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27.09.2024, 09:20 Uhr
Rainer Merkel
Text & Debatte

Zum 1. Todestag des Schriftstellers Bernhard Keller

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© Katharina Kutnewsky

Der Schriftsteller Bernhard Keller, der am 4. April 1961 in München geboren wurde, verstarb am 28. September 2023 nach schwerer Krankheit im Alter von 62 Jahren. Zum kommenden 1. Todestag hat der Autor Rainer Merkel einen Nachruf auf ihn verfasst, den wir im Folgenden mit freundlicher Genehmigung hier abdrucken.

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Der Todestag von Bernhard Keller jährt sich und sein neues Buch ist fertig. Und es ist wieder mal ein Beleg dafür, wie das Leben von Autoren sich in ihren Büchern fortsetzen und ein regelrechtes Eigenleben entwickeln kann. In gewisser Hinsicht ist Amor Vati, der noch unveröffentlichte letzte Text von Keller, auch ein Selbstgespräch, in dem der Autor sich in zwei Figuren aufgespalten hat, um sie mit aller Gnadenlosigkeit aufeinander losgehen lässt. Mit diesem Text ist Bernhard Keller dort angekommen, wo er eigentlich hingehört, irgendwo zwischen Robert Walser und Harold Brodkey. Es ist ein herrlich absurder, aber auch trauriger und sich über mehrere Generationen erstreckender Roman über die Liebe und die Musik.

Das Spiel im Dunkeln, sein erster Roman (nach den 1996 erschienenen Drei Erzählungen) liegt schon fast zwanzig Jahre zurück. Es gab damals nur wenig Resonanz und die Zusammenarbeit mit S. Fischer fand keine Fortsetzung. Man könnte sagen, die meisten Leser haben Bernhard Keller nicht verstanden oder wollten ihn nicht verstehen. Er ist ein Autor, an den man sich gewöhnen muss. Die Düsternis und Don-De-Lillo-Haftigkeit seines ersten Romans ist in seinem neuen Buch einer fast eskapistischen Fröhlichkeit gewichen. Mit Spiel im Dunkeln hatte er das schon versucht: Dem Leser etwas entgegenzusetzen, ihn auf Abwege zu führen, dort wo er gar nicht hinwill. Die Gefangenahme der Tochter einer Apothekerin, mit der der Kidnapper einen subversiven Erotisierungsdiskurs veranstaltet, liegt eine ähnliche analytisch-perverse Dreieckskonstellation zugrunde wie in Amor Vati. Aber es sind nicht Mutter und Tochter, die in die Fänge eines philosophierenden Kidnappers geraten, sondern Vater und Sohn, die sich zum ersten Mal treffen, um dann gleich in einer Liebesangelegenheit miteinander in Konkurrenz zu treten. Der Berufsmusiker und Flötist Clemens ist eigentlich mit Juliana, der Gleichstellungsbeauftragten der Bayerischen Staatsoper, glücklich liiert, als er auf einmal von seinem verloren geglaubten Vater heimgesucht wird. MLV, wie er ihn nennt, ist nicht nur Psychotherapeut, sondern auch erotomanischer Egozentriker und paradoxerweise die sympathischste Figur des Romans. Eine Weile gelingt es Clemens, seine Freundin von seinem Vater fernzuhalten. Aber dann erkrankt er an einem mysteriösen und geradezu bizarren Virus, der sich zwar als böser Traum erweist, aber doch fatale Konsequenzen hat.

