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20.08.2024, 10:59 Uhr
Seth Rogoff
Text & Debatte

Nachdenken über Kafka und den Zionismus, Teil II

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Franz Kafka in Zürau (Siřem), Böhmen, um 1917. Auf der Fotografie sind abgebildet (v. l. n. r.): Mařenka, ein Hausmädchen, Kafkas Cousine Irma, seine Schwester Ottla, Julie Kaiser, seine Sekretärin bei der Versicherungsgesellschaft, Franz Kafka. Die Fotografie befindet sich im Klaus Wagenbach Archiv, Berlin.

Seth Rogoff ist Schriftsteller. In Kürze erscheint sein Roman The Castle, eine fiktionale Rückkehr in die beunruhigende Welt von Franz Kafkas ikonischem, unvollendetem Roman. Rogoff hat einen Lehrstuhl an der Anglo-American University in Prag inne und leitet dort den Fachbereich Journalismus und Medienwissenschaft. Der zweite Teil seines Essays analysiert die Spuren des historischen Zionismus in Kafkas Schreiben.


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„Schakale und Araber“ ist ein kurzer, komplexer Prosatext, der in einem imaginären Palästina zu spielen scheint – zumindest aber an einem Schauplatz in Nahost. Ich halte ihn für Kafkas ausführlichste literarische Reflexion über den Zionismus. Der Erzähler ist ein Europäer, der mit einer größeren Gruppe durch die Wüste reist und mit seinen Gefährten bei einer Oase sein Lager aufgeschlagen hat. Unter diesen Gefährten befindet sich ein Araber, der die Kamele der Reisegruppe versorgt und offenbar die Gruppe durch die Wüste führt. Es ist Nacht. Der Erzähler kann nicht schlafen, sitzt im Gras und hört den Schakalen zu, die in der Ferne heulen. Unbemerkt nähert sich ihm ein Rudel, und plötzlich ist er von Schakalen umringt. Ein älterer Schakal kommt zu ihm und berichtet, dass die Schakale seit vielen Generationen auf seine Ankunft gewartet haben. „Wir wissen“, begann der Älteste, „daß du vom Norden kommst, darauf eben baut sich unsere Hoffnung.“ Die Schakale hoffen darauf, dass ihnen der Europäer in ihrem Kampf gegen die Araber beistehen wird. Der Ursprung des Konfliktes zwischen Schakalen und Arabern, sagt der Älteste, besteht in unterschiedlichen Vorstellungen ritueller Reinheit bei der Nahrungsaufnahme. Die Schakale fressen nur Aas: Sie wollen ihr Futter nicht töten. Dass die Araber schlachten, was sie essen, ist für die Schakale ein Tabu, eine Verletzung fundamentaler Gesetze. In ihren Augen ist dieser scheinbar unwichtige und sogar absurde Unterschied (warum ist es lauterer, Aas zu fressen, als Tiere zu töten und zu verspeisen?) unüberwindlich.


Der Erzähler antwortet dem Schakal auf seinen Bericht über den Konflikt mit den Arabern: „Es scheint ein sehr alter Streit; liegt also wohl im Blut; wird also vielleicht erst mit dem Blute enden.“


Wie eine Art rituelle Opfergabe bringen die Schakale dem Erzähler eine kleine rostige Nähschere und bitten ihn, den Arabern damit die Hälse durchzuschneiden. Es lohnt sich, ausführlich aus dieser Szene zu zitieren, da sie das Epizentrum der Geschichte und zugleich, wie so oft bei Kafka, deren unergründbarster Moment ist. „Herr“, sagt der Älteste der Schakale zum Erzähler, „du sollst den Streit beenden, der die Welt entzweit.“ Dann führt er weiter aus:

So wie du bist, haben unsere Alten den beschrieben, der es tun wird. Frieden müssen wir haben von den Arabern; atembare Luft; gereinigt von ihnen den Ausblick rund am Horizont; kein Klagegeschrei eines Hammels, den der Araber absticht; ruhig soll alles Getier krepieren; ungestört soll es von uns leergetrunken und bis auf die Knochen gereinigt werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir ... Schmutz ist ihr Weiß; Schmutz ist ihr Schwarz; ein Grauen ist ihr Bart; speien muß man beim Anblick ihrer Augenwinkel; und heben sie den Arm, tut sich in der Achselhöhle die Hölle auf. Darum, o Herr, darum, o teuerer Herr, mit Hilfe deiner alles vermögenden Hände, mit Hilfe deiner alles vermögenden Hände schneide ihnen mit dieser Schere die Hälse durch!“

