„Nadeschda, die Hoffnung“. Von Andrej Krasnjaschtschich

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(c) Nadja Krasnjaschtschich

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „„Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022. Hoffnung, zweiter Teil ist bereits im Literaturprotal Bayern erschienen.

*

„[…] aus ihr flogen sogleich alle Plagen, Übel, Krankheiten heraus und brachten Verderben über das Menschengeschlecht. Erschrocken klappte Pandora den Deckel wieder zu, aber in der Büchse verblieb nur noch die Hoffnung.“ (Geschichte der altgriechischen Literatur)

 

I

 

Der Glaube ist eine Waffe. Die Hoffnung auch.
Als sie ein Kind war, spielten wir gern Folgendes: Sobald in einem Film jemand „Nadeschda“, „Hoffnung“[1] sagte, hob sie die Hand. Als ginge es um sie. Der Sinn des Films veränderte sich.
In meiner Familie sangen wir, wie alle Familien mit einer Nadeschda es tun: „Nadeschda ist mein Leitstern hier auf Erden, Erfolg ist die Belohnung für meinen Mut. Ein Lied genügt, wenn es nur von Zuhause handelt.“[2] Wir neckten Nadeschda: „Nadeschda, gde tvoja odeschda“ – „Nadeschda, wo ist deine Kleidung?“ Nadeschdas Kleidung ist zuhause in Charkiw. Genau wie ihr Spielzeug. Kleidung bringt uns meine Cousine. Die hat sie von einer Freundin, deren Tochter ist ein wenig älter als Nadeschda. Spielzeug kaufen wir in einem Wohltätigkeitsladen. Die Tüte für zehn Hrywna. Darin ist reduzierte Ware. Alles Mögliche. Funktionierende Scheren, Heftchen, kleine Spiegel, Bänder, Spielzeugschleim und Antistress-Bälle. Die Bälle hat Nadja uns gegeben. Wir wollen auch nach Hause.
„Kennst du unsere Adresse?“
Nadeschda rattert sie herunter. Keine Ahnung, wie lange wir noch in Poltawa bleiben. 

Eine Bombe hat das Nachbarhaus erwischt. In Charkiw. Den Spielplatz mit den Turngeräten. Dort gingen wir spazieren. Die Praxis unseres Zahnarztes. Den kleinen Laden „Posad“. Die Schule mitsamt dem Hof, wo wir auch spazieren gingen.
Das Krankenhaus, in dem Nadja geboren wurde.
Sogar der Keller ist zerstört. Der Hauseingang eingestürzt. Die Wände zerschmettert. Die Balkone herabgestürzt. Lena ist tief getroffen. Erschüttert. Oma tut das Herz weh. Nadja haben wir das Video nicht gezeigt.

Sie weiß sowieso alles. Auf „Tik-Tok“ führt sie ihren eigenen Krieg. Mit anderen Kindern. Die meisten sind für die Unsrigen, sagt sie. Die anderen aber sind unbelehrbar, sie hören nicht zu.

Auf einem „Telegram“-Kanal wurde von einem Kätzchen berichtet. Das tot in einem Kinderbett lag. Es war fünfundvierzig Tage allein. Dazu ein Foto. Wir hatten Angst, dass Nadja es sieht. Aber sie weiß schon Bescheid. Sie zeigt uns eine Zeichnung: ein totes, zusammengeringeltes Kätzchen, das Lotta ähnelt, daneben ein geisterhaftes lebendes Kätzchen. Nadja sagt zu uns: „Wie gut, dass wir Lotta mitgenommen haben.“ Zu Lotta: „Wir lassen dich nicht im Stich.“ Ich denke: „Wie gut, dass wir dich hierhergebracht haben.“ - „In der Ukraine kamen seit Beginn des vollumfänglichen Angriffs über 480 Kinder zu Tode. In der Charkiwer Oblast 76.“
Lotta: wie die Hauptfigur von Astrid Lindgrens „Die Kinder aus der Krachmacherstraße“. Nadjas Lieblingsbuch, es ist noch in Charkiw. Ich habe es nie gelesen. In meiner Kindheit gab es das Buch nicht. Ich hatte andere Bücher und Filme. Jetzt haben die Helden meiner Kinderzeit mir den Krieg erklärt. „Rotkäppchen“; „Elektronik“[3]; D’Artagnan genau wie Charatjan[4] - sie alle kämpfen gegen mich. Es heißt, Tscheburaschka[5] verkörpere das Geheimnis der russischen Seele. Nadja hat andere Filme und Bücher. Sie muss sich nicht von toten Märchenhelden trennen. Ihre Kindheit wird sie nicht verraten.

