Autor-, Leserschaft und Literaturbetrieb: Observationsverhör mit Slata Roschal (2)

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© Ulrich Schäfer-Newiger

Seit den 1980er-Jahren gibt es das Format der Poetikvorlesung am Institut für Deutsche Philologie der LMU München: Autorinnen und Autoren werden an die Universität eingeladen, um über ihr Schreiben, ihre Bücher und ihre Poetik zu sprechen. 2024 gab es wieder eine Neuauflage. Um die Forschung zur Gegenwartsliteratur am Verlags- und Buchstandort München weiter voranzutreiben und das literarische Leben in Forschung und Lehre besser zu vermitteln, stand die diesjährige Poetikvorlesung unter dem Vorzeichen „Werkstatt und Maschinenraum“. Als Vortragende konnte die Schriftstellerin Slata Roschal gewonnen werden. Roschal sprach in drei Vorlesungen über die Bedeutung des Literaturbetriebs für ihre Arbeit, über Geld, Macht und Konkurrenz, über das kollaborative Entstehen von Büchern und über die besondere Herausforderung, sich dem Literaturmarkt zu stellen, wenn man Familie und Kinder hat. Begleitend dazu entstanden drei Interviews, die von Studierenden der LMU mit der Autorin geführt wurden. Das zweite Interview bringen wir hier.

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Sehr geehrte Frau Roschal, wir freuen uns, Sie wieder bei uns zu haben und bedanken uns herzlich, dass Sie uns die Chance geben, ein Gespräch mit Ihnen zu führen und so Ihr Werk und Sie als Person besser kennenlernen zu dürfen. Im Seminar haben wir uns Gedanken zum Buchtitel Ihres Debütromans gemacht. Dabei haben wir in der 153 eine unabgeschlossene Zahl oder eine Ansammlung an Primzahlen gesehen und uns gefragt, ob es im Buch nur 153 Formen des Nichtseins gibt oder mehr. Was verbirgt sich hinter der Zahl?

Zunächst danke Ihnen, dass Sie sich so viel Zeit nehmen für meine Bücher! Es gab auch in einigen Rezensionen Interpretationen zu dieser Zahl und möglicherweise stimmen sie, ich habe keine Ahnung. Zunächst waren es fünfzehn, siebzehn Kapitel, sind immer mehr geworden, bis sie ein Buch ausgefüllt haben, und erst am Ende habe ich überlegt, welche Zahl ich in etwa haben möchte. Das heißt, ich wollte nicht, dass es 150 wird oder 155, es sollte eine unabgeschlossene, schiefe Zahl sein. 153 hat dann gepasst. Ich habe zum Beispiel eine leere Seite mit Platz für Notizen ergänzt oder Kapitel geteilt oder zusammengefügt, auch jetzt könnte man da noch etwas ändern. Und ich denke auch, dass jeder Textabschnitt eine Form des Nichtseins ist, also in sich Unabgeschlossenen, es sind verschiedene Situationen, Kontexte, wo sich meistens die Ich-Erzählerin fragt, wer sie ist, was das Ganze soll, wo sie fremden und eigenen Erwartungen nicht entspricht. Es zieht sich, denke ich, ein Gefühl von Unzufriedenheit durch das Buch. Ich weiß nicht, ob das Ihre Frage beantwortet hat.

Ja, auf jeden Fall, vielen Dank. Im Seminar ist es so, dass wir zu ihren beiden Werken Aufsätze verfassen werden, da hat sich uns die Frage gestellt: Wenn Sie festes Mitglied unseres Seminars wären, was wären Punkte, auf die hin Sie Ihre Bücher analysieren würden? Erwischen Sie sich denn manchmal selbst dabei, wie Sie Ihre eigenen Texte analysieren?

Ich denke nicht. Ich glaube, es wäre mir sogar unangenehm, dabei zu sein, während Sie meine Texte interpretierten. Ein bisschen muss ich das natürlich auch tun, eine Distanz aufbauen und schauen, macht das Sinn als Text oder nicht, macht es Spaß oder nicht, aber ich würde natürlich keine Interpretationen meiner eigenen Texte verfassen. Und meine Deutung ist gar nicht so wichtig am Ende, zum Schluss sind Sie es ja, die entscheiden, was an dem Text für Sie wichtig ist und was er mit Ihnen macht. Es kann auch sein, dass ich davon überzeugt bin, dass es wunderbar ist, und Sie aber alle denken, es ist der größte Quatsch, den Sie je gelesen haben, und dass Sie an der Uni regelrecht gezwungen werden, sich damit zu befassen. Das kann gut passieren. Noch kurz zur Frage davor, es ist ein bisschen auch die Pointe des Ganzen, wenn sich ganz viele Formen des Nichtseins versammeln und wiederum eine Form des Seins ergeben. Es entsteht ein Buch, mit diesem Buch kann man etwas anfangen, und vielleicht gibt es weiterhin viele Lücken in oder auch zwischen den Abschnitten, die Zusammenhänge sind anfangs nicht immer klar. Ich glaube, dann ist man als Leser gefragt, mitzuarbeiten und eine Geschichte daraus zu entwickeln oder so.

Die folgende Frage schließt an die zweite Frage an. Es würde mich interessieren, inwiefern die Tatsache, dass Sie Literaturwissenschaft studierten, Ihre Autorschaft beeinflusst.

