Deutsch-jüdische Gespräche (10): Boris Schumatsky und Rainer René Mueller

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Boris Schumatsky (l.) und Rainer René Müller, Foto (c): Natalia Mikhaylova

Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das zehnte Gespräch führte der Schriftsteller Boris Schumatsky mit dem in Würzburg geborenen Dichter und Künstler Rainer René Mueller.

*

BORIS SCHUMATSKY: Eigentlich wollte ich mit dir über das jüdische Unbehagen sprechen; aber da dies ein „deutsch-jüdisches Gespräch“ ist, lass uns zuerst darüber nachdenken: nicht was an uns jüdisch ist, sondern was an uns deutsch ist. Und für mich ist die Antwort klar: Es ist die Sprache, die ich gewählt habe. Und obwohl ich dieses deutsche Wort „fremdgehen“ furchtbar finde, beschreibt es für mich doch ziemlich genau, was ich getan habe: Ich habe meine russische Muttersprache verlassen, ich habe sie betrogen. Aber jetzt zu dir, was würdest du an dir vor allem als deutsch bezeichnen?

RAINER RENÉ MUELLER: Bei mir ist das ein bisschen kompliziert, weil – zum Beispiel – meine Mutter wurde noch unter dem österreichischen Kaiserreich geboren. Meine Ausrichtung, was ich gelernt habe oder meine deutsche Sprachlichkeit und das, was damit im Hintergrund zusammenhängt, auch kulturell, ist eher ausgerichtet nicht auf das, was heute Deutschland ist, sondern auf das, was man früher unter Böhmen verstand. Ein Selbstverständnis, das hinsichtlich des Deutschen zurückgeht auf eine überkommene Erfahrungswelt, die mit der österreichischen Monarchie zusammenhängt, die natürlich 1918 zu Ende war, meine Großmutter und meine Mutter aber damals noch in den Reststaaten des zerfallenen Österreichs lebten, in Böhmen, in der damals entstandenen Tschechoslowakischen Republik. Die Sudetenfrage und was damit zusammenhängt, wirkte sich erst später aus. Sie haben zweisprachig, dreisprachig, zum Teil, die Großmutter, viersprachig gelebt.

Und ich bin sozusagen ein Spätkömmling in dem, was man heute als Deutschland bezeichnet. Meine Mutter ist, 1946 vertrieben aus der Tschechoslowakei, mit einem Transportwagen, einem Viehwaggon nach Deutschland, in die Würzburger Gegend gekommen, nachdem sie vorher im Arbeitslager in Saaz war. Meine Großmutter landete mit einem ähnlichen Transport in der Nähe von Potsdam. Und ich bin 1949 auf die Welt gekommen, mehr oder weniger zufällig hier, also in Würzburg. Und ich habe in meinem Aufwachsen immer eine sehr ambivalente oder mehrfach gespaltene Wahrnehmung dessen gehabt, was mich als deutsch umgeben hat.

SCHUMATSKY: Wenn du von deiner Herkunft und Familie erzählst, muss ich an Jean Améry denken, wie er sich an seine Kindheit und Heimat erinnert hat. Er schreibt, dass seine Mutter „den Knaben in die Welt der christlichen Bilder und Geschichten“ einführte, dass zu seinen „Erinnerungen, die sich nicht auslöschen lassen, die christlichen Feste, namentlich die weihnachtliche Mitternachtsmette“ gehörten. Und damit sind wir beim Unbehagen am Jüdischen. Jean Améry erzählt weiter, dass er als Junge, der weiße Wadenstrümpfe und Kniehosen trug, kein Jude sein wollte. Er erinnert sich, wie er unruhig vor dem Spiegel stand und sein Spiegelbild betrachtete, „ob es mir wohl einen ansehnlichen deutschen Jüngling zeigte“. Und er fügt hinzu: „Natürlich nicht“. Wie ging es dir damit, mit dieser Zerrissenheit zwischen dem Deutschen und dem Jüdischen?

MUELLER: Schau mal, du musst dir vorstellen, ich bin hineingewachsen in eine unterfränkische kleine Stadt, die stockkatholisch war. Ich bin, als ich dort in die erste Klasse kam, oder schon im Kindergarten, geschlagen worden von anderen Kindern, weil ich erstens ein Flüchtlingskind war, zweitens, weil ich anders gesprochen habe, und drittens, weil ich nicht katholisch war. Und das hat mir eine lebenslange Fremdheit erzeugt. Ich bin in dieser Verletzung und in dieser Verletzlichkeit von zu Hause auch gar nicht geschützt worden.

