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Holmes

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Alle Bilder © Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pyatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Geschichten werden auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Der Freund veröffentlicht. 2017 nimmt er an Eine Brücke aus Papier in Kijiw teil.  2023 illustriert Milstein den Band Durch die Zeiten und trägt außerdem einen Text dazu bei. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein.

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Holmes war der größte Bär des Zoos. Er war nicht nur größer als die schwarzweißen Kragenbären, sondern auch als seine Artgenossen, die in den Nachbarkäfigen lebenden Braunbären. Offensichtlich war Holmes sehr alt, und im Gegensatz zu den anderen lief er nie im Käfig herum, sondern saß immer still an den Gitterstäben und sah mich auf eine Weise an, die mich traurig machte. Ich war etwa fünf oder sechs Jahre alt und ging jede Woche, manchmal sogar jeden zweiten Tag, in den Zoo – wir wohnten in der Nähe, bis ich sieben wurde und wir nach Saltivka zogen. Der Käfig wirkte selbst an einem sonnigen Tag dunkel, als würde er das ganze Licht absorbieren, auf der Schattenseite eines festen Lehmhügels. „Холм”, „Holm” ist „Hügel” und das „S“ dazu bezog sich auf den Detektiv, der den von Dr. Roylott verformten Schürhaken geradebog, so schoss es mir durch den Kopf ... Kürzlich schickte ich einen Link dazu an den Künstler Vitaly Komar, der u. a. riesige, gruselige Bären malte, lebende oder eher höllische Inkarnationen Russlands. Sie waren meistens vor dem Krieg entstanden, aber im Zusammenhang mit dem Krieg erinnerte er sich an sie und postete sie, und ich schickte das Bild „Holmes“ an Vitaly Komar mit der Bemerkung, dass ich nur einen Bären hätte oder mich an die anderen nicht erinnerte, und er sei definitiv kein Russe, nicht nur wegen seines Namens ... Ich schrieb das, schaute und stellte fest, dass Holmes jetzt anders aussieht, jetzt sehe ich in ihm offensichtlich unterschwellige Wut, Groll, das Herz der Finsternis ... d.h. die gleiche Sache, das Totem von Russland.

Aber ich habe noch nie so über Bären gedacht, vielleicht weil mein Vater, dessen Vorname Moses war, immer „Mischa“ genannt wurde, und „Mischa“, „Mischka“ ist ein Bär, also war ich ein Bärenjunges, und wir haben Bärenfamilie gespielt, herumgealbert, herumgetollt, als ich klein war.

Und ich hatte von frühester Kindheit an ein warmes Gefühl für Bären, schon bevor ich in den Zoo ging, weshalb es wahrscheinlich so traurig war, vor dem alten Riesen am Käfig zu stehen. Ich hatte keine Assoziationen mit Russland, wo man mir einmal Bärenfleisch angeboten hat. Nicht als ich Kind war, nein, ich hatte schon einen jugendlichen Sohn in München, und der Wind trug mich, wie eine herausgerissene Seite aus meinem Buch, nach Moskau, wo mein weiteres Buch veröffentlicht wurde, und dort wurde mir im Restaurant „Datscha“ zum einzigen Mal in meinem Leben angeboten, Pfannkuchen mit Bärenfleisch zu probieren. Unnötig zu sagen, dass ich ablehnte, und der Titel dieses Textes hat nichts mit Essen zu tun (ich nannte den Text „Innerer Bär“, aber in Shorts gibt es bereits einen Punkt „Inneres Japan“, unnötig, das zu wiederholen).

Ich glaube auch nicht, dass Bären Menschen fressen, wenn sie sie töten, obwohl ich denke, dass in Werner Herzogs Film über einen Mann, der mit einem Rudel von Grizzlybären lebt und alles mit seiner Kamera filmt, Herzog das Material erst hinterher zusammengeschnitten und einen Kommentar aus dem Off mit seiner Samt-Sandpapier-Stimme vorgelesen hat (insbesondere wiederholt er dort, was er schon einmal im Film Mein Lieblingsfeind gesagt hat – nicht wie ihr denkt, ist die Natur, hier singen die Vögel nicht, sondern schreien vor Schmerz und alle fressen sich gegenseitig auf), er hat auch gesagt, dass der Protagonist von Grizzlys angefressen wurde, die er anbetete, buchstäblich verehrte, an einer Stelle in dem Film sagte er, nicht Herzog, sondern der Protagonist, dass sie höhere Wesen sind, dass er sogar bereit ist, ihre Exkremente zu essen ... aber das war eine Redewendung, nehme ich an, wobei die Grizzlys ganz wortwörtlich an ihm genagt haben und nicht im übertragenen Sinne, aber ich glaube nicht, dass sie ihn gefressen haben, ich weiß es nicht mehr genau. Der Berg-Bär Holmes, der Schmerz meiner Kindheit, war so groß, dass er ein Grizzly hätte sein können, jedenfalls sah er aus wie ein Grizzly ... obwohl ich mich nicht an ein solches Wort auf der Tafel erinnere. Braunbär, stand dort. 

Bruno, gar nicht so groß wie Holmes, kam 2006 von Italien nach Deutschland, überquerte die Alpen. Zum ersten Mal seit 170 Jahren lief ein Bär in Deutschland herum. Er rührte keine Menschen an, nur Haustiere, aber er streifte hier und da umher, zerbrach etwas, er würgte Hühner, Ziegen ... er wurde verfolgt, alle deutschen Zeitungen und sogar ausländische wie die New York Times schrieben darüber, und als er erschossen wurde, war das eine Art nationale Trauer. In der Sommerausstellung der Kunstakademie sah ich eine Skulptur von einem Studenten mit dem Titel „Bruno“. Bruno war aus bräunlichem Packpapier und Klebeband und so groß wie Holmes. Und ich trauerte um Bruno irgendwo in dem Dickicht meines Romans Pinoktiko, und jetzt steht er als ausgestopfter Bär in Nymphenburg neben dem Bären, der 170 Jahre vor ihm erschossen wurde. Der ausgestopfte Bär von Thomas Mann steht im dritten Stock des Münchner Literaturhauses, und dieser Bär war sibirisch, was mich zum Anfang meines Kommentars zurückbringt, zur Festigkeit des Totems, an der ich nicht rütteln will ... Ich erinnerte mich nur daran, dass Holmes nicht der einzige Bär war, den ich gemalt hatte:

„Als Kind habe ich einmal mit einer Steinschleuder auf einen Bären geschossen, der mir aufs Ohr getreten ist, und ich habe meinen Gesangslehrer am Auge getroffen und war nicht mehr der Musterschüler.“