Ich vermeide es zu sagen, dass ich Literaturwissenschaftler bin, weil ich glaube, dass dafür ein Studium, eine Promotion nicht ausreicht, es ist ein Beruf, in dem man aktiv arbeiten muss. Es gibt ja die Tendenz, dass man einmal eine Ausbildung bekommt und dann bis ans Ende des Lebens sagt, „Ich bin das und das“. Ich sehe es ein wenig kritisch. Wenn ich nicht gerade als Postdoc oder Professor an der Uni angestellt bin und laufend akademische Aufsätze und Bücher schreibe, bin ich, streng genommen, auch kein Literaturwissenschaftler. Seit ich in den letzten Jahren aus der Uni raus bin, haben sich viele Sachen verändert, ich müsste mich bestimmt wieder reinlesen zu den Themen, die mich damals beschäftigt haben. Der Vorteil ist auf jeden Fall, dass man zumindest ein Gefühl dafür bekommt, wie viele Möglichkeiten es gibt, an literarische Texte heranzugehen. Ich denke, das ist die eigentliche Funktion der Literaturwissenschaft, zuerst kommt Literatur, ein Artefakt, das da ist in der Welt, dann kommt die Wissenschaft und schaut, was wir damit machen können, und wenn man zumindest diese Intuition entwickelt hat mit den Jahren, wie vielschichtig literarische Texte sind, dann hilft das etwa kritischer zu sein gegenüber Modebegriffen. Darüber haben wir letztens auch in der Vorlesung zum Thema Autofiktionalität gesprochen, man muss sich nicht sofort mit Händen und Füßen darauf stürzen, sondern kann erstmal überlegen, ob man dieses Wort überhaupt braucht. Es gibt aufregendere Fragen als den Bezug zwischen Autor und Text, und es ist gut, wenn man es weiß.

Und wenn Sie das alles im Hinterkopf haben, die Literaturwissenschaftler oder auch uns als Studierende, die das Buch lesen werden, kommt es vor, dass Sie beim Überarbeiten etwas für Literaturwissenschaftler ‚verstecken‘?

Es gibt einige Passagen in den 153 Formen des Nichtseins, eine Slawistenkonferenz oder eine Stelle aus meiner Dissertation, denn das ist auch ein Text, den man auf eine Art literarisch auffassen kann. Oder vor dem Ullstein-Buch habe ich über die Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Dostojevskij, über Männlichkeit und Einsamkeit geschrieben, konnte diesen Text fast auswendig und habe mich immer wieder gefragt, wie man das eigentlich auch mit Weiblichkeit verbinden könnte, ob es sowas wie einsame Frauen in der Literatur gibt. Wenn, dann muss es etwas komplett anderes sein, und wie könnte so ein literarischer Text denn aussehen zu unserer Zeit, in Deutschland, in einer ganz anderen Gesellschaft, in einem ganz anderen kulturellen Kontext und so weiter. Ein Monolog, der dann von einer einsamen Frau ausgeht. Solche Verflechtungen passieren automatisch, denke ich, Hauptsache, man fängt nicht ernsthaft an, wissenschaftliche Exkurse, Vorworte, Kommentare in literarische Texte einzubauen. Das mache ich nie, es wäre etwas öde. Auf der anderen Seite muss man natürlich, wenn man etwas schreibt, auch ein wenig darüber Bescheid wissen, was es in dieser Art schon gegeben hat, um das Rad nicht neu zu erfinden.

Wenn Sie zuerst Ihre Dissertation geschrieben haben, waren das ja sehr unpersönliche Texte und Lyrik hingegen ist etwas sehr Subjektives, Persönliches. Empfinden Sie das als eine gewissermaßen intime Entscheidung, nun Texte solcher Art zu schreiben?

Ich glaube, ich würde das gar nicht unterschreiben, dass wissenschaftliche Texte objektiv und literarische subjektiv sind. Ich habe zum Beispiel versucht, die Dissertation ein wenig literarisch zu schreiben, also so, dass man beim Lesen einigermaßen Spaß haben könnte. Und wir vergessen oft, dass in der Literaturwissenschaft vieles subjektiv ist. Schon allein die Frage, mit welchen Texten wir uns beschäftigen, hängt zusammen mit Geschmack, mit literarischer Sozialisation. Anstatt objektiv würde ich lieber von „intersubjektiv nachvollziehbar“ oder sowas sprechen. Für mich macht eher den Unterschied aus, dass man in wissenschaftlichen Texten über literarische Texte anderer Leute und in literarischen Texten vor allem seine literarischen Texte schreibt. Wobei man dann auch wiederum direkt oder indirekt über fremde Texte schreibt, und zwischen die Positionen „wissenschaftlicher Text“ und „literarischer Text“ können wir noch „Literaturkritik“ einschieben, die Literaturwissenschaft betreibt im besten Fall auch ein wenig Kritik, wenn nicht, denke ich manchmal, lohnt es sich nicht, Zeit und Steuergelder in die Interpretation schlechter Texte zu investieren.

Ich würde mit meiner nächsten Frage dort anschließen. Die Protagonistin der 153 Formen des Nichtseins schildert häufig eine Art Konkurrenzverhalten mit anderen Frauen. Da stellt sich mir die Frage: Wie würden Sie die Rolle von internalisierter Misogynie in Ihrem Buch beschreiben?

Das ist eine gute Frage! Ich glaube, sie passt zu beiden Romanen, dieses riesige Schlagwort Feminismus allerdings – sind es feministische Texte oder nicht – ist nicht wirklich eindeutig. Einmal wurde ich zu einer quasi feministischen Lesung eingeladen und habe dem Publikum offen gesagt, dass mein Buch wahrscheinlich nicht ihren Erwartungen entspricht. Ksenia in den Formen des Nichtseins hat massive Probleme mit Frauen, sie hat ein Problem mit ihrer Mutter, übernimmt viele Werte zu Körperlichkeit, Aussehen, Gewicht. In Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten hat Maria ein noch schwierigeres Verhältnis zu ihrer Mutter und sogar zu ihrer Tochter, ihren Sohn liebt sie offenbar mehr. Die beiden Erzählerinnen sind erstmal keine positiven Helden im klassischen Sinn. Sie zeigen uns nicht, wie man eine neue Gesellschaft aufbaut mithilfe von Frauen und weiblicher Solidarität. Das würde mit ihnen gar nicht funktionieren, ich glaube auch nicht, dass es in der Realität funktioniert, und mag keine Bücher, die so etwas versprechen. Ich denke aber, dass diese Erzählerinnen schon klug sind, sie versuchen ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen, fertige Ideologien, Slogans auf ihr Leben anzuwenden, um sich wieder davon zu distanzieren und keinen passenden Ersatz zu finden. Es gibt eine Stelle in den Formen des Nichtseins, wo Ksenia sagt, ,,Gewalt durch Text als gute Kunst, die weibliche bestünde darin, vor dem Spiegel zu erstarren, vor dem Spiegel zu wachsen, groß zu werden, das eigene Spiegelbild misstrauisch zu beobachten, leidende und heldenhafte Posen einzunehmen, sich selbst mit der Faust zu drohen.‘‘ In beiden Büchern spielt dieses Beobachtetwerden eine große Rolle. Es gibt ja die These, dass es Frauen gar nicht gibt als Geschlecht, dass, kulturell gesehen, nur ein Geschlecht existiert, das männliche, alles andere sind Spiegelungen, Gegenentwürfe, eine Frau ist dann alles, was ein Mann nicht sein will oder nicht zu sein braucht. Ich denke, das Weibliche ist auch schon eine Form des Nichtseins, man könnte in diesen Büchern die Perspektiven nicht mit männlichen ersetzen, das würde nicht funktionieren.

