Die Normalität der Bösen – Jonathan Glazers Film „The Zone of Interest“ – Literarische Erkundungen (15)
Es wird abgründig in Fabienne Imlingers literarischen Erkundungen. Von einer gespenstisch leeren Monacensia führt ihr Weg dieses Mal zur neuen Dauerausstellung Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa, die am 27. Oktober 2024 eröffnet wird. Besonders der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses während der NS-Zeit blickt die Autorin mit Spannung entgegen. Anhand von Jonathan Glazers Spielfilm The Zone of Interest erkundet Imlinger einige erinnerungspolitische Herausforderungen der Gegenwart.
*
Über die neue Dauerausstellung der Monacensia, die gegenwärtigen Herausforderungen von Erinnerungskultur und Jonathan Glazers Film The Zone of Interest
Der Grusch ist weg.
Und auch sonst wirkt die Monacensia an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag leer geräumt und ungewöhnlich still. Vereinzelt nur lugen Leute durch die großen grünen Türen, fragen verschüchtert, ob hier nicht ein Café sei? Ob der Lesesaal heute geschlossen habe? Ob jetzt alles nur mehr im Internet steht?
Immerhin: Von Oskar Maria Grafs Schreibtisch klappert es noch wacker herüber. Ein Mann sitzt in einem der breiten Ledersessel und kichert vor sich hin. Wagt man sich weiter durch die Räume des Literarischen Münchens und rauf in den ersten Stock, sieht man leere Wände und Schaukästen, einige davon noch mit Plastikfolie abgeklebt.
Es würde mich nicht wundern, wenn Adolf von Hildebrand gleich als Gespenst verkleidet um die Ecke biegt.
Was ist hier los?
Die Monacensia heckt was aus.
Eine neue Dauerausstellung.
Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa erzählt „die bewegte Geschichte des Hildebrandhauses von der Künstlervilla der Prinzregentenzeit bis zur Künstler*innenvilla heute“, lese ich in der Pressemitteilung. Im Fokus stehen bisher wenig erforschte Ereignisse und Persönlichkeiten, die das Haus und seine unmittelbare Nachbarschaft prägten – gemäß der Methode der kuratorischen Feldforschung, die den Blick bewusst auf das Entstehen und die Folgen von Leerstellen richtet.
Zur neuen Ausstellung gehört auch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses zur Zeit des Nationalsozialismus, die geprägt ist von Entrechtung und Vernichtung. „Verfolgte, Profiteur*innen und Repräsentant*innen des NS-Regimes lebten in der Villa und ihrer unmittelbaren Nachbarschaft auf engstem Raum zusammen.“ Verdrängen und Vergessen, Leerstellen und Lücken erhalten vor diesem Hintergrund noch einmal eine ganz andere Bedeutung.
Wie wichtig diese erinnerungspolitische Arbeit nach wie vor und gerade jetzt ist, zeigen unter anderem die MEMO-Studien, die das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG) veröffentlicht. Seit 2018 führt das IKG repräsentative Meinungsumfragen zur Erinnerungskultur in Deutschland durch, wobei ein besonderer Fokus „auf dem Erinnern an die Shoah und die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen und Menschengruppen in der Zeit des Nationalsozialismus“ liegt.[1]
2020 gaben 54,8 Prozent aller Befragten an, „eher wenig oder überhaupt nichts darüber zu wissen, was in der Zeit des Nationalsozialismus in ihrem Wohnort geschehen ist“.[2] Die Studie fragte in dem Jahr auch spezifisch nach Familiennarrativen im Kontext der Zeit des Nationalsozialismus. „Das selektive Wissen um die Rolle der eigenen Vorfahren während der NS-Zeit“ ist dabei ein wiederkehrender Befund der MEMO-Studien: Kurz gesagt ist eine immer kleiner werdende Zahl der Befragten der Meinung, dass ihre Vorfahren zu den Täter*innen gehörten, während eine vergleichsweise große Gruppe denkt, dass ihre Vorfahren aktiv Menschen geholfen haben, die vom NS-Regime verfolgt wurden.[3]
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese Zahlen lesen.
Zweifellos gibt es komplexe, psychologisch nachvollziehbare Gründe für diese selektive Wahrnehmung. Mein erster Gedanke jedenfalls war: Deutschland, Land ohne Täter?