Literarisch hat sich Keller von den amerikanischen Vorbildern weitgehend entfernt. War Spiel im Dunkeln auch ein Buch gegen die Geschmeidigkeit der US-amerikanischen Literatur, ist Keller in Amor Vati ganz woanders gelandet. MLV, der verlorene Vater, ist eine Meta-Instanz, ein sardonisch freudiger Super-Therapeut, der sich in das Leben des Sohns „einlädt“. Ein ungebetener Gast, den man am liebsten gleich wieder los werden möchte. Bei einer Richard Strauss-Aufführung fängt alles an. „Mein leiblicher Vater“, erzählt Clemens, „hatte sich eine Karte für Arabella besorgt und für uns beide in der Pause einen Stehtisch im Ionischen Saal der Bayerischen Staatsoper reserviert. Der Weg vom Graben ins Foyer dauerte eigentlich zu lange...“ Aber der Sohn ist zu neugierig und die Falle schnappt zu. Psychotherapeuten sind bekanntermaßen die schlimmsten Väter, die man sich denken kann, und Keller benutzt MLV wie einen Bündnispartner, den er auf seine Hauptfigur und auch ein bisschen auf sich selbst angesetzt hat. Das Ganze ist eine fröhliche Desavouierung der Therapie-, Kunst- und Literaturszene. Die Liebe des Sohnes, zu sich selbst und zu seinem Vater und zu seiner Freundin, wird immer mehr zu einem Delirium. Eine Weile sieht es so aus, als würde das Unweigerliche passieren und der Vater triumphieren. „Ein Vater darf keine Mauer für seinen Sohn sein“, beklagt sich Clemens, „aber mein Vater war genau das... Eine Mauer unüberwindlich und unzerstörbar. Ein Vater muss ein Tor sein, ein offenes Tor, der Sohn muss hindurchgehen könnten, ohne zu wissen, wohin es geht...“

Keller wusste selbst, was es heißt Vater zu sein. Sein Buch über das Heranwachsen seines eigenen Sohnes liest sich wie eine Vorstudie. Die hagiographische Beschwörung des neuen Lebens in Babybuddha, das 2016 als E-Book bei Hanser erschienen ist, ist keine Baby-Verklärung, sondern eine philosophische Forschungsarbeit, es sind Tiefenbohrungen in die eigene und die Seele des Kindes. Schon hier hatte sich eine Leichtigkeit in Kellers Schreiben eingeschlichen, als hätten ihn die jahrelangen Anstrengungen als Autor auf wundersame Weise gelassen und beschwingt werden lassen. Babybuddha kann man als Gebetstunde und Gedankenrätsel lesen. Keller setzte das Buch in seinem Blog noch eine Weile fort, wenn auch am Ende die Taktung immer unregelmäßiger wurde. Die schwere Erkrankung verhinderte das Weiterschreiben. Möglicherweise war es aber auch der Roman, der ihn zu sehr in Anspruch nahm. Denn neben den luziden Vater-Sohn-Passagen, gibt es auch noch eine Migrationsgeschichte, die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert zurückreicht. Der Lebensweg eines kroatischen Schneiders läuft parallel zur Handlung und kommt dann, als eine Art psychoanalytische Selbstinszenierung des Therapeuten-Vaters, auf einmal in der Gegenwart an. Das Handwerk des Schneiders, der Alltag des Flötisten und der intellektuelle Tanz zwischen Vater und Sohn sind so miteinander verwoben, dass die epische Grundierung des Textes alle Schwere verliert.

In dieser mal traurigen, mal clownesk mäandrierenden Geschichte erfindet Keller seine ganz eigene idiosynkratische Welt, die keine Vorbilder mehr braucht. „Du bist krank“, sagte MLVs Stimme irgendwann zu seinem Sohn, „du bist sehr krank. Deine Krankheit besteht darin, dass du ein Krankheitsüberträger bist...“ Das Musikinstrument wird dabei zum Hauptschuldigen. In der Krankheit seines Protagonisten verarbeitet Keller auch die Corona-Pandemie, der er einen ganz eigenen wuchernden Absurditätsraum verschafft. „Die Sporen deines Piccolopilzes, die gewissermaßen auf den von dir geblasenen Tönen aufsitzen“, erklärt man dem in Quarantäne eingesperrten Clemens, „entwickeln ihre Tödlichkeit erst über den Umweg der Reflexion... Der direkte Ton ist der ungefährliche, der reflektierte Ton hingegen ist tödlich... Das ist das Wagnerische Mysterium der Musik, das ist sein auratischer Klang...“ Der Erzähler überlebt den Virus, verliert aber seine Freundin. Juliane wendet sich von ihm ab und läuft in das väterliche Lager über. „Er war anders, als sie gedacht hatte“, analysiert Clemens. „Er war einfühlsam. Dann schlug er vor, schwimmen zu gehen. Er lud sich eine Babyphone-App aufs Handy und Juliane lud sich auf ihr Handy die Elternstation.“ Clemens liegt derweil krank danieder und erlebt in seinem düsteren Traum den Untergang des Orchesters. „Erst hatte ich Bedenken, dich allein... zu lassen“, sagt Juliana, „aber MLV schaffe es, sie zu zerstreuen. Er kann sehr überzeugend sein.“ Hier hätte die Geschichte zu Ende sein können, aber man hat die Rechnung natürlich ohne den Autor gemacht.

