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04.09.2024, 10:06 Uhr
Klaus Hübner
Rezensionen

Thomas Kraft und sein Munich-Feeling in dem neuen Roman „Der nackte Wahnsinn“

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(c) Allitera Verlag

Kein Roman im herkömmlichen Sinne sei Der nackte Wahnsinn, befindet Rezensent Klaus Hübner, doch eine treffende Beschreibung der Seele Münchens in der Nachfolge der Serien von Helmut Dietl. Was den soeben, im September 2024, erschienenen Roman von Thomas Kraft lesenwert macht, finden Sie in dieser Besprechung.

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Ein literarisches Porträt der bayerischen Landeshauptstadt von den späten 1970er-Jahren bis heute – ganz schön anspruchsvoll für einen Autor, der 1959 nicht etwa in München, sondern in Bamberg geboren wurde! „Letztlich war ich für Punk zu alt, für 68 zu jung gewesen.“ Thomas Kraft, Autor, profilierter Germanist und umtriebiger Organisator literarischer Veranstaltungen aller Art, geht sein Riesenthema forsch und selbstbewusst an – Behäbigkeit oder Zögerlichkeit sind seine Sache nicht. Flotte Schreibe, könnte man sagen, leserfreundlich aufgeteilt in 21 Kurzkapitel. Festhalten muss man gleich: Ein Roman im herkömmlichen Sinne ist Der nackte Wahnsinn wirklich nicht, trotz Untertitel. Eher ein mit bedenkenswerten Reflexionen über Gott und die Welt durchsetzter Versuch einer Autobiografie, nach dem Motto „München, wie ich es sah und erlebte“. Oder, vielleicht noch eher: eine dem prallen Leben abgeschaute Fiktion.

Vorangetrieben wird die Handlung vor allem durch ein Zentralmotiv: die ständige Wohnungssuche, zunächst für sich selbst und später für den Sohn. Der Ich-Erzähler, der anfangs Künstler werden wollte, ein vom „film noir“ begeisterter Jazz-Fan, ist meistens unterwegs, hat Termine aller Art in fast allen Münchner Stadtteilen und lernt nach und nach die „Szene“ kennen, ehe er selbst Teil von ihr wird. Er sieht sich zuallererst als Perfektionisten: „Für mich muss immer alles ganz genau stimmen, damit es mir wirklich gefällt. Das einzig Wichtige war und ist, etwas richtig zu machen, absolut perfekt.“ Und weil er sich in der Kultur- und speziell Literaturgeschichte der Stadt bestens auskennt, begegnet er zahlreichen Persönlichkeiten, die man sonst eher selten sieht. Weil sie nämlich längst tot sind. Aber sie sind eben unverzichtbar für sein Munich-Feeling – und insofern natürlich recht lebendig, wenn auch nur im Kopf. Aber, und das gilt ganz grundsätzlich für diesen Prosatext: Was im Kopf des Erzählers abläuft, ist mindestens genauso wichtig wie das, was realiter auf den Straßen und Plätzen der Stadt geschieht.

Die Liste der Kultur-Promis, die in diesem Buch ihre Auftritte haben, ist lang: Hans Magnus Enzensberger, Herbert Achternbusch, Rainer Werner Fassbinder, Wolf Wondratschek, Jörg Fauser, Klaus Lemke, Roger Willemsen, Ali Mitgutsch, Ulrich Beck, sogar Leonard Cohen oder David Bowie. Oder der „Obststandl-Didi“ an der U-Bahn-Station Universität. Dazu kommen Carry Brachvogel, Franziska zu Reventlow, Anita Augspurg, Joachim Ringelnatz, Oskar Maria Graf, Erich MühsamOtto Gross, Emmy und Hugo Ball, auch Lenin und Clara Zetkin. Und viele, viele andere, darunter auch Jakob Wassermann, über den Thomas Kraft 2008 eine kluge und lesenswerte Biografie veröffentlicht hat.

Lang ist auch die Liste der Schauplätze, meistens Bars, Kneipen und Läden, speziell in Schwabing und in der Maxvorstadt: der Atzinger natürlich als bevorzugte Anlaufstelle für die Uni-Leute, das Max Emanuel mit seinen nicht immer jugendfreien „Weißen Festen“, das Tambosi am Odeonsplatz sowie eine ganze Reihe bekannter Szenetreffs und Hotels in der Innenstadt, auch längst untergegangene Etablissements wie das Adria, die Engelsburg oder das Café Schneller.