Nun kam 2024 ein Film in die Kinos, der sich explizit mit den Tätern und mit selektiver Wahrnehmung beschäftigt. Der versucht zu zeigen, dass es „normale, sogar langweilige Menschen waren, die diese Verbrechen an anderen Menschen begangen haben“,[4] und der dadurch einen Bezug zu uns Zuseher*innen und unserer Gegenwart herstellen möchte. Ich spreche von
Jonathan Glazers The Zone of Interest
Der Spielfilm zeigt das Leben der Familie von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, und inszeniert das Nebeneinander von Familienalltag und Holocaust auf spezifische Weise. Dieses Nebeneinander ist keineswegs metaphorisch gemeint, denn Haus und Garten der Familie grenzten unmittelbar an das Stammlager Auschwitz I. Und auch Inszenierung ist buchstäblich zu verstehen, denn Glazer gestaltet dieses Nebeneinander sehr stark – am auffälligsten durch eine Ton-Bild-Schere: Während der Alltag im Vernichtungslager als permanente Geräuschkulisse zu hören, aber nicht zu sehen ist, spielt sich, sozusagen im Vordergrund, der Familienalltag ab.
Nach allem, was man über das Ehepaar Höß weiß, waren die beiden überzeugte Nazis. Ich sage das dazu, weil man, wenn man sich den Film ansieht, bisweilen auf die Idee kommen könnte, Rudolf Höß hätte eigentlich nichts gegen Juden gehabt, sondern wollte einfach nur seinen Job gut machen. Symptomatisch dafür ist eine Szene am Ende des Films. Am Nachmittag hat Höß im Inspektorat für Konzentrationslager in Oranienburg eine dringliche und besonders komplexe „Aufgabe“ erhalten, für die er sich unter anderem mit Eichmann in Budapest in Verbindung setzen müsse. Abends dann sehen wir ihn, wie er bei einem Nazi-Empfang von einer Empore aus auf den prunkvollen Ballsaal herabblickt. Auf der Tonspur hören wir währenddessen ein Telefongespräch: Höß berichtet seiner Frau, er habe den ganzen Abend darüber nachgedacht, wie er alle im Ballsaal Anwesenden vergasen könnte, was wegen der hohen Decken logistisch besonders schwierig sei.
Die rund 320.000 Kinder, Frauen und Männer, die Höß dann tatsächlich in Auschwitz-Birkenau zwischen Mai und Juli 1944 vergast hat, waren ungarische Juden.[5]
Glazer wollte Rudolf Höß nicht als „Standard-Kino-Nazi“, als sadistisches Monster zeigen, denn mit so einer Figur würde sich wohl kaum jemand identifizieren. Doch war Höß auch nicht nur irgendein grauer Technokrat mit einem Faible für Logistik, dem es letztlich egal war, ob er Juden in Auschwitz vergaste oder Nazi-Granden und ihre Frauen in einem Ballsaal. Er war einer, der gern selbst Hand anlegte. Der sich seiner niedrigen NSDAP-Mitgliedsnummer rühmte. Der Mitglied im paramilitärischen Freikorps Roßbach war und sich nach dessen Verbot im nationalsozialistischen Untergrund der Weimarer Republik tummelte, vorzugsweise auf ostdeutschen Landgütern. Beim Bund der Artamanen, einer Landbesiedlungsbewegung, die eine völkische Blut-und-Boden-Ideologie vertrat, lernte er seine künftige Frau Hedwig Hensel kennen.
Wenn also die Figur Hedwig Höß in The Zone of Interest ihren Mann daran erinnert, dass sie in Auschwitz ihren Traum lebten, dann ist damit nicht nur der kapitalistische Wunschtraum eines kleinbürgerlichen, karrieristischen Paares gemeint, wie der Filmtrailer suggeriert, sondern der völkische Wunschtraum zweier eingefleischter Nazis.[6]
Banalität des Bösen?
Die abgründige Gleichzeitigkeit von Normalität und Grauen, die der Film zeigt, wird in Rezensionen meist als „Banalität des Bösen“ bezeichnet. Hannah Arendt entwickelte dieses Konzept, als sie 1961 dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem beiwohnte. Es ist ein komplexer, durchaus auch umstrittener Begriff; zum Beispiel spricht Arendt genau nicht von der Normalität des Bösen. Nicht vergessen werden sollte, dass die Täter selbst – Eichmann und auch Höß – vor Gericht ihre eigene Normalität betonten und sich selbst als pflichtbewusste Funktionäre mit einer Vorliebe für Logistik darstellten. Nun kann man sagen: Glazer macht ja einen Film über die Täter*innen, und es ist laut eigener Aussage genau „die groteske Normalität der Familie Höß“, die ihn interessiert hat.[7]
Nur fragt sich, was der Blick auf die Normalität der Täter eigentlich erklärt?