Vielen Dank! Unsere Anschlussfrage verknüpft das nun gut. Die beiden Protagonistinnen Ihrer Romane haben massive psychische Belastungen in ihrem Leben, benötigen beide Medikation und sind in Therapie. Ist das eine postpostmoderne Weise, die gesellschaftliche Situation abzubilden oder haben Sie noch weitere Gründe dafür, psychische Erkrankungen darzustellen? In welches Verhältnis setzen Sie Schamgefühl und psychische Belastung bei Frauen, gerade im Anbetracht dessen, dass Sie die Scham in der ersten Poetikvorlesung explizit angesprochen haben?

Das ist ein gutes Schlagwort, Scham ist auch sehr weiblich konnotiert, im Deutschen wird damit sogar das Geschlechtsorgan bezeichnet. Mit den Krankheiten ist es so eine Sache, auf einer Lesung neulich meinte der Moderator, die Erzählerin im Ullstein-Buch sei Alkoholikerin. Wir haben dann darüber diskutiert, er meinte, sie tränke ja schon morgens Wein, und ich meinte, warum sie denn nicht morgens trinken dürfe, aber abends. Bei dieser Lesung saß fast jeder im Saal mit einem Glas Wein in der Hand. Worauf ich hinaus will, es ist sehr relativ, ab wann wir etwas als Krankheit bezeichnen und bis wann etwas gesellschaftlich akzeptiert ist, abhängig von der Uhrzeit, der sozialen Situation, das ist eigentlich unsinnig, wenn es tatsächlich um die Regelmäßigkeit und die Menge des Alkohols gehen soll.
Psychische Erkrankungen sind auch so eine Sache, ich denke, man kann über die beiden Erzählerinnen nicht sagen, dass sie einfach nur in die Psychiatrie müssen, sich auskurieren, und dann wird alles wieder gut. Es sind Grenzmomente, Grenzsituationen bei den beiden, und es sind Figuren, die sensibel sind, ihre Umwelt genau wahrnehmen, sich oft schämen, zurückziehen, schnell überfordert sind. Solche Perspektiven sagen uns mehr über die Welt als die von Figuren, die ihre festen Ideologien haben und genau wissen, was sie tun und warum, sich selbst nicht in Frage stellen. Meinen Erzählerinnen geht es schlecht genug, um etwas zu sagen zu haben, würde es ihnen gut gehen, hätten sie nichts zu tun in einem Buch. Ich kenne sehr wenige Bücher, deren Erzähler glücklich sind, und wenn, dann liegt die Pointe gerade darin, dass es so selten und ungewöhnlich ist. Gleichzeitig sind die beiden aber auch nicht so sehr unnormal, dass wir uns nicht mehr mit ihnen auseinanderzusetzen brauchen. Sie sind den meisten Lesern doch ziemlich nah, denke ich. Die Sachen, die sie sagen, sagen wir vielleicht nicht laut im Alltag, aber wir denken sie uns sicher auch zum Teil, und indem es öffentlich wird, erscheint es uns möglicherweise merkwürdig. Natürlich sind die beiden etwas depressiv, aber trotzdem ernst zu nehmen.

Nun haben Sie bereits mehrere Veröffentlichungen vorzuweisen. Da stellt sich die Frage, ob es im Laufe Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit eine spürbare künstlerische Entwicklung gab, und falls ja, auf welche Faktoren und Erfahrungen Sie das zurückführen würden.

Ich hoffe, dass ich insgesamt besser schreibe mit der Zeit, weil ich mehr Vergleichsmöglichkeiten habe, sicherer geworden bin. Am Anfang braucht man oft viel Unterstützung, Menschen, deren Meinung man einholen will, und allmählich entwickelt sich die Selbstkritik und kann Rückmeldungen von außen teilweise ersetzen. Trotzdem bin ich bei jedem neuen Buch immer noch sehr unsicher. Gerade warte ich etwa auf eine Rückmeldung eines Verlags zu meinem nächsten Lyrikband, wenn der Verlag alles furchtbar finden sollte, wäre ich überhaupt nicht verwundert. Trotzdem bin ich nicht mehr so panisch wie früher und kann mich mehr auf das eigene Gefühl verlassen, dass auch das gut ist, was ich für gut finde, jede Absage macht mich fertig, aber nicht so sehr wie früher. Ich denke, jedes Buch und jeder Autor braucht seine Nische, und es gibt auch Kriterien und Gesetzmäßigkeiten, die nichts mit mir und auch nichts mit Literatur zu tun haben. Außerdem versuche ich jedes Mal etwas anderes auszuprobieren, bei den Formen des Nichtseins wurde das Ganzheitliche durch die vielen Kapitel aufgebrochen, in Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten wird der Monolog durch die Briefe aufgerissen, die ein realistisches Gespräch unmöglich machen. Auch in den Lyrikbänden geht es meist um ein Wir und ein Du und ein Ich, obwohl eigentlich nur dieses Ich präsent ist. Im nächsten Buch will ich wieder etwas anderes machen, zum Beispiel wird das Thema Literaturbetrieb immer wichtiger und emotionaler, weil ich seit einigen Jahren davon lebe. Im nächsten Lyrikband verwende ich zum Beispiel Zitate aus Verträgen oder von Preisverleihungen, „Von der Besuchsstatistik meiner Webseite / Leiten sich Jurysitzungen und Rezensionen ab“.