Hier stört der arabische Karawanenführer die Szene und treibt die Schakale auseinander. Er verrät dem Erzähler, dass die Schakale dieselbe Bitte an alle Europäer richten; es ist eine Art immerwährendes, elendes Flehen um Erlösung. Dann beschließt der Araber, seinen Spaß mit den Schakalen zu haben. In der Nacht ist ein Kamel verendet, und der Araber lässt dem Rudel den Kadaver vorwerfen. Als sich die Schakale auf das tote Fleisch stürzen, schwingt der Araber seine Peitsche. Die Schakale nehmen seine Schläge hin, unfähig, sich von dem Kadaver loszureißen: Die Anziehungskraft des Fleisches ist stärker als die Angst vor dem Schmerz. Der Araber setzt seine sadistische Vorstellung fort, bis der Erzähler genug hat und ihm in den Arm fällt. Der Araber sagt darauf: „Du hast recht, Herr ... wir lassen sie bei ihrem Beruf; auch ist es Zeit aufzubrechen. Gesehen hast du sie. Wunderbare Tiere, nicht wahr? Und wie sie uns hassen!“


Koloniale Position

Kafka zeichnet den Nahen Osten vielschichtig. Der Araber wird wie ein Europäer beschrieben – hoch und weiß. Er ist ein Symbol der Zivilisation. Gleichzeitig ist er tyrannisch und grausam, und seine Grausamkeit ist für den europäischen Erzähler unakzeptabel. Erst nachdem er die erbarmungslose Grausamkeit erlebt hat, die der Araber zum Spaß ausübt, kann der Erzähler nicht länger nur Beobachter bleiben, sondern muss seine Hand erheben, um die Schakale zu verteidigen. Der Araber betrachtet die Schakale von einer paternalistischen Warte, der eine lange Geschichte gemeinsamen Lebens in der Wüste und ihren Oasen vorausgeht. Dieser paternalistische Blick wertet die Stellung der Schakale auf – und so erlangen die Schakale, aus der Perspektive des Arabers betrachtet, ihren Status nicht aufgrund von Gesetz oder Staat, sondern durch die organischen, historisch gewachsenen Beziehungen zwischen den beiden Gruppen. „Es sind unsere Hunde”, sagt der Araber zum Erzähler, „schöner als die eurigen.”


Ebenso wie der Araber ist auch der Erzähler zutiefst zweideutig. Er hält sich aus unklaren Gründen in der Wüste auf, was auf eine Art koloniale Position hindeutet. Obwohl er auf seine eigene Unschuld hinweist und seiner scheinbaren Sanftmut zum Trotz, stört seine Anwesenheit bei den Schakalen und Arabern die dort herrschende Machtbalance, obwohl er es – ähnlich wie der Forschungsreisende in Kafkas „In der Strafkolonie“ – vorzieht, bis zum letzten möglichen Moment seine Passivität und Objektivität zu bewahren. Im kolonialen Kontext sind Definitionen wichtig und es ist der Erzähler, der den Konflikt zwischen Schakalen und Arabern als uralt bezeichnet und behauptet, dass solch ein langwieriger, historischer Konflikt nur durch Gewalt beigelegt werden könne: „Es scheint ein sehr alter Streit; liegt also wohl im Blut; wird also vielleicht erst mit dem Blute enden.“ Beide Annahmen basieren nicht etwa auf einem Wissen über die tatsächliche Dynamik des Konflikts; es sind vielmehr oberflächliche und tendenziöse Schlussfolgerungen, die der Erzähler als Fakten verkauft.


Die Schakale sind die seltsamsten Figuren in der Geschichte. Sie werden von den Arabern unterdrückt und misshandelt, weshalb sie beim Leser (und beim Erzähler) ein gewisses Mitleid hervorrufen, aber ihre Gier auf Aas macht sie atavistisch, ihr Glaube an eine Nähschere als Wunderwaffe lässt sie wahnhaft erscheinen, und ihre Rachlust ist blutrünstig. Die Schakale träumen davon, die Araber zu ermorden, aber sie sind zu schwach, um es selbst zu versuchen, weshalb sie, feige, den europäischen Erzähler beschwören, die Bluttat für sie zu vollbringen. Die Schakale betrachten sich als unverfälscht und unverdorben, aber sie sind aus dem zivilisierten Leben ausgestoßen. Ihre letzte Tat, das Verschlingen des Kamels unter den Peitschenhieben, ist schauerlich.