Die letzten Szenen spielen in einer sphärischen und abseitigen Welt. Die reiche Gönnerin seines Vaters, die gleichzeitig seine Patientin ist, lädt Clemens und ein paar seiner Kollegen zu einer musikalischen Aufführung in ihr Haus ein. Eine klaustrophobische Horrorkonstellation, die Keller aber als Erlösungsgeschichte erzählt. Auch ein Schriftsteller taucht noch auf. Nichts „Intellektuelles like Beckett", beschreibt er dabei sein neues Projekt, sondern „wirkliche Bedeutungslosigkeit...“ Zumindest in der Welt des Romans ist die Musik größer als die Literatur. Für Keller, der viel zu wenig veröffentlicht hat, ist das das perfekte Szenario. „Wir Musiker“, schreibt er, „sind schwarz gekleidet... Schwarz ist die der Musik angemessenste Farbe... Denken Sie daran“, lässt er den Generalmusikdirektor des Orchesters einmal sagen, „Musik ist etwas für Blinde, sie müssen nicht sehen können, um zu hören. Aber noch bedeutender erscheint mir, dass die Musik selbst blind ist.“ Selten hat man ein so schönes Psychogramm eines Berufsmusikers gelesen. Erlebt man Orchestermusiker oft als frustrierte und an ihren Beschränkungen leidende Künstler mit unerfüllten Sehnsüchten, ist Kellers Musiker ganz mit sich im Reinen. Er braucht keine Wertschätzung und keine Anerkennung, er braucht keinen Applaus mehr. Allein die Musik ist genug. „Die Geschwindigkeit mit der am Ende der Vorstellung die Fiktion und Illusion vom Applaus ruiniert wird“, denkt er noch, „war mir zu hoch. Ich dachte darüber nach, ob man nicht ein Applausverbot oder eine Applausverzögerung einführen könnte.“ Keller zog sich schon zu Lebzeiten immer wieder zurück, zelebrierte das Alleinsein in den Bergen und schrieb manchmal auch nur noch für sich. Er hatte seine Arbeit als Buchhändler aufgegeben, um nur noch Schriftsteller und Vater sein zu können. Sein letztes Buch zeigt, dass ihm das mehr als gelungen ist. Amor Vati ist ein glitzerndes Juwel, dessen Strahlkraft sich auch ohne das große Publikum entfaltet. Und am Ende findet Keller mit Amor Vati ja vielleicht doch noch in den Literaturbetrieb zurück. Wenn auch mit einer (schmerzvollen und unnötigen) Verzögerung. 

„Auf dem Weg dorthin küssten wir uns auf verschiedenen Etappen. Im Brunnenhof neben dem Cuvilliéstheater. Vor einem Flussgott, der einen Fisch in der Hand hält. Küssen auf der Straße, in der Öffentlichkeit ist ebenso jugendlich wie befreiend. Der Raum des Kusses ist unendlich groß“, erinnert sich Clemens über seine erste Begegnung mit Juliana.

„Wir glaubten, ein Echo zu hören, das merkwürdig asynchron klang... Über unsere nimmermüden, feuchten Lippen glitten und sprangen dunkelsilberne Fischchen verbaler Lust. In dieser Intimität verlor das Obszöne das Obszöne. Es war im Grunde ein sachliches Gespräch...“ Es verklingt aber dann bald schon und Clemens ist wieder allein. Er gibt nicht auf, nimmt sein Instrument zur Hand und spielt weiter. „Ich übte... Was für ein Glück. Es gibt nichts Besseres im Leben als zu üben. Man kommt nie dorthin, wo man hin will mit dem Üben, und wenn man dann doch dort hingekommen ist, kann man nicht bleiben. Man muss weiterüben, immer weiterüben.“ Weiterschreiben, könnte man sagen, man muss weiterschreiben, immer weiterschreiben. Auch wenn Bernhard Keller das jetzt nicht mehr kann. Lesen, weiterlesen kann man ihn und hoffentlich schon ganz bald.