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20.08.2024, 10:59 Uhr
Seth Rogoff
Text & Debatte

Nachdenken über Kafka und den Zionismus, Teil I

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Franz Kafka in Zürau (Siřem), Böhmen, um 1917. Auf der Fotografie sind abgebildet (v. l. n. r.): Mařenka, ein Hausmädchen, Kafkas Cousine Irma, seine Schwester Ottla, Julie Kaiser, seine Sekretärin bei der Versicherungsgesellschaft, Franz Kafka. Die Fotografie befindet sich im Klaus Wagenbach Archiv, Berlin.

Seth Rogoff ist Schriftsteller. In Kürze erscheint sein Roman The Castle, eine fiktionale Rückkehr in die beunruhigende Welt von Franz Kafkas ikonischem, unvollendetem Roman. Rogoff hat einen Lehrstuhl an der Anglo-American University in Prag inne und leitet dort den Fachbereich Journalismus und Medienwissenschaft. Der erste Teil seines Essays schildert den historischen Kontext der zionistischen Bestrebungen in Kafkas Zeit.

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Der Schriftsteller Franz Kafka verbrachte den Winter 1917 in einem winzigen Haus, das seine Schwester Ottla in der Prager Alchimistengasse gemietet hatte, und schrieb eine Reihe von Prosafragmenten in blaue Oktav-Notizbücher. Später in diesem Jahr bot er zwei der Texte der Zeitschrift „Der Jude“ des deutsch-jüdischen Theologen Martin Buber zur Veröffentlichung an. Kafkas enger Freund Max Brod überzeugte Buber davon, dass die Texte jüdisch genug seien, um in die Zeitschrift aufgenommen zu werden. Sie trugen die Titel „Ein Bericht für eine Akademie“ und „Schakale und Araber“. „Schakale und Araber“ ist Kafkas einzige Geschichte, die in einem nahöstlichen Kontext spielt, vielleicht in Palästina; damit stellt sie in seinem Gesamtwerk ein Unikum dar. Es ist auch sein einziger Text, in dem eine arabische Figur auftritt. „Schakale und Araber“ rückt also ins Zentrum, wenn man Kafkas Beziehung zum Zionismus erforschen möchte.


Konkrete geografische Gegebenheiten sind in Kafkas fiktionalen Werken selten, besonders in jenen, die er publizieren ließ. Geschichten wie „Das Urteil“ oder „Die Verwandlung“ spielen zwar in Städten, aber sie enthalten keine spezifischen Informationen über diese Städte. Das unveröffentlichte Manuskript von Der Prozess war ebenfalls ein Roman über die urbane Moderne in Europa. Das Schloss spielt dagegen in einem nicht weiter bezeichneten Dorf. Alle örtlichen Gegebenheiten sind generisch: Die Gastwirtschaften Brückenhof und Herrenhof, das Schulhaus, das hoch aufragende Schloss. Selbst wenn ein nicht-europäischer Schauplatz für die Logik und Entwicklung einer Geschichte entscheidend ist, etwa in „In der Strafkolonie“, wird geografische Bestimmtheit vermieden. Ausnahmen von dieser Regel bilden das amerikanische Setting von Der Verschollene und das alte China, wo „Beim Bau der chinesischen Mauer“ spielt. In diesen beiden Werken ist die geografische Verortung das Fundament für metaphorische und thematische Schichtungen. Dasselbe gilt für „Schakale und Araber“.


Kafka war nie in den USA, China oder Palästina. Die Konstruktion dieser Orte ist vermittelt durch seine Recherchen, Erfahrungen, Gespräche, Ideen und Sehnsüchte. Von den drei Ländern war ihm Palästina am nächsten; es erscheint am direktesten und am komplexesten. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Palästina das Ziel jüdisch-nationalistischer Bestrebungen. Viele von Kafkas Zeitgenossen sahen im Zionismus Lösungen für mehrere Probleme der mitteleuropäischen Juden. Die Vision eines zionistischen Palästinas war ein Streben nach jüdischer Erneuerung. Aber welche Art von Erneuerung?


Für gewöhnlich zielte der Wunsch nach einem jüdischen Palästina auf ein jüdisches Heimatland ab – einen jüdischen Staat. Dieser politische Zionismus verband sich mit dem Jüdischsein als ethnografischer Markierung, war aber nicht in erster Linie eine religiöse Bewegung. Seine Anführer entstammten der post-emanzipatorischen liberalen Elite. Das zentrale Problem, das Männer wie Theodor Herzl zu lösen suchten, waren die von ihnen wahrgenommenen Grenzen der liberalen Assimilationspolitik: das Versagen der Nationalstaaten, jüdische Minderheiten vor Verfolgung und Diskriminierung zu schützen, wie es die berüchtigte Dreyfus-Affäre in Frankeich (1894-1906) vielleicht am deutlichsten gezeigt hatte.