Es scheint klar, dass die Schakale in der Geschichte Schakale sein sollen und gleichzeitig symbolisch für Juden stehen. Warum hat Kafka den Schakal gewählt? In allen prophetischen Büchern und Texten der hebräischen Bibel hat er eine einheitliche Bedeutung. Der Schakal ist ein Geschöpf der Wüste, er lebt in der Wildnis, die zwischen Inseln sesshaften Lebens liegt. Diese Räume entziehen sich der Gnade Gottes, und wer dort wohnt, ist von Gottes Gunst und Güte ausgeschlossen. Wenn Ezechiel Israels Propheten schilt, spricht er Gottes Worte: „O, über die niederträchtigen Propheten, die ihrem Sinne folgen, ohne dass sie etwas gesehen! Gleich Schakalen in den Trümmern waren deine Propheten, Israel!“ Jesaja sagt die Zerstörung von Babylon mit den Worten vorher: „Ihre Häuser werden voll von Eulen; Strauße werden dort hausen und Teufel daselbst hüpfen, Schakale werden in ihren Palästen heulen und Waldtiere in den ehemaligen Tempeln der Lust.“ Jeremia (9:11) spricht in Gottes Worten: „So mache ich Jerusalem zu Steinhaufen, zur Wohnung der Schakale; die Städte Jehudas mache ich zur Öde, leer von Bewohnern.“ Im Buch Hiob, nachdem Gott seinem Ankläger (Satan) erlaubt hat, Hiobs Leben zu zerstören, ruft der Gequälte aus: „Ein Bruder bin ich geworden den Schakalen ...“


Der Status von Kafkas Schakalen setzt sich aus zwei scheinbar inkompatiblen Teilen zusammen: Auf der einen Seite repräsentieren sie die Ausgestoßenen, die Wildnis, eine ungezähmte und unbezähmbare Natur. Sie existieren in einem Raum jenseits des Lagers, in der Ferne, symbolisch vom Feuer entfernt, vom Bereich der Menschen, vom Bereich Gottes. Die Bibel vereint die Schakale mit anderen Wesen des Chaos – mit der Eule, mit dem Strauß, mit „Teufeln“ und „Waldtieren“: mit gottlosen Wesen, den Widersachern Gottes. Gleichzeitig sind die Schakale in Kafkas Geschichte Bewahrer einer überlieferten oder heiligen Tradition. Im Zentrum des Gemeinwesens der Schakale stehen Ideale von Lauterkeit und Rituale heiliger Reinheit; es sind heilige Gesetze; auch wenn sie den Arabern und dem europäischen Erzähler noch so entsetzlich erscheinen.

Eine Art, die Welt zu verstehen

Instabilität durchzieht Kafkas Texte, und vielleicht ist sie in keinem anderen so ausgeprägt wie in „Schakale und Araber“. Alle Subjektpositionen – Schakal, Araber, Erzähler – sind paradox, alle Interpretationsversuche des Textes zweifelhaft. Er ist von einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit geprägt, von einem Gefühl der Unabwendbarkeit, von einer Geschichtlichkeit, die sich bis weit in die Zukunft erstreckt. Dennoch gibt es Hoffnungsschimmer. Der Text erzählt von Barbarei und sadistischer Grausamkeit, aber es gibt auch Humanismus und vielleicht sogar Liebe. Rituale, Glaubensinhalte und Ideale werden verspottet, aber ihnen wohnt dennoch etwas Edles inne – sogar dem grotesken und absurden Ritual, der Schakale, Aas zu erbeuten (zu Aas zu beten?).


Die vielschichtigen Mehrdeutigkeiten der Geschichte sind eine Herausforderung, aber zugleich eine – großzügige – Einladung, den Text tief und kreativ zu erforschen. Bei genauer Analyse erweist sich jedes Element als symbolisch, bleibt aber zugleich materiell. Der Araber mag für alle Araber stehen, aber er ist zugleich ein einzelner Mensch, der die Verantwortung für eine bestimmte Karawane trägt. Die Schakale mögen ein Symbol für jüdische Siedler in Palästina oder für das jüdische Volk allgemein sein, aber sie sind gleichzeitig auch nur ein Rudel wilder Wüstenhunde. Der Europäer symbolisiert vielleicht die europäische Intervention in Nahost, abendländische „Vernunft“ und Modernität; aber er ist auch ein individueller Reisender, der mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen durch die Wüste zieht. Nichts in der Geschichte kann auf das rein Symbolische reduziert werden und zugleich ist auch nichts frei von symbolischer Bedeutung. Kafkas entschiedene Ablehnung von Bubers Definition der beiden Erzählungen als „Parabeln“ und sein Beharren darauf, dass es sich um „zwei Tiergeschichten“ handelt, zeugen von seinem Bekenntnis zur Materialität.