Würden Sie sagen, dass Sie Ihren Schreibstil über die Zeit bewusst verändert haben, um sich von der Konkurrenz abzuheben? Nutzen Sie literarische Strategien, die dazu beitragen, die Beliebtheit von Ihren Werken zu steigern?

Im besten Fall ist jedes Buch sowieso universell auf seine Weise. Ich kann nicht sagen, dass ich etwas bewusst mache, um mich von der Konkurrenz abzusetzen. Es passiert eher automatisch, indem ich merke, dass ich nicht in den Bereich der klassischen Romane und Erzählungen passe. Neulich war im Börsenblatt die Ankündigung eines neuen Berliner Verlages, „Mich interessieren Titel mit Plot und Humor, […] keine selbstverliebten Sprachspielereien“. Da war ich etwas geschockt darüber, wie diese Verlegerin alles Interessante in der Literatur ausschließt. Ich bin kein Romanschreiber und werde es wahrscheinlich nie, versuche mich also noch mehr davon abzusetzen, es vielleicht zu übertreiben, also es gar nicht erst mit Plot-Erzählungen versuchen, es gibt ja sowieso zu viele davon. Und ich bemühe mich, weiter zweigleisig zu fahren, mein nächstes Buch wird ein Lyrikband und danach soll wieder ein Roman kommen, meine Prosa ist lyrisch und die Lyrik vielleicht etwas prosaisch. Hinzu kommt, dass man im Literaturbetrieb oft Stellung beziehen muss wie jetzt zum Beispiel zum Thema Israel ‒ auf einmal werden Hamas-Terroristen gefeiert ‒ oder es gab neulich einen Zeitungsartikel von zwei Autorinnen, die über Juryarbeit geschrieben haben und von einigen Literaturkritikern wiederum als Nestbeschmutzer dargestellt wurden. Es geht uns alle an, ob wir darüber reden dürfen, was in Jurysitzungen passiert, und es ist prinzipiell wichtig, denke ich, Position zu beziehen. Auf diese Weise bilden sich kleine Kollektive von Literaten, die ähnliche Ansichten haben von Richtig und Falsch, Gut und Böse. Mit anderen wiederum zerstreitet man sich oder will nichts mit ihnen zu tun haben, das ist vielleicht auch eine Form der Abgrenzung, was den Betrieb angeht, meist eher zum eigenen Nachteil.

Sie hatten eben schon darauf hingewiesen, dass Erzählfiguren oft Ähnlichkeiten miteinander haben und sensible Menschen sind. Vielleicht ist gerade deswegen ja auch das Gefühl des Nichtseins etwas, das in der Literatur sehr oft vorkommt. Zum Beispiel erinnern die 153 Formen des Nichtseins hierin an Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oder an Musils Mann ohne Eigenschaften. Inwiefern gab es neben Dostojewski noch andere konkrete Texte, die Sie inspiriert haben und auf die Sie verweisen?

Beide Texte habe ich, ehrlich gesagt, nicht gelesen, obwohl schon einige Freunde gesagt haben, dass sie in eine ähnliche Richtung gehen. Dostoevskij war ein Bezugspunkt und natürlich auch zeitgenössische Autoren, die ich lese. Oft passiert das nicht bewusst, man weiß oft nicht genau, woher was kommt, sich wiederholende Motive oder stilistische Besonderheiten. Es ist gut, denke ich, während des Schreibens nicht zu viele andere Texte zu lesen, weil sich das sonst auf unschöne Weise als Plagiat vermischen kann. Aber es gibt auch viele andere Texte, die eingehen, alles kann Literatur sein, Ebay Kleinanzeigen genauso wie Auszüge aus dem Alten Testament. Auch die Auswandererbriefe in Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten wurden so gut wie nicht verändert, ich habe sie etwas kosmetisch angeglichen, aber sie enthalten weiterhin Fehler, manche Sätze versteht man kaum, auch das ist Literatur auf eine Art, wenn etwas aus seinem pragmatischen Kontext herausgenommen wird und in einen in erster Linie zwecklosen eingesetzt. Es gibt den Text und wir freuen uns daran, wie er ist, ohne seine ursprüngliche Funktion. Auch Werbeslogans kommen in jedem Buch vor, Werbung ist Kunst, wenn sie nicht mehr dazu verleitet, etwas zu kaufen, es sind oft gut gemachte Texte. Vielleicht kann man auch weniger von literarischen Zusammenhängen sprechen als von textuellen, wir sind umgeben von lauter Texten, lesen von morgens bis abends, selbst wenn wir uns Chatnachrichten schreiben, sind es Gedichte auf eine Art.

In der ersten Poetikvorlesung haben Sie unter anderem darüber geredet, dass es schön wäre, wenn Autoren und Autorinnen einen sicheren Lohn hätten. Viele Autoren und Autorinnen in der Geschichte haben ja zum Teil unter sehr prekären Bedingungen gelebt wie zum Beispiel Musil. Freud prägte unter anderem hierzu den Begriff der Sublimation, sprich, dass die schwierigen Erfahrungen, die bei den Autoren ja unterschiedlich ausgeprägt waren, für das Kunstschaffen anregend und durchaus essenziell waren. Wie sehen Sie diese Verbindung, oder provokant gefragt: Muss ein Autor nicht in gewissem Sinne leiden, um gut zu schreiben?