Ihr Stadtteil. Hier wurde sie geboren, hier wuchs sie auf. Dort ist sie gerutscht, da pflückte sie Löwenzahn. Den pflückt sie gern. Hier ihr Kindergarten. Dort drüben der Laden, in dem einkauft. Die Poliklinik. Der Park Sarschyn Jar.
Zwei Häuser von unserem entfernt steht die Militärakademie. Natürlich auch zerbombt. In den ersten Kriegstagen. An der Außenmauer hing eine Rakete. Früher. Unsere. Vor einem der Eingänge stand ein Flugzeug. Eine MiG, glaube ich. 
Das Gebäude dort gibt es nicht mehr. Abgebrannt. Ein Studentenwohnheim. Fünfzehnstöckig. Dorthin hat Nadja mich zum Wählen begleitet. 
Hier der Schulgarten. Wo früher Apfel- und Aprikosenbäume blühten. Auch hier hat‘s eingeschlagen.
Das Haus bei der Metro. Das hat’s am Anfang des Kriegs erwischt. Es hat stark gequalmt.
Die Straße hier wurde beschossen, Leichen lagen herum. Entsetzliche Fotos. Hoffentlich hat Nadja hat sie nicht gesehen. An einer anderen Straße das zerbombte Sportzentrum der Uni. Die Fensterscheiben des ATB-Markts zersprungen. „Unseres“ Geschäfts.
Unser Sarschin jar. Die Bänke, die Wege. Die Quelle. Auch hier Einschläge. Die Bänke und die Wege völlig zerstört. Die Häuser oben abgebrannt.
Irgendwann wird Nadja zurückkehren. Wird ihr Charkiw sehen, wird das unsere sehen.
Und noch ist der Krieg nicht zu Ende.

Am 24. Februar zogen wir für „zwei, drei Tage“ zu den Eltern. Seitdem waren wir nicht mehr zu Hause. Saßen im Keller. 
Damals ließen wir unsere Achatschnecke zurück. Die Katze nahmen wir mit, die Schnecke nicht. Wir füllten das Wasser nach, gaben ihr einen Apfel. Genug für eine Woche. Aber nicht für einen Monat.
Geld, Diplome, Reisepässe – all das blieb dort. Die Bücher, eine richtige Bibliothek. Die Fotos, unser ganzes Leben.
An die Schnecke denken wir täglich. Lena erzählt, sie habe heute von ihr geträumt. Sie war tot.
Nadja mochte die Schnecke nicht besonders. Sie fragt: „Wie geht es Schumtschik?“ Ich antworte: „Schnecken können lange warten. Sie versiegeln ihr Haus und warten ab.“
Schumtschik, von „Schumacher.“ Er war schnell.

Morgen kommen noch mehr Verwandte aus Charkiw. Wir schaffen Platz in der Wohnung. Tragen Sachen in den Keller.
„Nadja, kommst du mit? Den Keller anschauen?“
„Nein.“
Im Nachhinein denke ich, dass ich sie nicht in den Keller hätte rufen sollen. Vielleicht sollte ich es nie wieder tun.

Sie wartet auf Plastilin. Meine Tante und Schwester haben es aus Poltawa mit der „Novaja potschta“, der neuen Post, geschickt. In den ersten Kriegstagen. Zusammen mit Medikamenten für meine Eltern. Die „Novaja potschta“ ist schnell. Schneller als die alte „Ukrposchta“. Ein, zwei Tage. 
Nadja will etwas formen. Charkiw wird zerstört. Etwas mit den Händen machen. Nicht einmal einen Schneemann darf sie bauen. Zu gefährlich auf offenem Gelände. Bomben, Splitter. Maschinengewehrsalven sind zu hören.
Eine Woche – immer noch kein Päckchen. Die „Novaja poschta“ ist kollabiert, von humanitärer Hilfe überschwemmt. Zwei Wochen. Drei.
Nadja wartet. Charkiw wird zerstört. Nadja formt nichts.
Das Päckchen wurde nach Poltawa zurückgeschickt. Einen Monat, nachdem wir dort ankamen.
In Poltawa malt Nadja mit Kreide auf die Straße. Sie schreibt: „Mama, ich hab dich lieb.“ Daneben ein Drache, der Moskau abfackelt. Moskau hat sie nicht gut getroffen. Sie war noch nie dort. Sie war in Prag, Wien, Warschau. Und Vilnius.

Sumy. Trostjanez. Kyjiw.
Otschakiw. Die Arabat-Nehrung.
Lwiw. Dubno. Luzk. Ostroh. Wir waren viel in der Ukraine unterwegs.
„Suche es auf der Karte.“ Die Karte ist groß. Die halbe Wand. Ein Geburtstagsgeschenk von Lena. Sie findet es nicht. Die Ukraine, nichts weiter.
Jetzt kennt sie alle Städte von den Militärkarten. Kann alle zeigen. Auch die, in denen sie noch nicht war. Tschernihiw, Mariupol. Butscha. Nicht einmal lag sie daneben.