Ich habe ein sehr ambivalentes Verhältnis zu meiner Mutter. Ich habe ja meinen Stiefvater erst später kennengelernt, weil ich meinen leiblichen Vater ja nie bewusst als Gegenüber erlebt habe. Ich konnte mich dreinschicken in das, was mich umgeben hat, obwohl ich immer versucht habe, mich unter Bewahrung meines Eigenen in der Umgebung einigermaßen einzupassen, aber ohne die Usancen zu übernehmen. Das war immer ein sehr zweischneidiges oder zweiwegiges Verfahren. Ich habe von früh an die Wahrnehmung von mir selber gehabt, dass ich innerhalb dieser merkwürdigen Familie irgendwie nicht dazu gehörte und trotzdem gezwungen wurde zu einer Art Loyalität. Diese Behütung und dieser Versuch von Jean Amérys Mutter, den Buben sozusagen zu assimilieren, so etwas habe ich nie erlebt.

SCHUMATSKY: In deiner Berliner Lesung in der Großen Hamburger Straße hast du sehr eindrücklich von deinem, ich muss sagen, sadistischen Stiefvater erzählt, das musst du jetzt nicht wiederholen. Aber mich würde interessieren, wie es dann weiterging, denn aus dieser Fremdheit heraus – oder der Entfremdung zu Trotz – bist du damals in die christliche Theologie gegangen, nicht wahr?

MUELLER: Ja, bin ich. Ich bin sozusagen, wie das oft bei Juden ist, an der protestantischen Kirche orientiert worden. Ich bin – ich weiß nicht mehr, wie das geschehen ist, einfach durch einen Zufall? – auf eine Bibelstelle gestoßen aus dem Alten Testament. Da geht es um Jakobs Kampf mit dem Engel. Er ringt mit dem Engel, und er sagt: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Und dieses „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ war für mich das Motto der frühen Jahre, bis in das zweiundzwanzigste Lebensjahr hinein. Das hat mich bestimmt, sozusagen, im geistlichen Leben: Eine Begnadung oder eine Segnung zu erlangen, um im Leben gerechtfertigt zu sein. Da mir klar war, dass ich das im Protestantismus nicht erreichen kann, habe ich mich der katholischen Theologie zugewandt, weil mir dort die aquinatische (hergeleitet von Thomas von Aquin) Klarheit besser gefallen hat.

Ich habe das drei Jahre studiert, bis es dann zu einem Selbstmordversuch kam, weil ich mit dem lieben Gott nicht mehr zurechtkam. Und dann habe ich die Theologie aufgegeben. So kann ich das in Kürze sagen. Also war mein Lebensweg sehr unterschiedlich von dem, was man da bei Améry beobachten kann oder bei anderen vergleichbaren Schicksalen. Zu dem Zeitpunkt war ich schon der doppelten Erfahrungswelt ausgesetzt: Einerseits wusste ich, dass ich jüdischer Herkunft bin, und andererseits, dass ich darüber nicht sprechen konnte, weil es in der Familie verschwiegen worden ist. Ich hatte das ja über die Großmutter erfahren –

SCHUMATSKY: – als du zwölf warst. Das ist natürlich eine Erfahrung, die zwar keine Parallele, aber so eine Art Widerhall in meiner Biografie hat, wo es in meiner Kindheit und im ganzen Leben meiner Elterngeneration eigentlich normal war, dass man das eigene Jüdischsein versteckte. Die Sowjetbürger hatten ja eine Eintragung der ethnischen Zugehörigkeit im Pass und da haben viele „Russe“ geschrieben. Mein Vater hat es damals nicht getan, aber ich erinnere mich noch sehr genau an die Gespräche, die mit mir geführt wurden, warum ich lieber doch kein „Jude“ im Pass haben sollte. Und während ich das erzähle, denke ich ein bisschen an deine Familiengeschichte und ich frage mich – du korrigierst mich, wenn ich etwas falsch verstanden habe –, aber ich glaube, deine Mutter und deiner Großmutter habe ihr Jüdischsein während der Nazizeit auch versteckt.

MUELLER: Die Großmutter hat das gemacht. Die Mutter wusste nicht, dass sie jüdisch ist. Die Großmutter hat es ihren Kindern verschwiegen.

