Was haben Anton Tschechows Gewehr, Ursula Le Guins Handtasche und Oskar Maria Grafs Bürste gemeinsam? – Literarische Erkundungen (14)

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Ein Originalmanuskript Tschechows

In der neuen Folge der literarischen Erkundungen begibt sich Fabienne Imlinger in die Steinzeit und findet dort Ursula K. Le Guin, die mit ihrer Handtasche Rowdys in die Flucht schlägt. Von der Steinzeit ist es nur ein Katzensprung zur Monacensia, zu Mary Poppins, Anton Tschechows Gewehr und Harry Potter. Auch die Bürste von Oskar Maria Graf hat wieder einmal einen kurzen, aber enttäuschenden Gastauftritt. Schließlich gibt es auf die Frage, wie das alles zusammenhängt, eigentlich nur eine Antwort: die Überraschungs-Caddy Theorie des Erzählens. 

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Von Anton Tschechows Gewehr und Oskar Maria Grafs Bürste

Wir kennen uns jetzt schon eine Weile, liebe Leser*innen. Sie kennen meine Tanten, Sie wissen, wie es um meine Vorliebe für Postkarten und mein Verhältnis zu Karl Valentin bestellt ist. Und Sie warten seit geraumer Zeit darauf zu erfahren, was Oskar Maria Graf mit der Bürste an seinem Schreibtisch gemacht hat und wer in der Monacensia die sechs Meter hohen Fenster putzt. 

Kennen Sie Tschechow? Sie wissen schon, der Typ mit dem Gewehr? Von ihm stammt ein berühmter Rat für angehende Autor*innen: Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, muss es im letzten Akt abgefeuert werden. Er wollte damit sagen, dass man nicht zu viele überflüssige Details in seine Geschichte einbauen, sondern sich lieber auf die Dinge konzentrieren sollte, die im Verlauf der Handlung auch tatsächlich eine Rolle spielen.

Anton Tschechow lebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland. Er schrieb Theaterstücke mit schusswaffentechnisch eher unverdächtigen Titeln wie Der Kirschgarten oder Drei Schwestern oder Die Möwe, doch der Schein trügt: In Die Möwe erschießt eine der Hauptfiguren eine Möwe.

Tschechow war offenbar nicht nur eine Art literarische Marie Kondo, sondern außerdem äußerst konsequent. 

Im deutschen Wikipedia-Eintrag zu Tschechow lese ich den erstaunlichen Satz, dass „die Autorentätigkeit, die im Gegensatz zur Medizin finanziell etwas einbrachte, auch während des Studiums sein Hauptanliegen“ blieb. Der englische Wikipedia-Eintrag Chekhov’s Gun zeigt, vielleicht weniger überraschend als die Lukrativität des Autorendaseins in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts, ein Foto, auf dem ein Gewehr an einer Wand hängt.

Dieses Foto stammt nicht etwa aus Tschechows Haus oder aus den Kulissen eines seiner Theaterstücke. Es zeigt vielmehr einen Ausstellungsraum des Musée de la Vie Quotidienne dans les Pyrénées de Bagnères-de-Bigorre. Dieses Museum des Alltags versammelt die Kollektion einer gewissen Jeanne Sayous, und die Gegenstände dokumentieren, so die Homepage, einen bereits vergangenen Alltag: die Wirtschafts- und Lebensweise einer Familie in dieser Region im 19. und 20. Jahrhundert. 

Ich würde Ihnen jetzt gerne eine verschlungene Geschichte darüber erzählen, wie Jeanne Sayous, das Museum in den Pyrenäen und Anton Tschechow mit der Bürste von Oskar Maria Graf zusammenhängen, eine Geschichte, in der ein Gewehr vorkommt, das dann auch tatsächlich abgefeuert wird. Ich verstehe die Notwendigkeit dramatischer Zuspitzung, die Lust am Erkennen von Zusammenhängen. Wie schön es ist, wenn sich eins zum anderen fügt wie Perlen auf einer Schnur, wenn die mühsam geknüpften Fäden langsam ein Muster erkennen lassen und man schließlich einen Teppich in der Hand hält. 

Sie ahnen vielleicht schon, worauf ich hinauswill. 

Die Bürste von Oskar Maria Graf ist das Gegenteil von Tschechows Gewehr. Wer weiß schon, warum sie an seinem Schreibtisch hing, warum sie dort immer noch hängt, wofür sie benutzt wurde oder ob sie im Laufe meiner Erkundungen noch eine Rolle spielen wird? Ich weiß es jedenfalls nicht, und deshalb möchte ich, obwohl es bis zum letzten Akt noch ein Weilchen hin ist, schon jetzt Ihre Erwartungen dämpfen. Ich halte es weniger mit Tschechow und mehr mit meinen Tanten und der Mutter von Forrest Gump: Eine Geschichte ist wie ein Überraschungs-Caddy. Man weiß nie, was man bekommt. 