Die Sublimierung bei Freud war, glaube ich, nicht unbedingt finanzieller Art, da müssen wir anders anfangen. Ich glaube nicht, dass Autoren enthaltsam leben müssen, um zu schreiben. Das Prekäre und die Armut sind nicht der Grund, sondern meist die Folge davon, dass man Literatur macht. Der arme Poet ist ein Mythos, nach dem Motto, wenn der Autor in seiner Dachkammer leidet, schafft er irgendwas für die Nachwelt. Einerseits ist es wahrscheinlich schon so, dass man Kunst auch macht, weil sie einem hilft, und wenn die Welt sowieso wunderbar wäre, bräuchte man Kunst vielleicht gar nicht. Aber konkret auf das Autobiografische bezogen ist es schwierig. Dieser Logik nach müsste man bei der Ausschreibung jedes Residenzstipendiums darauf achten, es undotiert zu lassen, damit der Autor auch wirklich auf keinen Fall auf den Gedanken kommt, sich zu entspannen. Dann soll er am besten auch auf einem harten Holzstuhl schreiben, damit er Rückenschmerzen bekommt, und im Bad soll es genug Schimmel geben, das wird dann ja sehr schnell hässlich. Wenn der Dichter nun die ganze Zeit genervt ist und wütend und traurig und Schmerzen hat, wird er nicht zwangsläufig gute Texte schreiben, ich denke, man kann es schon den Autoren selbst überlassen, ob sie leiden wollen. Wenn jemand Lust hat auf Leiden, kann er sich das ja selbst organisieren und seinen bequemen Bürostuhl wegwerfen. Und es wird schnell perfide, wenn ich ein Künstlerhaus leite mit gutem Gehalt und Lebensstandard und meine Gäste wie Parasiten behandle, von den Machtverhältnissen her. Ich persönlich bin sehr dafür, dass es mir gut geht. Vielleicht lässt sich ja statistisch beweisen, dass Autoren, die jung sterben, am besten schreiben, sollten sich denn alle also früh genug umbringen ‒ von Literaturprofessoren, Literaturkritikern usw. würde man das nie erwarten.

Wenn wir schon bei literarischen Zusammenhängen waren und Inspiration und Autoren: Warum haben Sie Dostojewski als Vorbild gewählt? Was inspiriert Sie an seinen Texten?

Ich würde vielleicht nicht sagen, dass ich ihn als Vorbild gewählt habe, quasi der große Dostoevskij und ich renne hinterher und versuche seine Ideen der heutigen Leserschaft nahezubringen oder in der Art. Aber er ist schon einer der Autoren, die ich einfach mag, und er hat diese Polyphonie eingeführt, mir gefällt es sehr, dass er jede seiner Figuren ausreden lässt. Alle werden ernstgenommen, es ergeben sich ständige Aushandlungen und am Ende kann jeder nur für sich höchstens eine kleine Wahrheit formulieren. Und auch das Spiel mit verschiedenen Registern, das mache ich auch gern, vermische Popelemente, Markennamen mit Hochsprache. Bei Dostoevskij werden zum Beispiel religiöse tiefsinnige Diskussionen mit Detektivsujets kombiniert, mit Elementen von Groschenromanen. Im Russischen muss man sich oft entscheiden zwischen Dostojevskij und Tolstoj, bei Tolstoj ist die große Erkenntnis am Ende, die Erleuchtung und Auferstehung, und Auserwählte kommen Gott nah ‒ bei Dostoevskij gibt es das Ganze nicht, keine endgültig glücklichen Figuren. Und seine Bücher sind auch witzig, es gibt die ernsten Themen, die aber leicht verhandelt werden können, auch Tod und Selbstmord können sehr heiter sein.

In der ersten Poetikvorlesung haben Sie den hart umkämpften Literaturbetrieb beschrieben und auch die damit verknüpften Ungerechtigkeiten. Das könnte ja viele angehende Schriftsteller und Schriftstellerinnen entmutigen diesen Weg einzuschlagen. Deswegen stellt sich mir die Frage, welche positiven Seiten birgt denn die Branche Ihrer Meinung nach? Mit welchen Argumenten würden Sie heutzutage angehende Schriftsteller und Schriftstellerinnen überzeugen, dennoch diesen Weg einzuschlagen?

Ja, über die schönen Seiten werden wir ein wenig in der zweiten Poetikvorlesung[1] reden. Da wäre beispielsweise, dass ein Buch nie in völliger Einsamkeit und Isolation entsteht, an jedem Buch sind viele Menschen beteiligt. Damit meine ich gar nicht kollektives Schreiben oder sowas, selbst wenn man als alleiniger Autor mit seinem Namen auf dem Cover steht, ist jedes Buch das Produkt von Zusammenarbeit. Und es gibt natürlich auch Solidaritäten und schöne Dinge, ich bin froh darüber, einige Autoren zu kennen und mit ihnen befreundet zu sein, sodass wir miteinander reden können und so etwas wie Zusammenhalt verspüren. Ganz allein wird man auf jeden Fall nicht überleben.
Zum Thema Ermutigung, die würde ich, glaube ich, gar nicht vom Betrieb abhängig machen, sondern würde die Frage stellen ‒ denke ich, dass das, was ich schreibe oder schreiben will, wirklich sehr wichtig ist? Denke ich, dass die Welt untergehen wird, wenn dieses Buch von mir nicht erscheint? Und wenn die Antwort Ja lautet, hat man keine andere Wahl. Es klingt etwas pathetisch, aber ein gutes Buch sollte man nicht dem Literaturbetrieb opfern. Es gibt theoretisch Optionen, man kann einen anderen Beruf zum Geldverdienen haben, sich nicht aktiv am Betrieb beteiligen, das machen ja einige, das muss jeder für sich entscheiden. An sich gibt es schon genug Autoren, es wird zu viel publiziert, und wenn man nicht selbst diese tiefe Motivation mitbringt, wird es niemand sonst für einen machen, kein Verleger kommt und versucht einen zu überzeugen, dass man doch bitte unbedingt den Text zu Ende schreibt.

Und welche Ratschläge würden Sie angehenden Schriftstellern und Schriftstellerinnen mit auf den Weg geben, basierend auf Ihren eigenen Anfängen, Fehlern und Erkenntnissen? Was hätten Sie vielleicht gerne selbst früher gewusst, als Sie angefangen hatten?

