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08.11.2024, 12:33 Uhr
Sophia Merwald
Rezensionen

Besprechung des Romans „Die Welt wartet“ von Christiane Neudecker

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(c) Luchterhand Verlag

Christiane Neudecker versammelt in ihrem neuen Buch Die Welt wartet sieben Gothic-Novel-Miniaturen, die einen unheimlichen Sog entwickeln. Eine spiegelverkehrte Welt, ein ungeheuerlicher Nebel, ein Dirigent, dem die Pauken bedrohliche Worte zuraunen: Neudeckers Vokabular des Grauens scheint unerschöpflich.

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Es braucht nur einen kurzen Glitch-Moment in der Realität und auf einmal steht die Welt Kopf: Was ist echt? Was ist künstlich? Sind wir noch in Andalusien, wie zuerst angekündigt, oder betreten wir durch diese Geheimtür ein anderes Land, gar eine andere Welt? Was ist das für ein Schwellenraum, in dem das „Institut für Künstliche Realität und Lebensforschung“ agiert? Wie dicht muss der Nebel am Chiemsee sein, dass er einen komplett verschluckt? Kann man von einem Schwimmbad auf das offene Meer hinausschwimmen? Von Chlor zu Salzwasser in wenigen Zügen, Sätzen, Seiten – ist das möglich?

Christiane Neudecker lässt es Wirklichkeit werden. Es ist eine Wirklichkeit, die beklemmt, aus der es kein Entkommen gibt. In diesen Erzählungen wartet die Welt nicht. Im Gegenteil, es ist eine trügerische Welt, eine mit Hintertür. Sie überfällt uns und nimmt uns all das Heimelige, in dem wir uns eingerichtet haben; das Vertrauen in geläufige Umgebungen, ihre Funktionsweisen und Ordnungen. Auf den ersten Seiten einer jeden Geschichte wirken die beschriebenen Welten bekannt, bis sie sich innerhalb weniger Sätze in alptraumhafte Szenarien verwandeln. Im Verschwimmen der Welten ergeben sich immer wieder unheimliche Ruhepole. Mal haben sie „eine Dunkelheit angenommen, die alle Farben zu schlucken scheint“, mal gleißt „das Licht der Neonröhren ... in die Netzhaut“.

Unter diesen Neonröhren liegt die Ich-Erzählerin der titelgebenden Erzählung „Die Welt wartet“. Durch eine Geheimtür ist sie in das „Institut für Künstliche Realität und Lebensforschung“ gelangt. Sie ist Schriftstellerin und lebt in der Villa eines ominösen Dons, dem sie den ersten Satz ihres nächsten Buches vermachen soll. So will es der Vertrag, den sie unterschrieben hat. Doch was hat der Don mit ihrem ersten Satz vor und was hat Künstliche Intelligenz damit zu tun? Wie kann sie sich selbst und ihre Kreativität vor den Machenschaften des Instituts schützen? Sie muss einen Weg finden, „den Vertrag zu erfüllen, ohne ihn zu erfüllen“...

Vielleicht lässt sich die Beziehung der Lesenden zu diesem Buch auch als eine Art Vertrag beschreiben. Diesem Vertrag stimmen wir mit den ersten gelesenen Worten jeder Erzählung neu zu. Es ist ein gewagter Lesevertrag, der das Rätsel zum Gegenstand hat. Ein Rätsel, das am Ende hoffentlich aufgelöst wird. Wir versprechen Seite für Seite: Wir bleiben dran, wir lesen weiter, aber wir wollen den Schlüssel. Die Geschichte verspricht zwischen den Zeilen: Ich halte euch oben, über der Realität, und was ihr hier findet, ist meine Wirklichkeit. Wir müssen mit diesen fantasievollen Höhen und Tiefen schwingen und wir tun es, weil wir wieder landen wollen. 