SCHUMATSKY: Unglaublich!

MUELLER: Mir har sie es dann gesagt. Also eine Generation übersprungen. Das war das Problem, und auch mir hat sie aufgetragen, nicht drüber zu sprechen, so dass ich jahrelang das Wissen verschweigen musste aus Neigung und aus Vertrauen zur Großmutter. Ich konnte ja die Fremdheit in meinem eigenen familiären Zuhause nie auflösen. Das hatte auch mit der unehelichen Geburt zu tun. Du musst dir vorstellen, das war unmittelbar nach dem Krieg in der Bundesrepublik. Das war eine unglaubliche Schande, eine Flüchtlingsfrau, die ein fremdes Kind austrägt.

SCHUMATSKY: Und auch noch jüdisch ist.

MUELLER: Ja. Ich habe für mich dann schon meine Regelung gefunden, aber später erst.

SCHUMATSKY: Vielleicht machen wir an dieser Stelle einen Zeitsprung, denn es gibt eine Geschichte, die mich schon sehr lange beschäftigt. Du hast sie unserem gemeinsamen Freund Alexandru Bulucz erzählt. In dieser Geschichte geht es um ein Gespräch zwischen dir und deinem Rabbiner, und es geht darum, wie du deinen Stiefvater beerdigen lassen wolltest. Kannst du sie bitte erzählen?

MUELLER: Also: Ich war genötigt oder ich wollte, ich musste, ich hatte es zu tun, ich musste den Stiefvater beerdigen. Ich wusste aber, dass er sich sein Leben lang antijüdisch, antisemitisch verhalten und auch so gesprochen hat – mich hat er zum Beispiel immer als „Schachteljud“ bezeichnet, er hat mich einfach immer als Juden heruntergemacht. Und dann war er tot. Dann habe ich mir ausgedacht, dass ich diesen Mann, der von Haus aus katholisch war, nicht einer christlichen Beerdigung überlassen möchte, sondern ich habe mir überlegt und dann habe ich mit dem Rabbiner darüber gesprochen, ob ich nicht diesen Mann wider alle Regeln jüdisch aussegnen kann. Und zwar habe ich für ihn ein Grab gesucht, in Heidelberg am Bergfriedhof, wo er in Blickrichtung zum jüdischen Teil des Bergfriedhofes zu liegen kommt.

Und dann haben wir uns geeinigt. Ich habe dann einen Text bekommen, den ich sprechen konnte, und so habe ich ihn ausgesegnet und habe zu ihm gesagt: Schau mal! Jetzt hast du dein Leben lang auf die Juden geschimpft und die Juden misshandelt. Und jetzt wirst du hier bis in alle Ewigkeit liegen und wirst immer schauen müssen, auf den jüdischen Friedhof gegenüber. Und das ist die ganze Geschichte. Das ist natürlich etwas sehr Ungewöhnliches, dass ich da mit einem Rabbiner habe sprechen können, der frei und liberal genug war, mir diesen Weg zu ermöglichen. Der hat sich sicher nicht ganz nach der religiösen Regel verhalten, aber er hat es mir ermöglicht, danach wirklich befreit zu sein von der Belastung mit diesem Mann. 

SCHUMATSKY: Dein Stiefvater hat dir auch stolz erzählt, dass er den Juden stets helfen wollte und bei einem Transport zwei Juden mit Fäusten gegeneinander kämpfen ließ. Wer gewinnt, muss nicht auf den Transport und bleibt am Leben …

MUELLER: Ja, das ist in Brünn vor einem Transport passiert, in der Tschechoslowakei...

SCHUMATSKY: … wo deine Großmutter gelebt hat. Du hast erzählt, dass sie ihr Jüdischsein versteckt hat. Weil sie nur so überleben konnte?