Einmal vielleicht wirklich, sich Gleichgesinnte zu suchen, es muss Kollegen geben, mit denen man nicht allein ist mit seinen Unsicherheiten und Problemen im Betrieb. Dafür ist es wiederum gut, wenn man auch teilnimmt an Veranstaltungen, Projekten, einfach um Kollegen kennenlernen oder einschätzen zu können.
Darüber hinaus würde ich, ehrlich gesagt, dazu raten, keine Workshops zu machen und so wenig Lehraufträge wie möglich, weil es Zeitfresser sind, wenn man sie gewissenhaft vorbereitet, meist kommt auch wenig Geld dabei heraus. Manchmal braucht man Lehrerfahrung, wenn man sich für Stellen an Hochschulen bewirbt, aber man kann nicht immer alles gleichzeitig machen.
Außerdem vielleicht noch, Absagen nicht zu nah an sich heranzulassen, sich nicht zu sehr enttäuschen zu lassen. Das funktioniert meist nicht richtig, weil so viel auf der Karte steht, trotzdem ist es wichtig, für sich kleine Kontexte zu schaffen, in denen es nicht um Arbeit geht, selbst wenn man sich eine Stunde Zeit nimmt und Pflanzen umtopft oder sich die Nägel lackiert oder irgendwas Zweckloses in der Art. Ich habe eher die Tendenz, alles, was ich mache, mit Texten oder einem nützlichen Vitaeintrag zu verbinden, Filme schaue ich mit einem Notizblock in der Hand, das ist ein Stressfaktor. Gut ist auch, Menschen um sich zu haben, die nicht aus dem Literaturbetrieb kommen und andere, nicht weniger wichtige Berufe lieben, oder Menschen zu kennen, die nicht mal Bücher lesen und trotzdem zufrieden sind mit ihrem Leben. 
Und parallel zu den Prioritäten ‒ versuchen Sie, alles Sinnvolle mitzunehmen, was geht! Etwa Möglichkeiten, an Seminaren oder Weiterbildungen teilzunehmen, die Sie interessieren, schreiben Sie für Unizeitungen, nehmen Sie teil an Autorentreffen, nutzen Sie alle Chancen, die sich ergeben. Am Anfang investiert man viel mehr als herauskommt, und allmählich gleicht sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis aus. Und wiederum ist es hilfreich, sich dabei kleine Pausen zu gönnen, manchmal auch einfach keine Lust auf etwas haben. Ich habe im Studium viel mehr gemacht, als gefordert war, aber ich genoss auch sehr die Möglichkeit, eine Vorlesung einfach so zu schwänzen.

Danke für Ihre Antwort. Wenn Sie Ihre eigene Arbeit und Methoden kritisch reflektieren müssten, wo erkennen Sie bei sich selbst noch Verbesserungspotenzial, in Hinblick auf Ihren Schreibstil, Ihren Schaffungsprozess sowie auch im Umgang mit den Herausforderungen des Literaturbetriebs?

Sie könnten mir zum Beispiel sagen, was ich in der nächsten Vorlesung besser machen soll im Vergleich zur letzten. Ich weiß auf jeden Fall, dass ich weniger reden werde, damit wir noch Zeit haben für die Diskussion. Verbesserungspotenzial vom Betrieb her, wie gesagt, dass ich öfter Nein sagen und vielleicht etwas positiver denken sollte. Ich schätze meine Lage oft als katastrophal ein und denke, dass alles zusammenbrechen wird, wenn nicht genau das und das passiert. Gerade herrscht bei mir mit dem nächsten Lyrikband wieder so eine Untergangsstimmung, was soll ich machen, denke ich die ganze Zeit, wenn wieder eine Absage kommt, braucht überhaupt jemand diese Texte außer mir. 
Zum Literarischen kann ich nicht direkt sagen, dass es etwas zum Verbessern gibt, eher vielleicht, was ich gern ausprobieren würde. Etwas Dramatischeres zum Beispiel, im Sinne, dass verschiedene Figuren miteinander ins Gespräch kommen, als richtiger direkter Dialog.
Sonst weiß ich meist, wo meine Schwachstellen sind. Im Deutschen fällt es mir schwer, richtige Präpositionen zu verwenden, bei der letzten Vorlesung habe ich, glaube ich, wieder gesagt, „dass man im Literaturbetrieb auf der finanziellen Abhängigkeit der Autoren spekuliert“, richtig wäre „auf die finanzielle Abhängigkeit“. Ich habe in beiden Sprachen quasi einen leichten Akzent, übertrage grammatische Regeln oder Phraseologismen vom Russischen ins Deutsche und umgekehrt. Obwohl ich genauer darauf achten müsste, was ich sage, wenn es dann in einem Interview wie jetzt aufgezeichnet wird.
An sich bin ich, glaube ich, eigentlich ganz zufrieden, ich möchte nur weiterhin und mehr Möglichkeiten haben, es geht dann eher um Geld und Zeit und sowas, und das andere werde ich, glaube ich, schon irgendwie selber hinkriegen.

Und wie gehen Sie mit konstruktiver oder auch mit nicht konstruktiver Kritik um? Wie beeinflusst Sie das?

Da werden wir uns in der nächsten Vorlesung auch Beispiele anschauen. Konstruktive Kritik ist natürlich sehr gut und wichtig, denn es gibt nichts, was man nicht auf irgendeine Weise verbessern könnte. Es ist unangenehm, kritisiert, berichtigt zu werden, aber wenn es darum geht, dass ein Text besser wird, geht es nicht anders. Ich glaube auch nicht an Texte, die schon im Stadium des ersten Entwurfs veröffentlich werden können. Neulich bei einer Anthologie hat die Lektorin zum Beispiel nicht verstanden, warum ich das Jüdischsein immer als Nationalität voraussetze, und erst dann habe ich überhaupt bemerkt, dass es etwas Russisches oder Postsowjetisches ist, eine Selbstverständlichkeit, die es im Deutschen gar nicht gibt, und eine kurze Erklärung dazu geschrieben.
Manchmal wird man im Lektorat gezwungen, seine Meinung ausführlich zu begründen, was nicht schaden kann, manchmal muss man auch Kompromisse eingehen, dazu werde ich morgen ein paar gestrichene Stellen zeigen. Es gibt auch Kritik, die unter dem Niveau ist, zu den Formen des Nichtseins hat mal jemand über meine persönliche Unfähigkeit zum Unglücklichsein geschrieben, die ich mit der Erzählerin teile, sowas geht nicht, funktioniert auch inhaltlich nicht, das versuche ich zu ignorieren, poste etwas dazu oder mache wiederum Texte daraus. Diese Passage mit dem Unglücklichsein steht jetzt im Ullstein-Buch, als Teil einer Rezension angeführt wiederum zu einem Buch, das die Erzählerin übersetzt hat. Oder umgekehrt, Kommentare im Lektorat, die sprachlich dann dermaßen interessant sind, dass man sie wieder als Literatur verwerten kann.

