die Literatur selbst. Dass sich die Langstreckenschwimmerin Diana Nyad auf ihrer Frei-Schwimm-Strecke von Kuba nach Miami ganze Playlists im Kopf angelegt hat, leuchtet mir insofern sofort ein. In ihrem „Ted Talk“ von 2011, als sie die Strecke noch nicht erfolgreich bezwungen hatte, berichtet sie, wie sie sich darauf freute, in ihrer inneren Playlist zu Neil Young zu kommen, mit Young im Kopf durch die Nacht zu schwimmen.
Wie sich die Musik auf ihr tatsächliches Schwimmen auswirkte, erzählt sie nicht – wie sich die Musik auf mein Schreiben auswirkt, weiß ich nicht, nur, dass ich regelmäßig Dankesgrüße an Musikerinnen wie Cat Power imaginiere und Playlists anlege, die mein Schreiben begleiten als Wegmarkierungen, Lichter am Rand, Orientierungsmarker, Kondensstreifen am blauen Himmel.
Als mein damaliger Lebensgefährte das erste Mal aus Chile zu Besuch in Deutschland war und wir in einer schummrigen Altbauwohnung des Münchner Schlachthofviertels saßen, bemerkte er beim Blick durchs Küchenfenster, man sähe den Himmel kaum – und das lag nicht nur an dem engabgesteckten Rahmen, in den sich der Himmel dort zu pressen hatte, das liegt sowohl an der grundsätzlich dichten Bebauung in Deutschland, in der der Blick fast überall auf ein Hindernis stößt, als auch am anderen Himmelsblau: Wie anders es scheint im Süden (und Norden) Chiles!
Jedes Mal, wenn ich in Patagonien gelandet bin, gibt es dieses große Aufatmen, endlich wieder unter diesem Himmel zu stehen, dessen Blau eine andere Tiefe, dessen Weite immer ein Versprechen in sich trägt. Hier, an einem Ende der Welt, das immer besonders viel für mich bedeuten wird, wuchs mein Vater auf, lernten sich meine Großeltern kennen, ließen sich meine Urgroßeltern nieder und eröffneten einen Laden, den ich mit Mitte 20 das erste Mal besucht habe. Alles unter diesem Himmel. Nicht umsonst schrieb ich in einem meiner wenigen Chile-Gedichte, „dieses Blau! diese Füße! // in diesen Schuhen! die sich vor mir drehen, // als wärst du ein Platz, auf dem sich alle // bewegen und bedienen dürften“.
[1] https://www.scielo.cl/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0718-04622010000200011. Abgerufen am 15.9.2024; aus: Ineditos, Raúl Zurita. Zu Deutsch etwa: Die Gletscherkälber gleiteten durch die Nacht wie weiße Wale.
FREISCHWIMMEN – DER ORT AN DEM ICH BIN. Ein mäandernder Text über Schreiben und Schwimmen (1)>
Literatur und Bewegung gehen ein spannendes Gespann ein. Der Bewegung im Kopf setzen viele Autorinnen und Autoren eine körperliche Bewegung entgegen oder ergänzen die eine mit der anderen. Von den offensichtlichen gesundheitlichen Gründen abgesehen, ist das eine oftmals die Verlängerung des anderen.
Die Autorin Sara Goméz ist leidenschaftliche Schwimmerin ohne jede Ambition an sportliches Achievement. In dieser 9-teiligen Blogreihe lässt sie sich treiben wie in einem See und kommt dennoch immer wieder zurück in ihre Bahnen. Sie schreibt darüber, wie Schreiben und Schwimmen, wie Bewegung und Denken für sie zusammenhängen. Wir präsentieren hier die erste Folge.
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LOS TÉMPANOS FLOTABAN EN LA NOCHE COMO BALLENAS BLANCAS[1]
Témpanos, das sind die Kälber der Gletschermutter – der spanische Begriff entführt mich sofort in den Süden Chiles, nach Patagonien, wo ich dem Naturspektakel das erste und einzige Mal in meinem Leben beiwohnte: Wenn sich so ein stattlicher Brocken löst und mit aller Wucht in den Gletschersee fällt, wo er dann friedlich schaukelnd hin und her schwimmt und langsam schmilzt, nicht wissend, dass seine Existenz in dem Moment, in dem er sich lossagt, sich langsam aufzulösen beginnt.
Wenn ich nicht weiter weiß beim Schreiben, mache ich erstmal eine Playlist. Eine sehr intensive Art der Ablenkung, denn von Hölzchen komme ich auf Stöckchen, verliere mich in diesem Element, das mich fast ständig begleitet und gleichzeitig in keinster Weise an meinen Ehrgeiz rührt: Ich werde niemals Musikerin werden, ich hatte es auch nie vor. Schauspielerin wollte ich werden, Malerin ist meine Mutter, Autorin bin ich selbst. Musik begleitet mein Schreiben mehr als alle anderen Künste, ausgenommen die Literatur selbst. Dass sich die Langstreckenschwimmerin Diana Nyad auf ihrer Frei-Schwimm-Strecke von Kuba nach Miami ganze Playlists im Kopf angelegt hat, leuchtet mir insofern sofort ein. In ihrem „Ted Talk“ von 2011, als sie die Strecke noch nicht erfolgreich bezwungen hatte, berichtet sie, wie sie sich darauf freute, in ihrer inneren Playlist zu Neil Young zu kommen, mit Young im Kopf durch die Nacht zu schwimmen.
Wie sich die Musik auf ihr tatsächliches Schwimmen auswirkte, erzählt sie nicht – wie sich die Musik auf mein Schreiben auswirkt, weiß ich nicht, nur, dass ich regelmäßig Dankesgrüße an Musikerinnen wie Cat Power imaginiere und Playlists anlege, die mein Schreiben begleiten als Wegmarkierungen, Lichter am Rand, Orientierungsmarker, Kondensstreifen am blauen Himmel.
Als mein damaliger Lebensgefährte das erste Mal aus Chile zu Besuch in Deutschland war und wir in einer schummrigen Altbauwohnung des Münchner Schlachthofviertels saßen, bemerkte er beim Blick durchs Küchenfenster, man sähe den Himmel kaum – und das lag nicht nur an dem engabgesteckten Rahmen, in den sich der Himmel dort zu pressen hatte, das liegt sowohl an der grundsätzlich dichten Bebauung in Deutschland, in der der Blick fast überall auf ein Hindernis stößt, als auch am anderen Himmelsblau: Wie anders es scheint im Süden (und Norden) Chiles!
Jedes Mal, wenn ich in Patagonien gelandet bin, gibt es dieses große Aufatmen, endlich wieder unter diesem Himmel zu stehen, dessen Blau eine andere Tiefe, dessen Weite immer ein Versprechen in sich trägt. Hier, an einem Ende der Welt, das immer besonders viel für mich bedeuten wird, wuchs mein Vater auf, lernten sich meine Großeltern kennen, ließen sich meine Urgroßeltern nieder und eröffneten einen Laden, den ich mit Mitte 20 das erste Mal besucht habe. Alles unter diesem Himmel. Nicht umsonst schrieb ich in einem meiner wenigen Chile-Gedichte, „dieses Blau! diese Füße! // in diesen Schuhen! die sich vor mir drehen, // als wärst du ein Platz, auf dem sich alle // bewegen und bedienen dürften“.
[1] https://www.scielo.cl/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S0718-04622010000200011. Abgerufen am 15.9.2024; aus: Ineditos, Raúl Zurita. Zu Deutsch etwa: Die Gletscherkälber gleiteten durch die Nacht wie weiße Wale.