In Interviews mit den Mitwirkenden und auch in den Rezensionen ist häufig von Verdrängen und Ausblenden die Rede: Die Familienidylle sei nur möglich gewesen, weil man das Grauen ausblendete.[8] Auch hierfür gibt es eine symptomatische Szene: Höß macht mit seinem Sohn einen Ausritt über die Felder. Plötzlich hält er inne und fragt: „Hörst du das?“ Während wir als Zuseher*innen vor allem die Schreie der SS-Leute hören, die in unmittelbarer Nähe einen Trupp KZ-Häftlinge antreiben, erklärt Höß seinem Sohn: „Eine Rohrdommel. Gehört zur Familie der Reiher. Ein eurasischer Graureiher.“
Die Holocaust-Forscherin Sybille Steinbacher hält es für wenig plausibel anzunehmen, dass die Täter von einer kollektiven Bewusstseinsspaltung befallen gewesen seien. Sie zeichnet ein etwas anderes Bild vom Leben der Täter*innen in Auschwitz, zu der nicht nur die Familie Höß gehörte, sondern auch die Ehefrauen und Familien anderer SS-Offiziere. Die SS-Siedlung in Auschwitz glich einem kleinen Stadtteil – Kaffeehaus, Schwimmbad und Bibliothek inklusive.
Steinbacher zufolge gab es nicht nur keinen Widerspruch zwischen dem beruflichen Alltag der SS-Leute im Lager und ihrem Familienleben. Vielmehr dürfte „das beharrlich gepflegte Familienidyll das Töten im Lager“ sogar befördert haben, weil es den SS-Männern „die nötige psychische Stabilität“ gab. Beides – das SS-Familienleben in Auschwitz ebenso wie die Massenvernichtung – diente letztlich „dem Aufbau der ‚rassereinen‘ Volksgemeinschaft“.[9]
Die Diskrepanz zwischen Normalität und Grauen existiert in der Welt der gezeigten Figuren also gerade nicht, sondern allenfalls im Blick auf die Figuren, also auf der Ebene der Rezeption des Films. Ich sage bewusst allenfalls: Denn wenn ich mir als Zuseherin „den Horror permanent dazu denken muss“, wie es in einer Rezension heißt, dann setzt das voraus, dass ich weiß, was sich „hinter“ den Mauern abgespielt hat, dass ich also über historisches Wissen um den Holocaust im Allgemeinen und Auschwitz im Besonderen verfüge. Es setzt außerdem voraus, dass ich ein Problem mit dem habe, was sich hinter den Mauern abgespielt hat, dass ich also die Weltsicht des Ehepaares Höß nicht teile. Nur frage ich mich, inwieweit diese Voraussetzungen gegeben sind.
In Deutschland gewinnt eine rechtsextreme Partei, die ungeniert an NS-Parolen anknüpft und Masterpläne für Deportationen schmiedet, aktuell wieder Wahlen – und zwar, wie zu befürchten ist, nicht trotzdem, sondern deswegen.
Wenn Sie jetzt denken: Huch, wie sind wir denn auf einmal bei Rudolf Höß und Auschwitz gelandet? Ist das schon wieder so ein Überraschungskiste-Ding? Und was um Himmels willen hat das alles mit Putzen zu tun? Dann kann ich nur sagen: Ich habe schon mehrmals versucht, im Rahmen meiner literarischen Erkundungen über The Zone of Interest zu schreiben. Und jedes Mal bin ich in einer Sackgasse gelandet, verloren und verheddert in tausend offenen Tabs und fünfzig verschiedenen Argumenten, überfordert und von Zweifeln geplagt und ohne zu begreifen, was genau Hannah Arendt mit der Banalität des Bösen gemeint hat.
Warum ich nicht davon lassen kann, und was das alles mit Putzen zu tun hat, erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal.
Die „Literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu und setzen sich mit der Frage „Wer putzt?“ auseinander. Mein Name ist Fabienne Imlinger, ich bin Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Wenn Sie mögen, hören Sie doch mal in den Podcast Female Peace Palace rein: In der vierten Folge spreche ich mit Sebastian Huber, Eva Bahl und Sapir von Abel über Erinnerungspolitik.
