Die literarische Kafka-Matinee der Münchner Kammerspiele
„Kafka 2024“, das ganzjährige, weltumspannende Kulturfestival zum 100. Todestag der Autorenikone Franz Kafka geht allmählich zu Ende. Die Münchner Kammerspiele geben aus diesem Anlass gemeinsam mit dem Kulturreferat am 6.10.2024 eine literarische Kafka-Matinee. Angelika Rösser vom „Team Literatur“ des Kulturreferats moderiert die Podiumsdiskussion, zu der drei mehrfach ausgezeichnete Münchner Schreibende, Lena Gorelik, Jonas Lüscher und Uwe Timm, ihren Blick auf das Werk des Jahrhundertautors einem Vergleich unterziehen. Dr. Ursula Wiest ist für das Literaturportal Bayern vor Ort.
*
Früh verletzt. Brutalisiert. Wurzellos. Verlorener, unsteter als manch anderer seiner Kollegen der übers Meer fahrenden Profession. So muss jener eine Seemann gewesen sein, der irgendwann um 1870 im Laufe einer Verschiffung exotischer Tiere von Asien und Afrika ins Tierhandelsimperium des Zoodirektors Carl Hagenbeck einen besonders zur Nachahmung begabten Schimpansen im Pfeiferauchen und Schnapstrinken unterwies. Der eine, der regelmäßig vor die Gitter des erbärmlichen Käfigs im Zwischendeck hintrat und pantomimisch mit dem gelehrigen Tier in Kontakt ging. Jener eine Seemann, der im Erinnerungsmonolog des Affen Rotpeter aus Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ (1919) als namenloses Gegenüber beschrieben wird, als „Einer“, der sich aus der Uniformität der raubeinigen Schiffscrew als „Menschenlehrer“ herausschält, der mit seiner unklar motivierten Faszination für die eingesperrte Kreatur deren Lernprozess und Individuation initiiert.
Dass jener Eine, der bei Kafka ohne Namen, Gesicht und Stimme bleibt, über eine Herkunftshistorie verfügt, die von emotionaler Vernachlässigung und innerfamiliärer Gewalt geprägt ist, dass er als junger Erwachsener in die Dynamik von Delinquenz und Alkoholabhängigkeit rutscht, dass er Frauen gegenüber roh und abwertend auftritt und beruflich nirgends Fuß fasst – all dies gelangt am 6. Oktober 2024 den Besucherinnen und Besuchern der literarischen Kafka-Matinee im großen Haus der Münchner Kammerspiele zur Kenntnis.
Nachdem der zwischen Berlin und München pendelnde Schriftsteller Uwe Timm seine jugendliche Erstleser-Begegnung mit dem Schicksal Gregor Samsas aus seinem aktuellen
Erinnerungswerk Alle meine Geister vorgetragen und Shuteen Erdenebaatar sowie Nils Kugelmann vom Jazzduo Lightville den Raum mit betörenden Arrangements aus Klavier- und Alt-Klarinette geflutet haben, tritt der deutsch-schweizerische Autor Jonas Lüscher ans Lesepult. Und trägt sein eigens für diesen Anlass entworfenes Gegen-Narrativ zu Rotpeters wohlgesetzter Selbstdarstellungsrede vor. Von einem „schattenhaften Aufwachsen“ lässt er den unbekannten Seemann berichten, von einer Kindheit, die „Mühsal und Dunkelheit war“. Vom Futterneid zwischen ihm und seinen neun Geschwistern, von „Geschrei, Tränen … Missgunst, Gestank … und Dreck“. Vom reihenweisen Scheitern in den prototypischen prekären Beschäftigungsverhältnissen des 19. Jahrhunderts: in Schlachthäusern und desolaten Einödhöfen bis zur lakonischen Entscheidung: „Da fuhr ich halt zur See“. Vom schemenhaften Durchleben der maritimen Reisestationen, vom Wiederfinden der eigenen inneren Geworfenheit in den Naturphänomenen des Ozeans: „Nur an die Meere entsinne ich mich, an ihre Wasser, ihre Wellen, den Schaum, die Winde. Flaschengrün die Formosastraße, dunkelgrün wie Ruß das Wasser der baltischen See ...“