Dann noch eine etwas persönlichere Frage: Uns hat es erstaunt, dass Sie im Rahmen der Poetikvorlesung gesagt haben, dass Sie Autofiktion ablehnen. Somit würden wir Sie fragen: Hat die Tatsache, dass Sie nicht auf autobiografische Fragen antworten auch eine Schutzfunktion für Sie?

Es ist vielmehr die Frage ‒ was bringt uns dieser Begriff, was ist der klare Unterschied zwischen Autofiktion und Autobiografie? Aus meiner Sicht ist es höchstens eine kokette Haltung und bei meinen Texten im Schnittbereich Lyrik und Prosa kommt man, glaube oder hoffe ich, mit dieser klassischen Fiktion nicht voran. Ich habe bei Lesungen immer, wenn die Frage nach dem Autofiktionalen kommt, einen kleinen Vortrag parat und erzähle immer das Gleiche, ich denke, es ist einfach eine Rückbesinnung auf die gute alte Zeit vor der modernen Literaturwissenschaft, als man den Autor noch wertgeschätzt hat und seine Meinung geachtet. Wir sind verwöhnt dadurch, dass wir in jedem Supermarkt alles nach Belieben kaufen können, deshalb versuchen wir diese Freiheit künstlich einzuschränken, gehen in den Bio-Supermarkt, wo Sachen angeblich wie früher, unter Beachtung von Mondphasen, hergestellt wurden. Wir haben die Auswahlmöglichkeiten satt, gehen freiwillig zurück ins Mittelalter und erfreuen uns wieder am Alten und Bewährten, ähnlich mit der Autofiktion. Wir wollen nicht mehr über Strukturen reden, uns ernsthaft mit Texten als künstlerischen Ereignissen auseinandersetzen, das haben wir fast hundert Jahre lang gemacht, also gehen wir lieber zurück und sagen, „Ja, aber die Realität und der Autor“, „Das ist doch alles sehr persönlich“, „Das wird nah am Leben geschrieben“. Ohne das Versprechen eines wahren Kerns, scheint es, brauchen wir kein Buch zu lesen, können auch einfach Netflix schauen oder joggen gehen. Hinter diesem Begriff steckt, denke ich, eine traurige Frage ‒ Warum sollten wir uns das antun, einen Text zu lesen, dessen Autor nicht mal den Anspruch erhebt, direkt mit der Realität verbunden zu sein? Und es steckt auch Voyeurismus dahinter, wir wollen etwas über den Text hinaus herausfinden, selbst wenn wir ihn gar nicht oder nicht aufmerksam gelesen haben. Wenn es aufgeht, zeigt der Autor einem Sachen, die man normalerweise nicht zu sehen bekommt, wie ein Mann im Park, der auf einmal den Mantel aufreißt, an sich ist an dem, was er da zeigt, nichts interessant, und wenn alle so dastehen mit ihren Mänteln, sehe ich nicht, worin der Spaß bestehen soll.
Bringt es Ihnen irgendwas, wenn sie mit Autofiktionalität arbeiten? Ich könnte Ihnen zum Beispiel sagen, dass jede Form des Nichtseins auf meinem persönlichen Leben beruht und ich jeden Satz als reale Aussage bezeugen kann oder dergleichen. Oder das alle E-Mails und Tagebuchausschnitte wirklich eins zu eins von mir produziert wurden als nichtliterarische Texte ‒ oder von einer Bekannten von mir, die das bestätigen kann. Ich könnte Ihnen aber auch sagen, dass ich zum Beispiel gar keine Kinder und trotzdem ein Buch über Mutterschaft geschrieben habe. Ich könnte sagen, dass ich fünf Kinder habe und meine komplizierten Erfahrungen mit Ihnen teilen wollte. Ich könnte Ihnen sagen, dass alle meine Vorfahren Juden sind, alles belegt durch Synagogenbescheinigungen. Ebenso wie ich Ihnen sagen könnte, dass alle meine Vorfahren Australier sind und ich als Kind von einer russischen Familie adoptiert wurde. Macht es ein Unterschied für Sie, was ich Ihnen erzähle?

Interviewer 1: Also ich denke, dass es einem Ideen zu Kontexten liefert, in die man den Text sinnvoll stellen kann. Und dass man, wenn man solche Hintergrundinformationen hat, angelegt ist, bestimmte Kontexte eher heranzuziehen als andere.

Interviewer 2: Ich weiß gar nicht ob dieser autobiografische Aspekt literaturwissenschaftlich ist oder ob er nicht mehr für die breite Masse existiert, damit Sie als Sprecherfigur letztlich dienen für verschiedene Themenbereiche, weil Sie von Erfahrungen berichten und Sie legitimiert dadurch sind, dass Sie diese selbst gemacht haben. Und ich glaube tatsächlich, dass das vielmehr der Grund ist, warum dieser Trend mit der Autofiktion/Autobiographie wieder aufkommt.

Ja, das denke ich auch. Dieser Begriff, er bedient beide Bereiche, einerseits die große allgemeine Leserschaft, das Publikum, und andererseits wird er ja tatsächlich in Germanistikseminaren verwendet. Das ist das Seltsame daran.

Interviewer 3: Also mir hilft es immer beim Studium, diese Fragen zu stellen, wie das Leben vom Autor aussah, denn wenn wir Texte interpretieren, ist es ja nicht so, dass jede Interpretation angenommen wird von den Dozenten, sondern es gibt falsche Interpretationen, woraufhin auch eine Seminararbeit schlecht benotet wird. Ich persönlich fühle mich immer sicherer, wenn ich etwas vom Autor weiß und ihn gleichsetze mit dem Erzähler, wenn auch entfernt, sodass das meine These stützt und sie nicht als falsch angesehen werden könnte.