MUELLER: Meine Großmutter kam als junge Frau aus Czernowitz über Wien in die Tschechoslowakei. Das war noch Ende des 19. Jahrhunderts. Und es war folgendes geschehen: Es gab bei der Registrierung ihrer Personaldaten – bei dem Wechsel nach Wien oder bei dem Wechsel in die Tschechoslowakei, das weiß man heute nicht mehr genau, jedenfalls habe ich die Papiere nicht zur Hand, – da wurde durch einen Protokollfehler ihre Religionszugehörigkeit nicht als jüdisch gekennzeichnet, sondern, ich glaube, als protestantisch. Und mit diesem Papier hat sie es geschafft, während des Dritten Reiches zu überleben. Und sie hat in der Tschechoslowakei, in Mährisch Ostrau, in Ostrava, sich ein Haus gebaut und sie hatte auch jüdische Mieter im Haus. Sie hatte zwei Söhne und zwei Töchter. Und allen hat sie ihre jüdische Identität verschwiegen, um sie zu schützen. Die beiden Buben sind im Zweiten Weltkrieg umgekommen, die beiden Mädchen haben überlebt – aufgrund dieses falschen Eintrages.

SCHUMATSKY: Und du meinst, das war ein Fehler und nicht eine Schutzmaßnahme wie in meiner Familie?

MUELLER: Nein, schau mal, wir sind ein doch ganzes Jahrhundert früher vor deinen Eltern, wir sind im Jahre 1880 oder 1885.

SCHUMATSKY: Naja, damals gab es ja schon genug Antisemitismus.

MUELLER: Ja, freilich, es gab das, aber ich weiß einfach nicht, ob sie das absichtlich gemacht hat oder ob das aus Versehen geschehen ist. Ich weiß alles nur von ihr und dieses Papier habe ich einmal selbst gesehen, in den fünfziger Jahren in Potsdam. Jedenfalls hat sich das dann durch die durch die Generation so fortgezeugt und hat sich gehalten bis nach dem Krieg.

SCHUMATSKY: Wie würdest du dein Jüdischsein einordnen im Spannungsfeld zwischen Religion und, sagen wir, Blut?

MUELLER: Für mich ist es in erster Linie eine theologische, religiöse Bindung. Ich fühle mich als säkular, aufgeklärter Jude. Ich mache da kein Aufhebens und ich bin fromm in einer stillen Weise. Ich halte die Feste weitgehend ein. Ich bin nicht, was man orthodox nennt, sicher nicht. Und am Blut kann ich ja sowieso nichts ändern. Mehr kann ich dazu nicht sagen. 

SCHUMATSKY: Und ich kann für mich sagen, dass ich aufgrund meiner realsozialistischen Prägung eine starke Abneigung gegen Bindungen an Identitäten jeglicher Art habe. Sonst wäre ich längst in einer jüdischen Gemeinde in Berlin untergekommen, aber es fällt mir schwer, Mitglied irgendeines Kollektivs zu werden. Wie geht es dir damit, warum bist du nicht Mitglied der jüdischen Gemeinde geworden?

MUELLER: Die Gemeinde in Heidelberg hat sich sehr verändert, und – das darf dich jetzt nicht kränken –, sie hat sich verändert durch die Kontingentjuden, die aus der Sowjetunion gekommen sind. Ich habe mich dort nicht mehr wohlgefühlt, weil sie bestimmte Eigenheiten, Eigenschaften sprachlicher Art, im Verhalten an den Tag gelegt haben, die mir fremd war. Zuvor war ich gut bekannt mit der Tochter vom – wir reden jetzt von den späten Sechzigern, Anfang der Siebzigerjahre – vom Landesrabbiner Levinson. Ich hatte einige Kontakte in die damals kleine jüdische Gemeinde. Die war im Wesentlichen bestimmt von Rückkehrern, ehemaligen displaced persons. Mit denen habe ich mich gut verstanden. Das war dieser Unterschied, einfach in der biografischen Sozialisation, warum ich mich dann in der Gemeinde nicht mehr wohlgefühlt habe.

Dann war ich ja lange Jahre nicht in Heidelberg. Ich war in Frankreich, dort war ich nach Nancy orientiert oder nach Luneville, ich lebte damals im südlichen Lothringen. Oder nach Saarbourg, dem französischen Sarrebourg, zu den jüdischen Gemeinden dort. In der Nähe des kleinen Dorfes, in dem ich damals wohnte, hatte ich eine jüdische Familie, mit der ich auch ganz gut befreundet war. Die hatten dort den alten jüdischen Friedhof aus dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhundert behütet und den Schlüssel gehabt. Ich habe mir manchmal den Schlüssel ausgeborgt, aber hier in Heidelberg habe ich keinerlei Kontakte außer gelegentlich zum Rabbiner. 