An einer Stelle fällt die Frage: „Wie lange kann man so liegen, so schwerelos im All?“. Die Antwort ist klar: So lange, wie diese Geschichten in einem treiben. Solange man die Sicherheit behält, dass es schon irgendwo hinausgeht, in den Nebel oder ins Meer. So lange kann man gleiten durch die Welten, ohne zu wissen, wann man wieder festen Boden unter den Füßen spürt.

Was wir glauben, über Texte und Welten zu wissen, hat oft damit zu tun, was wir in sie hineinlesen. Wir fallen über das Geschriebene auf uns selbst zurück und suchen nach Bedeutung. Diese Gothic-Novel-Miniaturen dagegen liefern uns ihr Wissen wie ein Geheimnis. Wir bekommen es nur häppchenweise. Erst wenn wir schon in ihnen verfangen sind, werden wir belohnt. Wir sind gezwungen, jedes Wort wie einen Stein umzudrehen, nachzusehen, in welchem doppelwandigen Schrank oder auf welcher Erde es versteckt liegt. In Spanien, den USA, Deutschland, Italien oder irgendwo im weiten Universum? 

Helle Schatten

In den Erzählungen stehen die Lesenden allein oder gemeinsam mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten vor einem Rätsel. Sei es der Schauspieler Adrian in Für immer und nie, der sich nach einer durchzechten Nacht kaum mehr selbst erkennt. Mal wirkt er fürchterlich gealtert, dann wieder jung und attraktiv. Er beginnt sich langsam zu erinnern: In der Nacht hat er einen Pakt mit einem Engel geschlossen. Kann der moderne Dorian Gray die Oberhand über sein Äußeres zurückgewinnen? In „Totläuferin“ bangen wir mit einer Doktorandin um ihr Leben. Sie ist mit einem lebensgefährlichen Virus infiziert und kann nur genesen, wenn sie es mit einem „Todeskuss“ auf andere überträgt. Für welches Schicksal wird sie sich entscheiden?

Diese Welten, die Neudecker hier kreiert, liegen nicht in Scherben. Sie liegen in Rätseln. Die Lust am Rätseln ist Teil des Vertrags. Wer sich ihr verwehrt, erhält auch keinen Zugriff auf die Schätze an ihrem Grund. Wer sich festgebissen hat, wird überall nach Hinweisen suchen, um das Eigentümliche dieser Texte zu entschlüsseln.

Das Buch zappelt in meinen Händen. Ich schließe es, wende es, will es gar nicht wieder öffnen. Ich lese noch einmal den Klappentext, um mich zu versichern. Ja, es ist nur ein Buch. Es ist nicht die Welt. Ich wage mich hinein, erneut. Und schon wieder verschwimmen die Worte zu einem Rätsel. Ist dieses Ding, das hier aus der Ich-Perspektive spricht, eine Maschine, der menschliches Verhalten antrainiert wurde? Oder ist es ein Spiegel? Ich lese weiter und erfahre, das Ding hat einen Meister. Es ist schlauer als die Menschen, die auf es blicken. Oh, es hinterlässt einen „hellen Schatten“ an der Wand, wenn es abgehängt wird. Es geht um ein Gemälde, das ist es! Das Gemälde verschreckt seine Käuferin, nur um zu seinem Meister und Erschaffer zurückkehren zu können. Wie schön wäre das, wenn Künstler und Kunst tatsächlich eine stille Übereinkunft treffen, immer füreinander da zu sein? 

Vielleicht macht das den Reiz von Neudeckers Texten aus. Ich könnte wieder und wieder wie das Gemälde selbst ein „Bumerang“ sein, von diesem Wort zu jenem fliegen und würde überall neue Hinweise finden. Solche, die mich am Lesen halten und nicht durchfallen lassen. Oder ich könnte, wenn ich müde würde, das Buch zur Seite stellen, denn es ist nur ein Buch und es wartet. Auf mich und auf die Welten.

 

Christiane Neudecker: Die Welt wartet. Unheimliche Geschichten. Luchterhand Literaturverlag, München 2024, 255 S., ISBN 978-3-630-87758-7, € 22,00

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