Sich kreativ in einen der großen Texte des literarischen Kanons einzuschreiben und dessen Machtstrukturen aufzudecken, indem man dem Erleben einer übersehenen Randfigur Gehör verschafft, sei das künstlerische Recht eines Autors, sagt Lüscher in der veranstaltungsbegleitenden Podiumsdiskussion. Und, gerade im Fall des literarischen Chamäleons Kafka gut geeignet, das rund um ihn entstandene Gespinst klischeehafter Zuschreibungen zu lüften. Auch, die reflexhafte und nahezu inflationäre Verwendung des Begriffs „kafkaesk“ einzudämmen, ergänzt seine Kollegin, die Essay- und Romanschriftstellerin Lena Gorelik, bevor sie zusammen mit Svetlana Belesova vom Ensemble der Kammerspiele den Beweis antritt, dass nicht nur Kafkas Erzählwerke abgedrängte und zum Verstummen gebrachte Schattenwesen erzeugt haben.
Belesova, die sich an diesem Tag sicher bewusst dafür entschieden hat, als entblößte, verletzbare und preisgegebene Version ihrer selbst zu erscheinen, indem sie ihre krankheitsbedingte Haarlosigkeit nicht mit Tuch, Mütze oder Anderem kaschiert, trägt Passagen aus Kafkas nachgelassenen Liebesbriefen an Felice Bauer und Milena Jesenská vor. Souverän. Temperamentvoll. Sehr konzentriert. Während Gorelik als wildes, lockenhaariges Pendant ihre eigene empowernde Idee von möglichen Antwortschreiben beider Frauen zu Gehör bringt. Denn: deren Originale sind bekanntlich vom sensiblen Kultautor höchst selbst vernichtet worden. Aus Fürsorgegründen, wie es offiziell heißt. Um Felice, Kafkas zweifache On-Off-Braut und Milena, seine briefstellerisch umschwärmte
Was-wäre-wenn-Geliebte vor Indiskretionen zu schützen. Und nicht etwa, um zu verschleiern, welch möglicherweise intelligente Strategien gegen die narzisstische Vereinnahmung als Kafkas „love interest“ jede für sich entwickelt hat.
Wie geht Felice im März 1913 mit Kafkas bizarrem Angebot um, sie in den Ostertagen für „eine beliebige Stunde“ oder auch „vier viertel Stunden“ in Berlin zu besuchen? Wie mit dessen postwendender Rücknahme unter Verweis auf ein mysteriöses, sich ständig erneuerndes, nicht näher definierbares Hindernis? Und was unternimmt Milena im Jahr 1920 gegen die minutiös-kaskadenhafte Auflistung von Zugfahrplänen im Vorfeld eines euphorisch geplanten, immer wieder neu verschobenen Treffens mit Kafka im österreichischen Gmünd? Wie ertragen Felice und Milena briefseitenlange Liebesbombardements, emotionale Erpressungsversuche, Komm-her-Geh-weg-Spiele und die Vermittlung ständiger Unsicherheit? Fürs Publikum der Kammerspiele steht seit dem 6.10.2024 fest: Sehr cool. Resolut. Auf jeden Fall vollkommen unbeeindruckt von Uwe Timms abgeklärter Idee, Kafka, „den armen Jungen mal einfach zu schütteln“. Stattdessen mit einem formvollendeten schriftlichen Komplettabbruch aller Kontakte zum emotional unerreichbaren Liebhaber, der Franz Kafka nun einmal leider war. Mit einer von Lena Gorelik stellvertretend für viele weibliche Opfer verdeckt-narzisstischer Männlichkeit hoheitsvoll vorgetragenen Grenzsetzung.
So entsteht und vergeht ein sehr schöner, lebensbejahender, ganz und gar unkafkaesker Vormittag.