SCHUMATSKY: Was du über die sowjetischen Juden sagst, nehme ich dir überhaupt nicht übel, ich habe ja selbst von meiner Abneigung gesprochen. Deine Abneigung und meine Abneigung sind sich nicht ganz unähnlich, denn gerade das Kollektivistische oder Sowjetische, das dich abgestoßen hat, war zum Teil auch für mich der Grund, auf Distanz zu gehen. Aber das könnte sich ändern. Gerade erleben wir ja eine Explosion des Antisemitismus, die ich nie für möglich gehalten hätte, und gleichzeitig schwindet mein Unbehagen gegenüber dem Jüdischen. Da können einem die Gemeinden schon wie rettende Inseln in dieser Flut des Hasses vorkommen, oder?

MUELLER: Ich kann das nur ungenau beantworten. Ich fürchte, wenn ich in die Gemeinde zurückkehrte, würde mir das auch keinen Schutz gewähren. Aber ich habe dazu jetzt noch keine Entscheidung getroffen. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.

SCHUMATSKY: Fühlst du dich bedroht?

MUELLER: Mittlerweile ja. Ich fühle mich bedroht. Seit knapp eineinhalb Jahren hat sich hier irgendwas geändert und natürlich jetzt sehr stark seit dem 7. Oktober. Da hat sich ja alles hier gedreht. Ich bin früher mit der Kippa alleine in die Stadt gegangen, das traue ich mich heute nicht mehr. Ich gehe noch mit der Kippa, aber nicht, wenn ich alleine bin. Und schau mal, ich bin ja mittlerweile so krank, ich kann ja gar nicht alleine aus dem Haus. Ich bin ja hier tagelang ans Haus gebunden. Und ich war jetzt seit vergangenem November zum dritten Mal zwei Tage außer Haus, da war ich in Straßburg. Wenn ich zum Arzt muss, dann bin ich aber in Begleitung und dann bin ich vielleicht zwei, drei Stunden unterwegs. Dann bin ich so erschöpft, dann muss ich wieder nach Hause. Alleine kann ich gar nicht das Haus verlassen.

SCHUMATSKY: Und du kannst dir die notwendige Begleitung einfach nicht immer leisten. Heute wundert sich niemand mehr, dass Autoren ein prekäres Dasein führen. Ich habe sogar das Gefühl, dass das von uns erwartet wird, das merkt man an vielen kleinen Dingen, dass man zum Beispiel, wenn man ein Stipendium oder eine Residenz bekommt, keine Familie haben darf und so weiter und so fort. Das ist alles auf besonders prekäre Existenzen zugeschnitten. Und in diesem Zusammenhang dachte ich, dass du als Dichter und auch als Kurator wahrscheinlich einer der Pioniere dieser Prekarität bist.

MUELLER: Ich habe aus Begabung und Neigung meinen Lebensunterhalt verdient mit der Arbeit in der bildenden Kunst. Ich habe nie die Vorstellung gehabt, mit der Literatur ein auskömmliches Einkommen zu erzielen. Niemals. Und ich habe die literarische Arbeit immer weitgehend getrennt von der Arbeit für die bildende Kunst. Zeitweise habe ich aus Neigung und aus voller Überzeugung mit Künstlern kleine bibliophile Editionen gemacht. Aber es war nie meine Absicht, meine poetische Arbeit an einen erfolgreichen Künstler zu hängen und dadurch selber bedeutsam zu werden. Das habe ich nie gemacht, ich habe mich auch nie groß gekümmert um Stipendien, Wettbewerbe oder Residenzen, weil ich mit meiner Arbeit das Gefühl hatte, so quer zu liegen zu allem, was gängig war.

Aber ich habe mir gewünscht, jetzt in meinem späten Leben etwas mehr Anerkennung zu erhalten. Deswegen war ich so verbittert anlässlich meines 75. Geburtstags, dass sich da niemand von den näheren Kollegen gemeldet hat. Aber nun bin ich auch darüber hinaus. Ich bin weg davon. Ich habe das zur Kenntnis genommen. Und jetzt muss ich einfach versuchen, die letzten Jahre oder die letzten Monate, die ich hier noch rumkrieche auf der Erde, einigermaßen stabil hinter mich zu kriegen und mit meiner poetischen Arbeit so weiterzumachen, wie sich das über die vielen, vielen Jahre zu einem bestimmten Ergebnis entwickelt hat. Ich möchte noch im Hinblick auf das Stipendium, das man mir kürzlich gewährt hat, einen kleinen Band publizieren, den habe ich zur Hälfte fertig. Mehr weiß ich nicht.