Besser einen guten Anzug besitzen als drei schlechte

Stets mittendrin in diesem anregend lebendigen und oft ein wenig verrückten Gewimmel: das stil- und modebewusste Ich, höflich, kommunikativ, extrovertiert und bald bekannt wie ein bunter Hund. „Mein Motto lautet: Besser einen guten Anzug besitzen als drei schlechte.“ Auch ein bisschen eitel und selbstgefällig ist dieser Erzähler, vor allem in erotischer Hinsicht. „Wir kannten kein Erbarmen. Wer hielt länger durch. Sex war kein Minutenspiel, sondern etwas für die lange Nacht“. Nicht immer und überall natürlich: „Oder auch so hitzig im Wagen, dass die Fenster beschlugen und ich gerade noch einen Parkplatz ansteuern konnte.“ Sich selber findet der Erzähler jedenfalls ziemlich cool: „Mit meinen Umgangsformen, einer gewissen Höflichkeit und etwas Charme spreche ich offenbar beide Geschlechter an … Aber ich fühle mich klar nur zu Frauen hingezogen.“ Ein vitaler Kreativer also, ein um „Stadtbaukunst“ bemühter, die geldgeile Gentrifizierung der Stadt misstrauisch beäugender Architekt, der sich um Behausungen bemüht, „die gemeinsames Wohnen und das Entstehen von öffentlichem Raum erleichtern“. Und zugleich die perfekte Verkörperung dessen, was man früher einen „tollen Hecht“ genannt hätte. Man kann diese Attitüde mögen oder eher nicht, dem Buch jedenfalls verleiht sie einen Hauch von Michael Graeters legendären Abendzeitungs-Kolumnen oder, wem das besser gefällt, einen Touch der unsterblichen Fernsehserien von Helmut Dietl.

Was dieses amüsante München-Panoptikum zu einem besonderen Buch macht, sind eher die ruhigeren, nachdenklich machenden essayistischen Passagen, die Reflexionen über Lifestyle und Mode und insbesondere über Architektur und Stadtentwicklung. Die hier nicht allzu gut wegkommt, weil die anregend kreative „Wahnmoching-Qualität“ der Stadt peu à peu auf der Strecke geblieben ist. Exemplarisch für das, was in München seit Jahren schiefläuft: die Türkenstraße. „Der Denkmalschutz wird ausgehebelt, der Investor versucht, Geld zu machen, die Baufirma will ebenfalls Geld machen, die Menschen wollen dort wohnen. Auf diese Weise verschwindet genau diese Identität, die wir an den Städten eigentlich so schätzen. Das heißt nicht, dass Städte sich in ein Museum verwandeln sollten.

Städte sind immer der Veränderung unterworfen und sie müssen sich auch verändern. Sie müssen auch ökonomisch sein. Das heißt aber, dass man viel stärker darauf achten muss, dass diese Veränderungen verträglich und im Einklang mit dem Leben der Menschen passieren … Das, was man früher gebaut hat wie die Borstei in München, kleine Genossenschaftsviertel, die Maikäfersiedlung in Berg am Laim bis zu dem, was damals an hochherrschaftlichen Gebäuden in Bogenhausen gebaut wurde – das war alles besser als das, was wir heute bauen.“ Das ist natürlich eine kräftige Watschn für die Stadtverwaltung, und an weiteren kritischen, bisweilen fast sarkastischen Bemerkungen zur Baubranche und zur Rathauspolitik fehlt es ebenfalls nicht.

Auch über andere große Themen wird lebensklug und oft augenzwinkernd sinniert, zum Beispiel über das Altern: „Überhaupt ist es so eine Sache mit dem Alter, alles eine Frage der Perspektive. Zwar runzelt während der Jahre die Haut, aber wenn man den Enthusiasmus aufgibt, dann runzelt die Seele. Dieser Gefahr hoffe ich, bislang entgangen zu sein … Das Älterwerden hat ja auch gesundheitliche Vorteile. Zum Beispiel verschütte ich ziemlich viel von dem Alkohol, den ich trinken möchte. Und das Gute an der zunehmenden Senilität ist, dass sie mich hindert, sie zu bemerken. Das ist wunderbar.“

Der nackte Wahnsinn ist eine nicht unkritische, aber immer warmherzige Liebeserklärung an München und seine manchmal recht gspinnerten Bewohnerinnen, m/w/d. Wie die Stadt in den letzten fünfzig Jahren zu dem wurde, was sie heute ist, und was genau ihre Seele ausmacht, das erfährt man bei Thomas Kraft. Über viele seiner Einschätzungen kann man wunderbar streiten, und ganz große Literatur ist sein Buch ganz bestimmt nicht. Aber es ist flott und süffig erzählt und bestens geeignet für ein paar Lesestunden an der Isar, im Englischen Garten oder im Nymphenburger Schlosspark. Ein nettes Geschenk für begeisterte Münchnerinnen und überzeugte Münchner ist es auch. Und für alle Zeitgenossen, die genau das werden wollen. 

Thomas Kraft: Der nackte Wahnsinn. München-Roman. Allitera Verlag, München 2024, 165 S., € 20,00.

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