Und das gilt gleichermaßen für die Leser*innen wie für die Verfasser*innen von Geschichten. 

Die Handtasche von Ursula K. Le Guin

Ich war so stolz auf meine Überraschungs-Caddy-Theorie des Erzählens, dass ich den Spruch schon auf eine Postkarte drucken lassen wollte. Dann fiel mir auf, dass sie leider eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ursula K. Le Guins „Tragetaschen“-Theorie des Erzählens hat. Sie wissen schon: Ursula K. Le Guin, Autorin feministischer Science-Fiction-Romane wie The Left Hand of Darkness, dem bekanntesten Band des Hainish-Zyklus. In ihrem gleichnamigen Essay The Carrier Bag. Theory of Fiction von 1986 formuliert Le Guin ihre Erzähltheorie. Sie greift dabei Elizabeth Fishers These auf, dass das erste Werkzeug und damit der Beginn der menschlichen Kultur ein Behälter gewesen sein muss.[1]

Traditionelle Evolutions- und Erzähltheorien gehen von Waffen und Helden aus, von einer konfliktgetriebenen Handlung, die auf einen Höhepunkt zuläuft, etwa einen Kampf mit einem Mammut, aus dem der Held siegreich hervorgeht, dank einer Waffe wie einem Knochen, einem Stock oder einem Speer – alles Gegenstände, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem, naja, Phallus aufweisen. Sie lachen, aber denken Sie mal an Harry Potter. (Und kommen Sie mir jetzt nicht mit der Unterhaltungsliteraturkiste, sonst komme ich Ihnen mit Tschechows Gewehr). 

Demgegenüber nun der Beutel, signature piece der steinzeitlichen Sammler*innen und Erzähler*innen einer anderen Art von Geschichte. In einen Beutel lässt sich alles Mögliche hineinlegen. Wie Mary Poppins uns gezeigt hat, finden selbst die unwahrscheinlichsten Dinge in einer Tasche Platz. Und natürlich weist der Beutel, die Tasche, der Behälter, die Schachtel, und sogar der Überraschungs-Caddy eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einer, naja, Vulva auf. Was nicht bedeutet, dass sich damit nicht auch kämpfen ließe, wenn’s drauf ankommt: 

I am an aging, angry woman laying mightily about me with my handbag, fighting hoodlums off.[2] 

Das könnte von meinen Tanten sein, oder von Liesl Karlstadt, ist aber von Ursula K. Le Guin. Sind die Strolche einmal vertrieben, kann man weiter Geschichten sammeln und erzählen, wie die Dinge miteinander und mit uns verbunden sind. Statt von Helden erzählen diese Geschichten von Menschen, so Le Guin. Nicht in erster Linie von Konflikten und ihrer (gewaltsamen) Lösung, sondern von den großen und kleinen Dingen des Lebens, vom Leben als einem fortwährenden Prozess.

Und sehen Sie nur, wie gut sich schließlich doch noch alles fügt: Hier das Gewehr, da die Tasche. Hier Harry Potter mit seinem Zauberstab, dort Jeanne Sayous und ihre Sammelleidenschaft, die nicht dem Heroischen oder Außergewöhnlichen galt, sondern dem Alltäglichen, in dem das Gewehr nur ein Gegenstand unter vielen ist. Was ist ein Museum, was ist ein Ort wie die Monacensia schließlich anderes als eine gigantische Tragetasche, in der unzählige Gegenstände liegen und darauf warten, dass wir sie zu Geschichten zusammenfügen? 

Es gibt nur ein Problem. 

Während ich die Fundstücke, die ich auf meinen Streifzügen durch die Monacensia und durch das Internet gefunden habe, in meine Tasche gelegt habe, um sie für Sie hervorzuholen und miteinander zu verbinden, habe ich eine Sache die ganze Zeit über unterschlagen. Nein, nicht die Bürste. Sondern die Frage: Wer putzt die Fenster der Monacensia

Eine andere Geschichte vom Sammeln 

Wir kennen uns ja jetzt schon eine Weile, liebe Leser*innen. Und deshalb ist es höchste Zeit, Ihnen zu erzählen, wie ich zu der Frage „Wer putzt?“ kam. Es ist eine Geschichte, die auch mit Sammeln zu tun hat, die allerdings keine friedliche weibliche Alternative zum männlichen Phallus, ähm, ich meine zum Gewehr und den männlichen Heldenmythen bietet. 