[1] Die Studien werden von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) gefördert und sind auf deren Homepage frei zugänglich.
[2] www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf, S. 13.
[3] In konkreten Zahlen wird der Anteil an Täter*innen in der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus „mit 33,6 % höher eingeschätzt als sich dies im Wissen um Täterschaft innerhalb der eigenen Familien widerspiegelt (23,2 %)“. Mit Blick auf die Gruppe der Helfer*innen ist der Unterschied noch frappanter: „Während deren Anteil in der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus mit 15,4 % als vergleichsweise gering eingeschätzt wird, berichtet ein deutlich größerer Anteil an Befragten (32,3 %) von Helfer*innen in der eigenen Familie.“ www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf, S. 22. Die Gedenkstätte Stille Helden geht von 20.000 Menschen aus, die in Deutschland vom NS-Regime Verfolgten halfen. Das sind 0,03 Prozent der Bevölkerung.
[4] So Christian Friedel, der Rudolf Höß verkörpert, in einem Interview mit der NZZ.
[5] Etwa 424.000 ungarische Jüdinnen und Juden wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wovon etwa 80 Prozent sofort nach Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden. www.yadvashem.org/de/holocaust/about/fate-of-jews/hungary.html#narrative_info
[6] Der Trailer montiert Szenen aus dem Film mit folgenden Passagen aus einer Rezension im Time Magazine: „It’s about wanting the best for your children, following the rules and working hard, feeling that you deserve the best in life, entwined with the unspeakable.“
[7] www.nzz.ch/feuilleton/the-zone-of-interest-ist-die-antwort-auf-auf-schindlers-list-ld.1820512
[8] Sandra Hüller, die Hedwig Höß spielt, sagt zum Beispiel in einem Interview: „Unsere Arbeit hatte immer etwas damit zu tun, dass wir das die ganze Zeit im Bewusstsein haben, während die das nicht im Bewusstsein hatten. Auf dieser Diskrepanz hat sich die ganze Zeit die Arbeit bewegt.“
Die Normalität der Bösen – Jonathan Glazers Film „The Zone of Interest“ – Literarische Erkundungen (15)>
Es wird abgründig in Fabienne Imlingers literarischen Erkundungen. Von einer gespenstisch leeren Monacensia führt ihr Weg dieses Mal zur neuen Dauerausstellung Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa, die am 27. Oktober 2024 eröffnet wird. Besonders der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses während der NS-Zeit blickt die Autorin mit Spannung entgegen. Anhand von Jonathan Glazers Spielfilm The Zone of Interest erkundet Imlinger einige erinnerungspolitische Herausforderungen der Gegenwart.
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Über die neue Dauerausstellung der Monacensia, die gegenwärtigen Herausforderungen von Erinnerungskultur und Jonathan Glazers Film The Zone of Interest
Der Grusch ist weg.
Und auch sonst wirkt die Monacensia an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag leer geräumt und ungewöhnlich still. Vereinzelt nur lugen Leute durch die großen grünen Türen, fragen verschüchtert, ob hier nicht ein Café sei? Ob der Lesesaal heute geschlossen habe? Ob jetzt alles nur mehr im Internet steht?
Immerhin: Von Oskar Maria Grafs Schreibtisch klappert es noch wacker herüber. Ein Mann sitzt in einem der breiten Ledersessel und kichert vor sich hin. Wagt man sich weiter durch die Räume des Literarischen Münchens und rauf in den ersten Stock, sieht man leere Wände und Schaukästen, einige davon noch mit Plastikfolie abgeklebt.
Es würde mich nicht wundern, wenn Adolf von Hildebrand gleich als Gespenst verkleidet um die Ecke biegt.
Was ist hier los?
Die Monacensia heckt was aus.
Eine neue Dauerausstellung.
Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa erzählt „die bewegte Geschichte des Hildebrandhauses von der Künstlervilla der Prinzregentenzeit bis zur Künstler*innenvilla heute“, lese ich in der Pressemitteilung. Im Fokus stehen bisher wenig erforschte Ereignisse und Persönlichkeiten, die das Haus und seine unmittelbare Nachbarschaft prägten – gemäß der Methode der kuratorischen Feldforschung, die den Blick bewusst auf das Entstehen und die Folgen von Leerstellen richtet.
