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16.10.2024, 09:04 Uhr
Klaus Hübner
Rezensionen

Ein berührender Vater-Tochter-Roman von Ludwig Steinherr

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Buchcover (c) Allitera Verlag

Ludwig Steinherr lebt als freier Schriftsteller in München. Bekannt wurde er vor allem durch sein lyrisches Werk, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde. Nun ist sein erster Roman unter dem Titel Tochter Zoe erschienen: eine Reise von München nach Rom, die alles verändert. Klaus Hübner hat ihn für uns gelesen.

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David hat keinen Plan. „Er vertraut auf das Schicksal. Wenn der rechte Augenblick da ist, wird er auch wissen, was zu tun ist. Alles, was er tun muss, ist, dem rechten Augenblick eine Chance zu geben. Dem Kairos, wie die alten Griechen das nannten.“ David, ein mit seiner Berufstätigkeit ganz zufriedener Verlagslektor mittleren Alters, ist die Hauptfigur des aktuellen Romans von Ludwig Steinherr. Mit seiner Freundin Julia, einer hoch motivierten, engagierten Lehrerin, lebt er kinderlos im Münchner Szenestadtteil Haidhausen. Seit langer Zeit führen sie eine intensive Beziehung, und all die Jahre hindurch kannte ihre Liebe kaum wirkliche Schattenstunden. Bis David an einem warmen Frühlingsabend allein durch die Straßen schlendert und ein nettes Restaurant besucht, ohne Buch und ohne Zeitung. „Sogar sein Handy hat er vergessen – den Rettungsanker so vieler Einsamer, die nicht einsam erscheinen wollen“. Am Nebentisch sitzt seine frühere Geliebte Carla, die sich, forciert dominant und ziemlich rechthaberisch, mit ihrer fast achtzehnjährigen Tochter Zoe unterhält. Eine Helikopter-Mutter, zweifellos. Die Trennung von Carla, lange her, war sehr schmerzlich gewesen, und deshalb gibt sich der gebannt lauschende David nicht zu erkennen. Doch sein Herzklopfen ist nicht zu ignorieren, und plötzlich wird ihm unabweisbar klar, dass diese Zoe seine eigene Tochter sein muss. Nebenbei erfährt er auch, dass Zoe bald mit ein paar Freundinnen nach Rom fahren wird. Was nun?

Nun nimmt das Schicksal seinen Lauf, ganz im Sinne des Mottos aus Hermann Hesses Demian: „Wenn der, der etwas notwendig braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin.“ Besessen von dem Drang, Zoe kennenzulernen, überredet David die ahnungslose Julia zu einer spontanen Reise, nach Rom natürlich. „Ja, der Name Zoe bedeutet: das Leben. Aber Leben ist ständig von Gefahren bedroht. Irgendwo hat David einmal den Satz gelesen: Wer ein Kind hat, hat dem Schicksal eine Geisel gegeben. Damals kam ihm der Satz überspannt vor – aber jetzt begreift er ihn voll und ganz. Zoe ist die Geisel, die das Schicksal von ihm hat. Um ihretwegen empfindet er plötzlich Ängste, die er nie zuvor kannte.“ David muss Zoe beschützen, immer und überall, und erst recht in Rom. Er kennt die Stadt ziemlich gut, auch Einzelheiten aus ihrer bewegten Geschichte und natürlich ihre großen Kunstwerke – Caravaggio, immer wieder faszinierend. Doch diesmal geht es ihm nicht um Kunstgenuss, sondern ausschließlich darum, seine Tochter zu finden. Beziehungsweise das Mädchen, das er für sie hält. Dass er Tag und Nacht nach ihr sucht, bleibt Julia naturgemäß nicht verborgen: „Erst schleifst du mich Knall auf Fall nach Rom und dann ignorierst du mich völlig. Dafür verrenkst du dir den Hals nach jedem jungen Mädchen, dass es schon peinlich ist.“ Tja, so schaut’s wohl aus, und irgendwann mal erscheint ihm Julia nur noch als „fleischgewordene Allegorie der Beziehungskrise“. Dazu trägt auch etwas bei, das viele eigentlich gut mit sich selbst beschäftigte Touristen irgendwann schon mal erlebt haben: Sie lernen ein deutsches Paar kennen, in diesem Fall den aufdringlichen Angeber Marc, einen Haikus fabrizierenden, sich als Rom-Kenner ausgebenden Makler, und seine undurchsichtige Partnerin Carina. Man speist und trinkt zusammen, ergeht sich in belanglosem Smalltalk, und zu Davids Leidwesen beschließt man auch gemeinsame Unternehmungen. Zudem wird die Flirterei zwischen Julia und Marc bald unübersehbar, und intensiver wird sie auch. „Wie kann sich Julia diesem Idioten an den Hals werfen?“, fragt sich David vergeblich. Alles nicht im Sinne des Erfinders. Wo bleibt da Raum für die Suche nach Zoe?