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„Kafka 2024“, das ganzjährige, weltumspannende Kulturfestival zum 100. Todestag der Autorenikone Franz Kafka geht allmählich zu Ende. Die Münchner Kammerspiele geben aus diesem Anlass gemeinsam mit dem Kulturreferat am 6.10.2024 eine literarische Kafka-Matinee. Angelika Rösser vom „Team Literatur“ des Kulturreferats moderiert die Podiumsdiskussion, zu der drei mehrfach ausgezeichnete Münchner Schreibende, Lena Gorelik, Jonas Lüscher und Uwe Timm, ihren Blick auf das Werk des Jahrhundertautors einem Vergleich unterziehen. Dr. Ursula Wiest ist für das Literaturportal Bayern vor Ort.
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Früh verletzt. Brutalisiert. Wurzellos. Verlorener, unsteter als manch anderer seiner Kollegen der übers Meer fahrenden Profession. So muss jener eine Seemann gewesen sein, der irgendwann um 1870 im Laufe einer Verschiffung exotischer Tiere von Asien und Afrika ins Tierhandelsimperium des Zoodirektors Carl Hagenbeck einen besonders zur Nachahmung begabten Schimpansen im Pfeiferauchen und Schnapstrinken unterwies. Der eine, der regelmäßig vor die Gitter des erbärmlichen Käfigs im Zwischendeck hintrat und pantomimisch mit dem gelehrigen Tier in Kontakt ging. Jener eine Seemann, der im Erinnerungsmonolog des Affen Rotpeter aus Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ (1919) als namenloses Gegenüber beschrieben wird, als „Einer“, der sich aus der Uniformität der raubeinigen Schiffscrew als „Menschenlehrer“ herausschält, der mit seiner unklar motivierten Faszination für die eingesperrte Kreatur deren Lernprozess und Individuation initiiert.
Dass jener Eine, der bei Kafka ohne Namen, Gesicht und Stimme bleibt, über eine Herkunftshistorie verfügt, die von emotionaler Vernachlässigung und innerfamiliärer Gewalt geprägt ist, dass er als junger Erwachsener in die Dynamik von Delinquenz und Alkoholabhängigkeit rutscht, dass er Frauen gegenüber roh und abwertend auftritt und beruflich nirgends Fuß fasst – all dies gelangt am 6. Oktober 2024 den Besucherinnen und Besuchern der literarischen Kafka-Matinee im großen Haus der Münchner Kammerspiele zur Kenntnis.
Nachdem der zwischen Berlin und München pendelnde Schriftsteller Uwe Timm seine jugendliche Erstleser-Begegnung mit dem Schicksal Gregor Samsas aus seinem aktuellen
Erinnerungswerk Alle meine Geister vorgetragen und Shuteen Erdenebaatar sowie Nils Kugelmann vom Jazzduo Lightville den Raum mit betörenden Arrangements aus Klavier- und Alt-Klarinette geflutet haben, tritt der deutsch-schweizerische Autor Jonas Lüscher ans Lesepult. Und trägt sein eigens für diesen Anlass entworfenes Gegen-Narrativ zu Rotpeters wohlgesetzter Selbstdarstellungsrede vor. Von einem „schattenhaften Aufwachsen“ lässt er den unbekannten Seemann berichten, von einer Kindheit, die „Mühsal und Dunkelheit war“. Vom Futterneid zwischen ihm und seinen neun Geschwistern, von „Geschrei, Tränen … Missgunst, Gestank … und Dreck“. Vom reihenweisen Scheitern in den prototypischen prekären Beschäftigungsverhältnissen des 19. Jahrhunderts: in Schlachthäusern und desolaten Einödhöfen bis zur lakonischen Entscheidung: „Da fuhr ich halt zur See“. Vom schemenhaften Durchleben der maritimen Reisestationen, vom Wiederfinden der eigenen inneren Geworfenheit in den Naturphänomenen des Ozeans: „Nur an die Meere entsinne ich mich, an ihre Wasser, ihre Wellen, den Schaum, die Winde. Flaschengrün die Formosastraße, dunkelgrün wie Ruß das Wasser der baltischen See ...“
Sich kreativ in einen der großen Texte des literarischen Kanons einzuschreiben und dessen Machtstrukturen aufzudecken, indem man dem Erleben einer übersehenen Randfigur Gehör verschafft, sei das künstlerische Recht eines Autors, sagt Lüscher in der veranstaltungsbegleitenden Podiumsdiskussion. Und, gerade im Fall des literarischen Chamäleons Kafka gut geeignet, das rund um ihn entstandene Gespinst klischeehafter Zuschreibungen zu lüften. Auch, die reflexhafte und nahezu inflationäre Verwendung des Begriffs „kafkaesk“ einzudämmen, ergänzt seine Kollegin, die Essay- und Romanschriftstellerin Lena Gorelik, bevor sie zusammen mit Svetlana Belesova vom Ensemble der Kammerspiele den Beweis antritt, dass nicht nur Kafkas Erzählwerke abgedrängte und zum Verstummen gebrachte Schattenwesen erzeugt haben.