Spiritueller Zionismus in Kafkas Prag

In den kleinen Kreisen in Kafkas Prag, die sich selbst als zionistisch bezeichneten, war der liberale und säkular-politische Zionismus nicht dessen vorherrschende Form. Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wandte sich Kafkas Bekanntenkreis dem Zionismus eher aus kultureller und spiritueller Sehnsucht zu. Martin Bubers Ideen hatten hier die größten Impulse gegeben.


Für Buber und die jungen Mitglieder der zionistischen Kreise Prags, darunter Kafkas Freunde Max Brod, Hugo Bergmann und Felix Weltsch, stand der Zionismus für eine kulturelle und spirituelle Erneuerung. Er wurde nicht in erster Linie als politische Lösung eines Problems betrachtet, das Rechtsansprüche, persönliche Sicherheit und gesellschaftliche Ausgrenzung betraf, sondern eher als ein Weg, der tiefen Glaubenskrise zu begegnen, die diese Bewegung als endemisch für die mittel- und westeuropäische jüdische Gemeinschaft wahrnahm. Laut Buber hatten moderne liberale, säkulare und sogar orthodoxe Juden – und insbesondere deutsche Juden – das Judentum in eine Art toter Religiosität verwandelt, eine religiöse Praxis der oberflächlichen Gesten, hohlen Rituale und eines akademischen Rechtsdenkens. Der Ausweg aus dieser spirituellen Krise bestand für Buber und seine Anhänger darin, zum Wesentlichen des Glaubens zurückzukehren – zu seiner Unmittelbarkeit und Privatheit, seiner Verwurzelung in dauerhaften und authentischen Traditionen und seiner Verbindung zu einer organischen Gemeinschaft und einem „völkischen“ Geist.


Es ist nicht überraschend, dass sich Kafka dem jüdischen säkularen Nationalismus des politischen Zionismus nicht anschloss. Obwohl er im politischen Gebiet des Habsburgerreichs aufgewachsen war, in dem eine Vielzahl ethnischer Gruppen lebten, erschien ihm die Vorstellung, dass ein jüdischer Staat in Palästina die Dilemmata ethnischer Spannungen lösen würde, mit großer Wahrscheinlichkeit unrealistisch. Den kulturellen Zionisten in Prag waren solche Illusionen fremd. Mit tragischer Genauigkeit sahen sie voraus, dass politischer Zionismus in Palästina interethnischen Konflikt nicht beenden, sondern nur die einen Konflikte durch andere ersetzen würde. Sowohl Bergmann als auch Brod versuchten beispielsweise, aus dieser scheinbar unauflösbaren Dynamik auszubrechen, und begrüßten die Idee des Binationalismus bzw. eine arabisch-jüdische Koexistenz in einem einzigen postosmanischen Staat.


Was mehr überrascht als Kafkas fehlende Begeisterung für den politischen Zionismus, ist die Tatsache, dass er seinen engsten Freunden nicht folgte, als sie sich eine Art des jüdischen Existenzialismus nach Bubers Art zu eigen machten. Wenn es in Kafkas Schriften irgendetwas gibt, das konsistent und relativ eindeutig ist, so ist es dieses: Die zentraleuropäische Mittelschicht und Elite – also Männer wie Kafkas Vater Hermann – hatten die Verbindungen zum authentischeren Judentum ihrer Herkunft gekappt, indem sie eine liberale und säkulare Version jüdischen Lebens konstruierten und damit der nachfolgenden Generation – Kafkas Generation – den fruchtbaren Boden raubten, worin Glaube und Gemeinschaft wurzeln konnten. Das frühere und authentischere Judentum mag wirtschaftlich ärmer und auch um einiges härter gewesen sein, es mag mehr Gewalt auf sich gezogen haben, aber Kafka war der Ansicht, dass es vitaler gewesen sei. In anderen Worten: Wenn Kafka über das Judentum nachdachte, dachte er nicht an Politik. Er beschäftigte sich vielmehr mit den Möglichkeiten jüdischen Lebens, jüdischer Existenz – jüdischen Seins – in der Welt, die Hermann Kafka geschaffen hatte.


Kafkas nachhaltigste Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur, zumindest in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, basierte auf seinen Verbindungen zum jiddischen Theater. In dessen Kontext und im Austausch mit dessen Schauspielerinnen und Schauspielern, erfuhr er von einem jüdischen Leben „im Osten“, in einem halb glorifizierten „Russland“. Auch Buber suchte die Erneuerung über osteuropäische Traditionen und Volksbräuche. Ich würde vermuten, dass Kafka in Bubers Aneignungen dieser mystischen Traditionen den Verlust ihrer wichtigsten Bestandteile sah – ihrer Ursprünglichkeit und Alltäglichkeit – und deren Ersatz durch romantisierende Sehnsucht. Die körperliche Präsenz der jüdischen Schauspielerinnen und Schauspieler – ihre Intonation, die jiddische Sprache, die Art, wie sie Geschichten erzählten, und vor allem ihre Gestik – wurde für Kafka die erste plausible, wenn auch fragile Verbindung zu einem authentischeren und tiefer verwurzelten jüdischen Leben.