Der Schwebezustand zwischen dem Materiellen und dem Symbolischen, der die Geschichte prägt, ist von mehr als nur stilistischer Bedeutung: Er steht für eine Art des Lesens und letztendlich für eine Art, die Welt zu verstehen. Auf der Ebene des Lesens wird jede Interpretation auf einer Ebene auf einer anderen Ebene verkompliziert oder unterminiert. Die Schakale, der Araber und der Erzähler können abstrakt betrachtet werden, aber solche symbolischen Abstraktionen halten auf der materiellen Ebene einer Prüfung nicht stand. Das materielle Element setzt sich immer wieder durch.
Das Bedürfnis, Situationen auf Abstraktionen zu reduzieren, entspricht dem Weltbild des Erzählers, und genau diese Denkweise bringt ihn dazu, die Beziehung zwischen den Schakalen und den Arabern als fundamental und transhistorisch zu verstehen und nicht als unmittelbar und kontingent. Die Unmittelbarkeit scheint erst wieder in der emotionalen Reaktion des Erzählers auf, als er dem Araber in den Arm fällt. Die symbolische und abstrakte Weltsicht ruft nach Gewalt; Unmittelbarkeit und Materialität stellen sich dagegen.


Zionismus, wie Nationalismus, ist eine Abstraktion: eine Idee, eine Philosophie, eine Geschichtsphilosophie. Kafka hat sich für diese Ideen interessiert, aber er weigerte sich von Natur aus, sie von ihrer Verwurzelung im physischen Leben zu trennen; dadurch wurde es ihm unmöglich, die „Reinheit“ oder Erhabenheit des Zionismus oder jedes anderen philosophischen, theologischen oder politischen Ideals aufrechtzuerhalten. Als er 1913 an einer zionistischen Konferenz in Wien teilnahm, achtete er mehr auf ein Mädchen, das Papierkügelchen auf die Delegierten warf, als auf die Reden und Diskussionen. Als er 1916 in Marienbad den renommierten chassidischen Rabbi von Belz kennenlernte, interessierte er sich vor allem für dessen schlechte Hygiene und abstoßenden Essgewohnheiten, die in krassem Gegensatz zu seiner spirituellen Agenda standen. Als Kafka Rudolf Steiner traf, bestand seine abschließende Beobachtung darin, dass der Gründer der Anthroposophie „immerfort ... mit dem Taschentuch bis tief in die Nase hinein (arbeitete)“, weil ihn ein Schnupfen plagte.


Was sagt uns „Schakale und Araber“ über Kafkas Beziehung zum Zionismus, über Kafkas Weltbild? Der Text zwingt uns, den palästinensischen Kontext und die Beziehung zwischen Schakalen, Arabern und Europäern aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Jede dieser Dimensionen hat historische, symbolische und materielle Dimensionen. Wenn eine einzige Agenda die Interpretation leitet, kann sie nicht jeden Aspekt dieser Beziehungen erfassen. Kafka bittet uns, sich mit den Widersprüchen der Situation, ihrer Unordnung und ihren Absurditäten auseinanderzusetzen. Er zwingt uns, vorschnelle Urteile zurückzustellen und Komplexität zuzulassen. Eine solche Komplexität wehrt sich gegen die Entmenschlichung, die jede Ideologie nach sich zieht, und gegen die Reduktion des physischen Lebens auf ein bloßes Symbol. Ein rein ideologisches oder rein symbolisches Weltbild führt letztendlich oft zu katastrophaler Gewalt – zu einem „Ende mit Blut“, wie der Erzähler sagt. Kafka bietet in seinen Texten eine Alternative an: Produktive Spannungen zu bewahren und auf die Probe zu stellen. Diese Spannungen zwingen zu genauerem Nachdenken, zur Anerkennung der Komplexität des Subjektiven, und zur Überwindung enger ideologischer Grenzen. Kafkas Werk bahnt uns diesen alternativen Weg. Wir wären gut beraten, ihn zu beschreiten.


Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Wunnicke