Belesova, die sich an diesem Tag sicher bewusst dafür entschieden hat, als entblößte, verletzbare und preisgegebene Version ihrer selbst zu erscheinen, indem sie ihre krankheitsbedingte Haarlosigkeit nicht mit Tuch, Mütze oder Anderem kaschiert, trägt Passagen aus Kafkas nachgelassenen Liebesbriefen an Felice Bauer und Milena Jesenská vor. Souverän. Temperamentvoll. Sehr konzentriert. Während Gorelik als wildes, lockenhaariges Pendant ihre eigene empowernde Idee von möglichen Antwortschreiben beider Frauen zu Gehör bringt. Denn: deren Originale sind bekanntlich vom sensiblen Kultautor höchst selbst vernichtet worden. Aus Fürsorgegründen, wie es offiziell heißt. Um Felice, Kafkas zweifache On-Off-Braut und Milena, seine briefstellerisch umschwärmte
Was-wäre-wenn-Geliebte vor Indiskretionen zu schützen. Und nicht etwa, um zu verschleiern, welch möglicherweise intelligente Strategien gegen die narzisstische Vereinnahmung als Kafkas „love interest“ jede für sich entwickelt hat.
Wie geht Felice im März 1913 mit Kafkas bizarrem Angebot um, sie in den Ostertagen für „eine beliebige Stunde“ oder auch „vier viertel Stunden“ in Berlin zu besuchen? Wie mit dessen postwendender Rücknahme unter Verweis auf ein mysteriöses, sich ständig erneuerndes, nicht näher definierbares Hindernis? Und was unternimmt Milena im Jahr 1920 gegen die minutiös-kaskadenhafte Auflistung von Zugfahrplänen im Vorfeld eines euphorisch geplanten, immer wieder neu verschobenen Treffens mit Kafka im österreichischen Gmünd? Wie ertragen Felice und Milena briefseitenlange Liebesbombardements, emotionale Erpressungsversuche, Komm-her-Geh-weg-Spiele und die Vermittlung ständiger Unsicherheit? Fürs Publikum der Kammerspiele steht seit dem 6.10.2024 fest: Sehr cool. Resolut. Auf jeden Fall vollkommen unbeeindruckt von Uwe Timms abgeklärter Idee, Kafka, „den armen Jungen mal einfach zu schütteln“. Stattdessen mit einem formvollendeten schriftlichen Komplettabbruch aller Kontakte zum emotional unerreichbaren Liebhaber, der Franz Kafka nun einmal leider war. Mit einer von Lena Gorelik stellvertretend für viele weibliche Opfer verdeckt-narzisstischer Männlichkeit hoheitsvoll vorgetragenen Grenzsetzung.
So entsteht und vergeht ein sehr schöner, lebensbejahender, ganz und gar unkafkaesker Vormittag.