Ein antimythischer Denker und Schriftsteller

Den Geist vom Körper und die Traditionen vom zeitgenössischen Leben in seinem gesamten Umfang zu trennen, war in Kafkas Vorstellung ein Ding der Unmöglichkeit. Das Subjekt blieb im Jetzt verankert und an seinen allzu menschlichen Körper gebunden. Wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Franz Kafka“ ausführt, versinkt bei Kafka alles, was sich potenziell über das Alltägliche erheben könnte, sofort im absolut Irdischen, in Schmutz und Dreck. Das gilt für die Beschneidungsriten, die Kafka in seinen Tagebüchern grotesk detailliert beschreibt, es gilt für die Figur des Vaters in „Das Urteil“, und es gilt ebenso für den Schauplatz der behördlichen Verfahren in Der Prozess und für den Herrenhof in Das Schloss, den dörflichen Hauptwohnsitz der Schlossbeamten. Alle Elemente bei Kafka, die auf eine mögliche Transzendenz hindeuten könnten, sind immer zugleich abstoßend und würdelos.


In seinen Schriften findet sich kein schlüssiger Grund für seine Weigerung, gemeinsam mit seinen Freunden den Weg des spirituellen Zionismus zu beschreiten. Aus den Tagebüchern und Briefen erfahren wir, dass Bubers Ideen Kafka kalt ließen, aber wir wissen nicht genau, warum. Meine Vermutung wäre, dass Bubers Sprache zu viele Gemeinsamkeiten mit der damals in Deutschland und Österreich üblichen Sprache eines chauvinistischen, mythischen Nationalismus hatte. Kafka ist ein antimythischer Denker und Schriftsteller; von daher ist es verständlich, dass er kein leidenschaftlicher Unterstützer eines politischen oder kulturellen Zionismus sein konnte, die beide zutiefst mythisch sind.


Dies bedeutet allerdings nicht, dass Kafka den Zionismus vollständig ablehnte. Es gab nur wenig – im Positiven wie im Negativen –, das Kafka zu einer eindeutigen Position animieren konnte. Seine engsten positiven Beziehungen zum Zionismus und zu Palästina entstanden durch seine Beziehungen zu Frauen, vor allem zu Felice Bauer und Dora Diamant. Es wäre möglich, dass Palästina für ihn untrennbar mit Gedanken an Heirat, Häuslichkeit, familiäre (und allgemeine) Stabilität und mögliche Vaterschaft verbunden waren. In dem Brief, den er an Felice Bauer schrieb, nachdem sie sich in Max Brods Haus in Prag kennengelernt hatten, schlägt er vor, sie auf einer Reise nach Palästina zu begleiten. Diese Idee, die Kafka zuerst vorbrachte und dann mit der Begründung zurücknahm, dass sein Urlaub für eine so lange Reise zu kurz sei, stand am Anfang eines fünf Jahre währenden, intensiven Briefkontakts. Die vorgeschlagene und nie verwirklichte Palästinareise ist eine passende Metapher für Kafkas Beziehung zu Felice. Es gab ein Ziel (Heirat / Palästina), aber nicht die Entschlossenheit, sich wirklich darauf einzulassen, geschweige denn die Hoffnung, es je zu erreichen. Palästina war ein unmögliches Reiseziel, einer von vielen Orten – Paris, Berlin, Spanien etc. – die Kafka in seiner Fantasie eine Zuflucht bot von seiner psychisch belastenden Existenz in Prag.


Ich will nicht unterstellen, dass der Zionismus für Kafka nicht relevant war oder dass er ihn bedingungslos ablehnte. Viele Jahre lang war er in seinen Gedanken präsent und stand für eine Lösungsmöglichkeit für viele ernste Probleme der europäischen Juden. Das Hauptproblem war der Antisemitismus, der viele verschiedene Formen annahm und aus vielen Richtungen kam. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren dies vor allem zwei: Ein konservativer, reaktionärer Antisemitismus, der das Anfachen populistischer Ressentiments in ländlichen Gegenden einschloss, und ein radikaler, nationalistischer Antisemitismus. Oft vermischten sich auch verschiedene Formen, bis die Schutzsysteme der modernen Staatlichkeit in ihrer Funktionsfähigkeit vollends untergraben waren. Juden, und besonders jüdische Intellektuelle wie Kafka, sahen ihren sozialen, kulturellen und politischen Status zunehmend gefährdet. Dieses Gefühl verstärkte sich während des Ersten Weltkriegs und den chaotischen Jahren danach.


Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Wunnicke