Aber es fällt mir schon schwer zu akzeptieren, dass das auch von jüdischer Seite so ist, zum Beispiel von der Jüdischen Allgemeinen oder von den jüdischen Komponisten, zum Beispiel vom Eres Holz oder von der Sarah Nemtsov, bei der Sarah Nemtsov ist das etwas besser gelagert, aber bei dem Eres Holz, der großes Interesse vorgegeben hat für meine Dichtung und einige Gedichte vertonen wollte und mich jetzt auf 2026 vertröstet – das erlebe ich doch gar nicht mehr. Ich habe ein feines Gehör für die Zwischentöne. Ich sage nur nicht immer, ob ich das bemerke, was ich bemerke, weißt du. Du musst überlegen, ich kann ja über fünfzig Jahre der eigenen Arbeit überblicken, der poetischen Arbeit, mit all dem, was da an Bewegungen war in der Bundesrepublik. Und ich habe ja auch viele, viele Autoren und Dichter gekannt, aus den früheren Jahren, die kennt heute kaum noch jemand. 

SCHUMATSKY: Du hast einmal von deiner inneren Distanz zur Simulations-Lyrik unserer Zeit, wie du sie nennst, gesprochen. Könntest du das näher ausführen?

MUELLER: Da müsste ich jetzt Beispiele nennen, ich müsste Namen nennen. Oder nein, ich müsste keine Namen nennen. Was ich unter Simulations-Lyrik oder Lyrik-Simulation verstehe, wie soll ich das beschreiben? Es sieht aus wie Gedichte, aber es sind keine Gedichte. Es hat keine Form, es ist ein Nachgeschwätz, ein biografisches Nachgeschwätz. Es ist eine Umformung von zeitgenössischen Zeitungsmeldungen, es ist opportunistisches Geschreibe. Oft ist es so, dass die einzelnen Passagen oder Teile oder Verse oder wie man auch immer das nennen will, viele sachliche Fehler enthalten. Es trifft auch renommierte, also jüngere – ja, gut, ich bin ja alt mittlerweile – aber das betrifft doch eine ganze Reihe mittelalter Autorinnen oder Autoren oder Dichter – wobei ich unterscheide zwischen Autoren und Dichtern – die einfach etwas schreiben und nicht überlegen, ob das richtig ist, also sachlich richtig ist, worauf sie sich beziehen. Und wenn ich solche Dinge lese, dann spüre ich die Absicht, die dahintersteckt. Andersrum: Für mich hat Lyrik mit der biografischen Verankerung des Kunstwillens im Sinne eines Überlebens in der eigenen Gegenwart zu tun. Und das stellt solche hohen Anforderungen an das Verlangen nach Kunst. Ich schaue mir schon an, was da erscheint und was da gedruckt wird …

SCHUMATSKY: Und das ist keine Dichtung im Sinne von Paul Celan, ja?

MUELLER: Ja, freilich. Oder andere oder wie Ingeborg Bachmann, Johannes Bobrowski, Nelly Sachs, Michael Hamburger und dann vor allem die Franzosen… , auch die französischen Theoretiker der Poesie, das hat eine ganz andere Qualität. Lassen wir das. Ich lese, ich krieg ja immer wieder mit, was da zum soundsovielten Mal immer wieder, jährlich neu, und wieder neu, erscheint; diese Debüt-Bände. Da ist auch meine Unzufriedenheit, meine Enttäuschung mit den Ergebnissen der Schreibschulen: es ist teilweise nicht zum Aushalten, wenn die Lehrenden sich in den Belehrten spiegeln und sozusagen bei den Studenten das abrufen, was sie selber nicht können. Das ist ein Unglück, es ist ein Unglück! Wenn sich doch wenigstens die Erfahrung mitteilte der unerbittlichen Ernsthaftigkeit der künstlerischen Mittel, wie sie in der Kunst mit Bildern und vor allem der musikalischen-kompositorischen Kunst sich darstellt, z. B. bei Anton von Webern, um einen zu nennen, dessen Werk für mich von eminenter Bedeutung ist, dann wäre viel gewonnen. Diese radikale Verantwortung dem Werk gegenüber...

SCHUMATSKY: ... und das soll unser Schlusssatz sein.