Kurzum, die ganze Rom-Reise gerät aus den Fugen, und von Zoe gibt es erst einmal keine Spur. Klar, irgendwann findet er sie doch, eine tiefe Rührung überkommt ihn, doch er hat nicht die geringste Ahnung, was er jetzt tun soll, und folglich verliert er sie bald wieder aus den Augen. Wie der Autor dieses Aus-den-Fugen-Geraten des Kurzurlaubs und Davids verzweifelte, „mit dem kriminalistischen Scharfsinn der Liebe“ vorangetriebene Tochter-Obsession schildert, ist ziemlich spannend, und so bleibt man gebannt dran. Weil die Dialoge sitzen, und weil der perfekt konstruierte und psychologisch fein austarierte Text immer wieder den philosophischen Hintergrund seines Autors aufscheinen lässt. Zudem erweist sich Ludwig Steinherr, ein genuiner Lyriker, auch in seinem in 40 kurze Kapitel gegliederten Roman als bewundernswerter Sprachzauberer, und genau das gibt der schier endlosen und manchmal auch umständlichen Suche nach Zoe ihren ästhetischen Reiz. Die eindringlich und plastisch gezeichneten Romanfiguren werden lebendig, und die auf den ersten Blick eher unglaubwürdige Story wird auf sympathische Art und Weise nachvollziehbar. „Ja, alles hängt am Kairos.“ Es dauert dann etwas, bis endlich das geschieht, was man schon lange vermutet hatte: Die genervte und fundamental irritierte Julia ist schon längst nach München zurückgeflüchtet, als dann doch noch der Moment kommt, an dem sich David seiner Tochter erklären kann. „Ich hatte bis vor kurzem gar keine Ahnung, dass du existierst, Zoe. Du kannst nicht wissen, wer ich bin … Aber schau mein Gesicht an … meine Augen …“. Und endlich kapiert auch sie es: „Zoe wird totenblass.“ Wie es dann weitergeht und wie der Roman endet, muss hier nicht verraten werden. Nur, dass er in Haidhausen endet. Und dass auf den letzten 25 Seiten auch Zoe als eigenständige Romanfigur lebendig erlebbar wird. Was unter anderem daran liegt, dass Ludwig Steinherr sogar die heutige Jugendsprache drauf hat. Respekt!

Der 1962 in München geborene und mehrfach ausgezeichnete Autor hat Jahrzehnte hindurch zahlreiche Gedichtbände publiziert, von denen viele auch in andere Sprachen übersetzt wurden. In den letzten drei Jahren erschienen mehrere Theaterstücke, der schräge Kochelsee-Krimi Der Sturm erwartet dich und, in erstaunlich kurzen Abständen, eine beträchtliche Anzahl von Novellen, darunter Verona kopfüber, Der Carolin-Papyrus, Das weiße Fahrrad, Adriana, Zweimal Rom, Jessicas Besuch und zuletzt Judith. Was sind Novellen? Haben sie eine klar definierte Form, haben sie einen maximalen Umfang? Es gibt 70-Seiten-Texte, die als Romane verkauft werden. Peter Handke hat 2008 Die morawische Nacht veröffentlicht, ein Suhrkamp-Buch von 560 Seiten mit dem schlichten Untertitel: „Erzählung“. Ob Tochter Zoe, 168 Seiten lang, tatsächlich Ludwig Steinherrs erster Roman ist, wie der Verlag verkündet, sei dahingestellt. Ist ja auch nicht wirklich wichtig. Roman, Erzählung oder Novelle – dieses sprachgewaltige, unterhaltsame und berührende Buch kann man nur empfehlen.

 

Ludwig Steinherr: Tochter Zoe. Roman. München, Allitera Verlag 2024, 168 S., ISBN 978-3-96233-460-4, € 18,-

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