Zur neuen Ausstellung gehört auch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hauses zur Zeit des Nationalsozialismus, die geprägt ist von Entrechtung und Vernichtung. „Verfolgte, Profiteur*innen und Repräsentant*innen des NS-Regimes lebten in der Villa und ihrer unmittelbaren Nachbarschaft auf engstem Raum zusammen.“ Verdrängen und Vergessen, Leerstellen und Lücken erhalten vor diesem Hintergrund noch einmal eine ganz andere Bedeutung.
Wie wichtig diese erinnerungspolitische Arbeit nach wie vor und gerade jetzt ist, zeigen unter anderem die MEMO-Studien, die das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG) veröffentlicht. Seit 2018 führt das IKG repräsentative Meinungsumfragen zur Erinnerungskultur in Deutschland durch, wobei ein besonderer Fokus „auf dem Erinnern an die Shoah und die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen und Menschengruppen in der Zeit des Nationalsozialismus“ liegt.[1]
2020 gaben 54,8 Prozent aller Befragten an, „eher wenig oder überhaupt nichts darüber zu wissen, was in der Zeit des Nationalsozialismus in ihrem Wohnort geschehen ist“.[2] Die Studie fragte in dem Jahr auch spezifisch nach Familiennarrativen im Kontext der Zeit des Nationalsozialismus. „Das selektive Wissen um die Rolle der eigenen Vorfahren während der NS-Zeit“ ist dabei ein wiederkehrender Befund der MEMO-Studien: Kurz gesagt ist eine immer kleiner werdende Zahl der Befragten der Meinung, dass ihre Vorfahren zu den Täter*innen gehörten, während eine vergleichsweise große Gruppe denkt, dass ihre Vorfahren aktiv Menschen geholfen haben, die vom NS-Regime verfolgt wurden.[3]
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese Zahlen lesen.
Zweifellos gibt es komplexe, psychologisch nachvollziehbare Gründe für diese selektive Wahrnehmung. Mein erster Gedanke jedenfalls war: Deutschland, Land ohne Täter?
Nun kam 2024 ein Film in die Kinos, der sich explizit mit den Tätern und mit selektiver Wahrnehmung beschäftigt. Der versucht zu zeigen, dass es „normale, sogar langweilige Menschen waren, die diese Verbrechen an anderen Menschen begangen haben“,[4] und der dadurch einen Bezug zu uns Zuseher*innen und unserer Gegenwart herstellen möchte. Ich spreche von
Jonathan Glazers The Zone of Interest
Der Spielfilm zeigt das Leben der Familie von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, und inszeniert das Nebeneinander von Familienalltag und Holocaust auf spezifische Weise. Dieses Nebeneinander ist keineswegs metaphorisch gemeint, denn Haus und Garten der Familie grenzten unmittelbar an das Stammlager Auschwitz I. Und auch Inszenierung ist buchstäblich zu verstehen, denn Glazer gestaltet dieses Nebeneinander sehr stark – am auffälligsten durch eine Ton-Bild-Schere: Während der Alltag im Vernichtungslager als permanente Geräuschkulisse zu hören, aber nicht zu sehen ist, spielt sich, sozusagen im Vordergrund, der Familienalltag ab.
Nach allem, was man über das Ehepaar Höß weiß, waren die beiden überzeugte Nazis. Ich sage das dazu, weil man, wenn man sich den Film ansieht, bisweilen auf die Idee kommen könnte, Rudolf Höß hätte eigentlich nichts gegen Juden gehabt, sondern wollte einfach nur seinen Job gut machen. Symptomatisch dafür ist eine Szene am Ende des Films. Am Nachmittag hat Höß im Inspektorat für Konzentrationslager in Oranienburg eine dringliche und besonders komplexe „Aufgabe“ erhalten, für die er sich unter anderem mit Eichmann in Budapest in Verbindung setzen müsse. Abends dann sehen wir ihn, wie er bei einem Nazi-Empfang von einer Empore aus auf den prunkvollen Ballsaal herabblickt. Auf der Tonspur hören wir währenddessen ein Telefongespräch: Höß berichtet seiner Frau, er habe den ganzen Abend darüber nachgedacht, wie er alle im Ballsaal Anwesenden vergasen könnte, was wegen der hohen Decken logistisch besonders schwierig sei.