Okay, das heißt, Sie übernehmen die Kriterien der Dozenten.

Interviewer 3: Ja, ich merke auch selbst, wenn ich im Garten ein Buch lese, habe ich das gar nicht im Hinterkopf oder das Bedürfnis danach. Nur in der Uni, wenn das dann genehmigt und beurteilt wird.

Also Sie überlegen, welches Argument aus der Sicht des Dozenten falsch wäre? Aus einer Unsicherheit heraus? An sich gibt es ja keine falsche Interpretation wie auch keine falschen Texte. Es gibt nur welche, die schlecht sind und halt nicht „intersubjektiv nachvollziehbar“ geschrieben. Aber richtig und falsch, glaube ich, sind in der Literaturwissenschaft keine Wertungskriterien.

Interviewer 1: Ich kann mir auch vorstellen, dass es einfach so eine Art Klatschbedürfnis gibt.

Ja, schon, aber wenn wir in der Hinsicht etwas gebildeter sind als die große Masse, dann wissen wir wiederum, dass es Unfug ist, oder versuchen zumindest, Klatsch und Tratsch nicht in Moderationen einzubauen. Und sogar bei Unterhaltungsliteratur wird nicht erwartet, dass die Autoren von Die Wanderhure tatsächlich Wanderhuren sind oder dass die Autorin von Fifty Shades of Grey eine junge schöne Studentin ist. Komischerweise braucht es gerade bei literarischen Texten dann doch dieses Voyeuristische.

Interviewer 1: Nun, ich gehe eben davon aus, dass, wenn jemand ein Satz auf ein Blatt Papier schreibt, dieser Satz vorher durch seinen Kopf gegangen sein muss und dass es dafür einen Grund gibt. Und an diesem Grund hat man eine Ursprungsinteresse. So würde ich das beschreiben.

Genau, alles, was man schreibt, ist schon durch den eigenen Kopf gegangen, aber das kann ja auch durch den Kopf gehen, weil man das irgendwo gehört hat, von irgendeiner anderen Person, oder weil man gesehen hat, was mit anderen passiert ist, also in einem ganz anderen Zusammenhang mitbekommen und nochmal verändert und in einen anderen Kontext gesetzt und so weiter. Man könnte auch sagen, jeder Text ist autobiografisch, also wirklich jeder, auch ein Kassenzettel, und deshalb ist es völlig egal und auch sinnlos, diesen Unterschied zwischen Fiktionalität und Autofiktionalität zu machen. Alles war im Gehirn präsent, aber die Ursprünge davon kennen wir nicht, und ich glaube, dass das, was herauskommt als Text, viel interessanter ist als die Frage, wie es hineinkam. 
Ich weiß nicht, ob ich Sie überzeugt habe. Man könnte damit vielleicht Experimente machen, einmal sagt der Autor bei einem online-Interview wie jetzt, „Sehen Sie diese Tür hinter mir? Ich bin eingesperrt in einem Bunker und werde stets von einem Bösewicht gezwungen, Romane zu schreiben“, oder, „Das ist übrigens mein Keller in München, hier schreibe ich meine Bücher, dann gehe ich wieder nach oben und führe ein Buchhalterleben unter falschem Namen“, man könnte sich eigentlich alles ausdenken und schauen, ob die Leute das ernstnehmen und wie es sich auswirkt auf die Interpretation. Zum Beispiel auf Ihre Seminararbeiten. Das machen Autoren auch zum Teil, indem sie sich auf Social Media inszenieren, irgendwas Exotisches und Interessantes von sich zeigen.

Interviewer 1: Herr Wolfinger hat uns vor dem Seminar gesagt, dass alle Aussagen, die Sie hier treffen, auch als Text zu betrachten sind. Aber wo zieht man dann diese Grenze? Jetzt gerade sind sie ja sozusagen die Erzählerin Ihrer selbst.

Also das würde ich nicht sagen, weil man dann einen Autor zum endlosen Produzenten von Literatur macht. Beziehungsweise zu einem Automaten, egal was er macht, es ist alles Kunst, das ist schon merkwürdig. Man könnte ja auch das Gleiche über Sie sagen, alles, was Sie gerade äußern, ist ein Ausdruck von Literaturwissenschaft. Und wenn Sie jetzt zum Mittagessen gehen, werden Sie darüber in literaturwissenschaftlichen Termini nachdenken, und dieses Mittagessen wird in Ihre Seminararbeit eingehen. Vielleicht stimmt es ja auch irgendwo, aber welchen Sinn macht es, darüber zu sprechen.

Interviewer 1: Es hat zumindest etwas sehr Bedrängendes.

Ja, dann werden wir produzierende Automaten, und es gibt ja auch andere Berufe, es muss nicht immer um Texte gehen, ich denke, dass Bäcker, wenn sie ab und zu zuhause backen, nicht das Gleiche tun wie in der Fabrik, und vielleicht backen sie gar nicht zuhause und haben es auch nicht vor, mir fällt gerade kein passender Vergleich ein. Das ist in der Kunst verbreitet, diese Vorstellung vom Leben als Gesamtkunstwerk, ich fand es immer unheimlich. Und, wie gesagt, das funktioniert nur so lange, bis sich die Autoren zu Wort melden, dass sie auch normale Menschen sind, dass sie familienfreundliche Stipendien brauchen, höhere Dotierungen und so weiter. Dann bleibt man lieber bei diesem schönen Abstrakten. Also wenn Sie mir vorher erklärt hätten, dass alles, was ich hier sage, zum Gesamtwerk gehört, dann würde ich vorsichtshalber gar nichts sagen, mit diesem Anspruch bin ich nicht einverstanden!

[1] Gemeint ist die zweite Poetikvorlesung am 23.05.2024 unter dem Titel „Das kollaborative Buch“ im Veranstaltungsraum des Philologicums der LMU München (Ludwigstraße 25, 80539 München).

Das Observationsverhör wurde am 22. Mai 2024 geführt. Das Gespräch führten Laura Bosl, Melina Exinger, Nesia Murariu und Lena Wittland.

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