Auf Luftballons, die von ihrem Geburtstag übrig sind, zeichnen wir Gefühle. Angst, Traurigkeit, komplette Hoffnungslosigkeit. Sie bekommt alles gleich hin. Ich mache es ihr schwerer: Zweifel. Gleichgültigkeit. Nach kurzem Überlegen findet sie eine Lösung. Nachvollziehbar. Jetzt überlege ich: „Besänftigung.“ Sie denkt lange nach, dann zeichnet sie rasch einen Hasen mit Kreuzaugen und einem Senfglas in der Hand. Ich bin ratlos. „Betäubt von Senf.“

Vor Freude außer mir schrieb ich auf den beschlagenen Badezimmerspiegel: „Russisches Kriegsschiff, verzieh dich.“[6] „Warst das du?“, fragt sie. „Ja.“ – „Gut.“
In Kriegszeiten ist der Gebrauch von Mat erlaubt. Man darf also heftig fluchen.
Sie kennt Mat-Wörter. Durchs Lesen. Sie findet sie okay. Selbst verwendet sie keine.
„Du bist wie Putin.“
Ihre Oma ist beleidigt.
Nadja entschuldigt sich. Sagt: „Dann bist du Biden, ich Selenskij.“
„Nein, ich bin Selenskij, du Biden.“
Sie kennt weitere Schimpfnamen. „Kadyrow; „Lawrow“; „Schojgu“. Ich habe sie im Hof fluchen gehört.

Sie hat Selenskij gezeichnet, er erinnert an einen Elfen. Im grünen Wams.
Sie hat Putin gezeichnet, er erinnert an Dracula.
Sie hat ein Auge gezeichnet, das den Krieg sieht. Das hat sie sich, sagt sie, ausgedacht.
In diesem Zyklopenauge: ein behelmter russischer Soldat; ein getötetes Lämmchen. Eine Frau, auch getötet. Explosionen. Ein Flugzeug im Sturzflug.
Der rote Punkt über der Braue – ein Pickel. Unter dem Auge Muttermale und Tränen.

Russischunterricht. Die Lehrerin ist zugeschaltet. Im Hintergrund Explosionen. Die Lehrerin ist sehr hübsch. Die Schüler werden sehr gut Russisch sprechen. Besser als in Twer. Besser als in Kaluga.
Mein Vater lernte nach dem Krieg Deutsch. Er konnte mir nicht helfen, ich hatte Englisch. In der Sowjetunion wurde die Sprache des Feindes gelehrt. Des jeweils neuen. Russisch war meine Muttersprache. Nadja hatte auch angefangen, es zu lernen, jetzt macht sie weiter – wie damals mein Vater mit Deutsch.
Die vierte ist die letzte Grundschulklasse. Im Januar begannen die Vorbereitungen für die Abschlussfeier. Im Februar begann der Krieg.
Nadjas Schulfreunde sind über die ganze Ukraine verteilt. Oder im Ausland. In Charkiw ist von der vierten Klasse nur noch einer übrig, Ljoscha. Von vierundzwanzig. Vor kurzem waren es noch zwei: Nadja und Ljoscha.
Die Klassen wurden zusammengelegt. Von unserer 4b „besuchen“ zehn Kinder den Unterricht. Die anderen sind schon auf anderen Schulen. In anderen Städten. Manche von ihnen wird sie nie wiedersehen.

Die Katze beißt mich sanft in die Hand, sie will spielen. Ich spiele mit ihr.

 

Aus dem Russischen von Petra Huber

 


[1] Nadja ist die Grundform des Namens, Nadeschda eine der im Russischen sehr verbreiteten Koseformen.

[2] „Nadeschda“ (Hoffnung), Lied von Anna German aus dem Jahr 1977.

[3] Elektronik ist die Hauptfigur des sowjetischen Kinderbuchfilms „Prikljutschenija Elektronika“, „Die Abenteuer des Elektronik“ (dt. Titel: „Der elektronische Doppelgänger“) aus dem Jahr 1979.

[4] Dmitrij Vadimovitsch Charatjan, geb. 1960, ist ein in der Sowjetunion und auch im heutigen Russland beliebter Schauspieler.

[5] Tscheburaschka ist eine in der Sowjetunion und auch in Russland sehr bekannte Fantasiefigur mit riesigen Ohren und zottigem braunen Fell.

[6] „Der Ausspruch Russisches Kriegsschiff, verpiss dich wurde zu einem Meme – er datiert auf den 25. Februar, den zweiten Kriegstag zurück: Ein auf der militärstrategisch wichtigen Schlangeninsel im Schwarzen Meer stationierter Soldat richtete diese Worte an das russische Kriegsschiff Moskwa, bevor es zum Angriff überging und die Insel schließlich besetzte. Dieser universell anwendbare Slogan – ganz Russland als Kriegsschiff – […] zählt zu den am meisten verbreiteten ukrainischen Slogans im russischen Angriffskrieg.“ S. https://specials.dekoder.org/coded-language/krieg-ukraine-memes/ (Vgl. Fußnote 4 im II. Teil)