Die rund 320.000 Kinder, Frauen und Männer, die Höß dann tatsächlich in Auschwitz-Birkenau zwischen Mai und Juli 1944 vergast hat, waren ungarische Juden.[5]
Glazer wollte Rudolf Höß nicht als „Standard-Kino-Nazi“, als sadistisches Monster zeigen, denn mit so einer Figur würde sich wohl kaum jemand identifizieren. Doch war Höß auch nicht nur irgendein grauer Technokrat mit einem Faible für Logistik, dem es letztlich egal war, ob er Juden in Auschwitz vergaste oder Nazi-Granden und ihre Frauen in einem Ballsaal. Er war einer, der gern selbst Hand anlegte. Der sich seiner niedrigen NSDAP-Mitgliedsnummer rühmte. Der Mitglied im paramilitärischen Freikorps Roßbach war und sich nach dessen Verbot im nationalsozialistischen Untergrund der Weimarer Republik tummelte, vorzugsweise auf ostdeutschen Landgütern. Beim Bund der Artamanen, einer Landbesiedlungsbewegung, die eine völkische Blut-und-Boden-Ideologie vertrat, lernte er seine künftige Frau Hedwig Hensel kennen.
Wenn also die Figur Hedwig Höß in The Zone of Interest ihren Mann daran erinnert, dass sie in Auschwitz ihren Traum lebten, dann ist damit nicht nur der kapitalistische Wunschtraum eines kleinbürgerlichen, karrieristischen Paares gemeint, wie der Filmtrailer suggeriert, sondern der völkische Wunschtraum zweier eingefleischter Nazis.[6]
Banalität des Bösen?
Die abgründige Gleichzeitigkeit von Normalität und Grauen, die der Film zeigt, wird in Rezensionen meist als „Banalität des Bösen“ bezeichnet. Hannah Arendt entwickelte dieses Konzept, als sie 1961 dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem beiwohnte. Es ist ein komplexer, durchaus auch umstrittener Begriff; zum Beispiel spricht Arendt genau nicht von der Normalität des Bösen. Nicht vergessen werden sollte, dass die Täter selbst – Eichmann und auch Höß – vor Gericht ihre eigene Normalität betonten und sich selbst als pflichtbewusste Funktionäre mit einer Vorliebe für Logistik darstellten. Nun kann man sagen: Glazer macht ja einen Film über die Täter*innen, und es ist laut eigener Aussage genau „die groteske Normalität der Familie Höß“, die ihn interessiert hat.[7]
Nur fragt sich, was der Blick auf die Normalität der Täter eigentlich erklärt?
In Interviews mit den Mitwirkenden und auch in den Rezensionen ist häufig von Verdrängen und Ausblenden die Rede: Die Familienidylle sei nur möglich gewesen, weil man das Grauen ausblendete.[8] Auch hierfür gibt es eine symptomatische Szene: Höß macht mit seinem Sohn einen Ausritt über die Felder. Plötzlich hält er inne und fragt: „Hörst du das?“ Während wir als Zuseher*innen vor allem die Schreie der SS-Leute hören, die in unmittelbarer Nähe einen Trupp KZ-Häftlinge antreiben, erklärt Höß seinem Sohn: „Eine Rohrdommel. Gehört zur Familie der Reiher. Ein eurasischer Graureiher.“
Die Holocaust-Forscherin Sybille Steinbacher hält es für wenig plausibel anzunehmen, dass die Täter von einer kollektiven Bewusstseinsspaltung befallen gewesen seien. Sie zeichnet ein etwas anderes Bild vom Leben der Täter*innen in Auschwitz, zu der nicht nur die Familie Höß gehörte, sondern auch die Ehefrauen und Familien anderer SS-Offiziere. Die SS-Siedlung in Auschwitz glich einem kleinen Stadtteil – Kaffeehaus, Schwimmbad und Bibliothek inklusive.