Letztes Jahr war ich beim Female Peace Palace Festival, das die Monacensia zusammen mit den Münchner Kammerspielen auf die Beine gestellt hat.[3] Bei der Eröffnung des Festivals saß Françoise Vergès auf dem Podium – Sie wissen schon, die postkoloniale Theoretikerin und Aktivistin. Vergès sprach unter anderem darüber, dass sie oft zu Veranstaltungen eingeladen werde, um über die Zukunft des Museums zu diskutieren, und insbesondere über die Zukunft des postkolonialen Museums. 

Podium von der Veranstaltung Female Peace Palace. Kristina Lunz (links), Tessa Hart (im Bildhintergrund), Françoise Vergès (rechts). Foto: Gabriela Neeb

Dazu muss man wissen, dass viele europäische Museen, und vor allem die so genannten ethnographischen oder ethnologischen Museen, ihre Objekte auf, naja, dubiosen Wegen erworben haben. Wir Europäer waren lange Zeit äußerst eifrige Sammler, und zwar insbesondere in den Ländern, die wir zuvor gewaltsam kolonisiert hatten. Nicht einmal Mary Poppins’ Tasche wäre groß genug gewesen für all die Gegenstände, die wir haben mitgehen lassen und die noch heute die Depots europäischer Museen füllen. Viele Gemeinschaften und Staaten fordern jetzt Restitution, womit nicht nur, aber oft in erster Linie, die Rückgabe der entwendeten Objekte gemeint ist. 

Das also ist in etwa der Kontext der Veranstaltungen, zu denen Françoise Vergès eingeladen wird, um über die Zukunft der Museen und ihrer Bestände zu diskutieren. Und die erste Frage, die sie bei solchen Veranstaltungen stellt, lautet: Wer putzt eigentlich das (postkoloniale) Museum der Zukunft?

Die Frage ist so genial, weil sie so einfach ist und dabei so vieles deutlich macht. Zum Beispiel das Fortbestehen neokolonialer globaler Ausbeutung, das zur Folge hat, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, die putzen – und zwar nicht nur im Museum, sondern überall: im Fitnessstudio, im Büro, und vor allem in Privathaushalten – Frauen of colour sind, viele von ihnen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte.[4] Diese Frauen (und zum Teil auch Männer) bleiben unsichtbar, sie haben keine Namen, und treten oft nur dann in Erscheinung, wenn sie eine Grenze überschreiten: 

Auch deswegen ist die Frage von Françoise Vergès so wichtig. Sie macht deutlich, für wen Kunst gedacht ist, für wen die Diskussionen um Restitution und Provenienzforschung, die Geschichten über die Lücken in den Archiven, und auch diese literarischen Erkundungen. Zwar kenne ich Sie nicht persönlich, liebe Leser*innen. Aber ich gehe stark davon aus, dass Sie nicht ins Museum oder in die Monacensia gehen, um dort zu putzen – genauso wenig wie ich natürlich. 

Um die Frage zu beantworten, wer putzt – in der Monacensia, aber nicht nur dort – eignet sich vermutlich weder Tschechows Gewehr noch Le Guins Tasche. Womöglich lässt sich daraus überhaupt keine Geschichte machen, schon gar keine schöne oder spannende. Ich will dennoch versuchen, Ihnen davon zu erzählen. 

Beim nächsten Mal.

Denn Sie wissen ja: Ich habe nicht nur eine Schwäche für Unordnung, sondern auch für Fortsetzungsgeschichten und Cliffhanger.

Die „Literarische Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu (jeden ersten Dienstag) und setzen sich mit der Frage „Wer putzt?“ auseinander. Mein Name ist Fabienne Imlinger, ich bin Autorin und Literaturwissenschaftlerin und betreibe zusammen mit Martina Kübler den Buchpodcast „Ich lese was, was du auch liest“.  

 

[1] Elizabeth Fisher: Woman's Creation: Sexual Evolution and the Shaping of Society. McGraw-Hill Book Co., New York 1980.

[2] Ursula K. Le Guin: „The Carrier Bag Theory of Fiction”. In: Le Guin: Dancing at the Edge of the World. Grove Press, New York 1989, S. 165-170, hier S. 168.

[3] Zum Festival gibt es auch die Publikation Female Peace Palace. Schreiben, Widerstand und Pazifismus im Krieg, hg. Anke Buettner, Olivia Ebert, Viola Hasselberg, Verbrecher Verlag 2024.

[4] Siehe dazu ausführlicher den Artikel von Françoise Vergès.