Steinbacher zufolge gab es nicht nur keinen Widerspruch zwischen dem beruflichen Alltag der SS-Leute im Lager und ihrem Familienleben. Vielmehr dürfte „das beharrlich gepflegte Familienidyll das Töten im Lager“ sogar befördert haben, weil es den SS-Männern „die nötige psychische Stabilität“ gab. Beides – das SS-Familienleben in Auschwitz ebenso wie die Massenvernichtung – diente letztlich „dem Aufbau der ‚rassereinen‘ Volksgemeinschaft“.[9]
Die Diskrepanz zwischen Normalität und Grauen existiert in der Welt der gezeigten Figuren also gerade nicht, sondern allenfalls im Blick auf die Figuren, also auf der Ebene der Rezeption des Films. Ich sage bewusst allenfalls: Denn wenn ich mir als Zuseherin „den Horror permanent dazu denken muss“, wie es in einer Rezension heißt, dann setzt das voraus, dass ich weiß, was sich „hinter“ den Mauern abgespielt hat, dass ich also über historisches Wissen um den Holocaust im Allgemeinen und Auschwitz im Besonderen verfüge. Es setzt außerdem voraus, dass ich ein Problem mit dem habe, was sich hinter den Mauern abgespielt hat, dass ich also die Weltsicht des Ehepaares Höß nicht teile. Nur frage ich mich, inwieweit diese Voraussetzungen gegeben sind.
In Deutschland gewinnt eine rechtsextreme Partei, die ungeniert an NS-Parolen anknüpft und Masterpläne für Deportationen schmiedet, aktuell wieder Wahlen – und zwar, wie zu befürchten ist, nicht trotzdem, sondern deswegen.
Wenn Sie jetzt denken: Huch, wie sind wir denn auf einmal bei Rudolf Höß und Auschwitz gelandet? Ist das schon wieder so ein Überraschungskiste-Ding? Und was um Himmels willen hat das alles mit Putzen zu tun? Dann kann ich nur sagen: Ich habe schon mehrmals versucht, im Rahmen meiner literarischen Erkundungen über The Zone of Interest zu schreiben. Und jedes Mal bin ich in einer Sackgasse gelandet, verloren und verheddert in tausend offenen Tabs und fünfzig verschiedenen Argumenten, überfordert und von Zweifeln geplagt und ohne zu begreifen, was genau Hannah Arendt mit der Banalität des Bösen gemeint hat.
Warum ich nicht davon lassen kann, und was das alles mit Putzen zu tun hat, erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal.
Die „Literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu und setzen sich mit der Frage „Wer putzt?“ auseinander. Mein Name ist Fabienne Imlinger, ich bin Autorin und Literaturwissenschaftlerin. Wenn Sie mögen, hören Sie doch mal in den Podcast Female Peace Palace rein: In der vierten Folge spreche ich mit Sebastian Huber, Eva Bahl und Sapir von Abel über Erinnerungspolitik.
[1] Die Studien werden von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) gefördert und sind auf deren Homepage frei zugänglich.
[2] www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf, S. 13.
[3] In konkreten Zahlen wird der Anteil an Täter*innen in der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus „mit 33,6 % höher eingeschätzt als sich dies im Wissen um Täterschaft innerhalb der eigenen Familien widerspiegelt (23,2 %)“. Mit Blick auf die Gruppe der Helfer*innen ist der Unterschied noch frappanter: „Während deren Anteil in der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus mit 15,4 % als vergleichsweise gering eingeschätzt wird, berichtet ein deutlich größerer Anteil an Befragten (32,3 %) von Helfer*innen in der eigenen Familie.“ www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf, S. 22. Die Gedenkstätte Stille Helden geht von 20.000 Menschen aus, die in Deutschland vom NS-Regime Verfolgten halfen. Das sind 0,03 Prozent der Bevölkerung.
[4] So Christian Friedel, der Rudolf Höß verkörpert, in einem Interview mit der NZZ.
[5] Etwa 424.000 ungarische Jüdinnen und Juden wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wovon etwa 80 Prozent sofort nach Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden. www.yadvashem.org/de/holocaust/about/fate-of-jews/hungary.html#narrative_info
[6] Der Trailer montiert Szenen aus dem Film mit folgenden Passagen aus einer Rezension im Time Magazine: „It’s about wanting the best for your children, following the rules and working hard, feeling that you deserve the best in life, entwined with the unspeakable.“
[7] www.nzz.ch/feuilleton/the-zone-of-interest-ist-die-antwort-auf-auf-schindlers-list-ld.1820512
[8] Sandra Hüller, die Hedwig Höß spielt, sagt zum Beispiel in einem Interview: „Unsere Arbeit hatte immer etwas damit zu tun, dass wir das die ganze Zeit im Bewusstsein haben, während die das nicht im Bewusstsein hatten. Auf dieser Diskrepanz hat sich die ganze Zeit die Arbeit bewegt.“