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30.07.2024, 12:15 Uhr
Sophie Wiederroth
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(c) Volk Verlag

„Thereses Töchter“ und das Augustinerbräu – eine weibliche Gründerdynastie-Geschichte

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Therese Wagner, um 1845

Wer kennt sie nicht, die große und Münchens älteste Traditionsbrauerei „Augustiner Bräu“, wer ist nicht an einer der mehr als 60 Wirtschaften vorbeigekommen, an dem Biergarten zum Beispiel, hat irgendwann einmal vom Augustinerbier selbst gekostet. Was aber vielen lange nicht bekannt gewesen sein dürfte: wie stark die Geschicke der Privatbrauerei mit der Geschicklichkeit, dem Mut und der Tatkraft von Frauen zusammenhängen. Diese Leerstelle besetzt Marta Haberland, die, unter Einsatz eines Pseudonyms, eine umfassende, lehrreiche und sehr nahbare Romanbiografie über Therese Wagner und die vielen anderen Frauen innerhalb der Augustinerdynastie vorgelegt hat. Sophie Wiederroth hat das Buch für das Literaturportal Bayern gelesen und zeichnet die Geschichte von Thereses Töchter (Volk Verlag, 3. Aufl. 2022) nach.

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Catherine Demeter, die Vorsitzende der Edith-Haberland-Wagner-Stiftung, hat das Vorwort geschrieben. Und gleich schon bei der ersten Seite bekommt man den Eindruck: Spannend ist nicht nur die Geschichte der Wagner-Frauen selbst, eingebettet in detaillierte Wissensvermittlung über zeithistorische Ereignisse, sondern auch die Entstehungsgeschichte dieses sich sehr nah an Fakten haltenden – tatsächlich tummeln sich nur ein oder zwei fiktive Charaktere darin – Generationenromans. Ein Koffer aus vergangenen Zeiten spielt dabei eine besondere Rolle. Catherine Demeter findet darin, neben einigen teilweise sogar ungeöffneten Briefen, einen Brief ihrer Großmutter an die Augustinerfrau Emmi, die bereits vor über 80 Jahren um Unterlagen zu den gemeinsamen Wagner-Vorfahren gebeten hatte. Kein Wunder, dass Demeter die Familienrecherche nun umso mehr als drängenden Auftrag an sich versteht. Gemeinsam mit Mitarbeitenden der Stiftung wird im hauseigenen Archiv gestöbert und sortiert, auch in städtischen und staatlichen Archiven. Sogar Gespräche mit den letzten Zeitzeugen gelingen, teilweise gerade noch in letzter Sekunde, und bilden die Grundlage für dieses imposante Zeitgemälde um das Augustinerbräu und die Frauen und Männer, die es groß werden ließen.

Stammhaus in der Neuhauser Straße (1829)

1844

Der Roman beginnt mit dem Jahr 1844. Therese übernimmt, nach dem Tod ihres an Lungensucht verstorbenen Mannes, noch ganz in Trauer und geschäftlich auf sich allein gestellt, den Augustinerbetrieb. Fünf Kinder hat sie da bereits. Marta Haberland nimmt den Leser indes noch weiter zurück in die Vergangenheit und zeigt das Werden und Wachsen von Therese. Ohne dieses Wissen versteht man kaum, wie sie als Frau jener Zeit derart unbeirrt ihrem Weg folgen kann. Als Tochter von Mühlenbesitzern erhält die sehr aufgeweckte Therese schon früh Privatunterricht und es ist zweifellos so: Bildung macht selbstbewusst. Jahre später übernimmt sie mit ihrem Mann Anton, den sie durch Zufall oder einen weisen Schachzug ihrer Mutter kennen- und sehr rasch auch lieben lernt, zunächst das Hagnbräu in Freising. Bereits hier zeigt sich ihr selbstbewusstes und umsichtiges Wirken. Regelmäßig hält sie Gespräche mit ihrem Mann ab, ist in alles eingebunden, an allen Entscheidungen beteiligt. Ungewöhnlich zu dieser Zeit ist auch die Fortschrittlichkeit ihres Mannes. Die Geschichte über die Stärke der Augustiner-Frauen kann man sicher gleichzeitig auch als eine über die Besonnenheit und erstaunliche Progressivität ihrer Männer lesen. Jedoch: Ohne Talent, Ehrgeiz, Intelligenz und Mut bringt auch alles Wollen nichts – aber Therese verfügt über all diese Attribute und der Erfolg schreitet voran. Bereits 1821 hat München Freising den Bischofssitz „geraubt“. Es scheint also nur konsequent, sich nach München auszurichten, denn wo Freising „Stillstand“ bedeutet, liegen in München die besten Chancen auf Wachstum – und Wachstum ist es, was ein kluger Unternehmer immer im Blick haben muss. So werden Therese und Anton zunächst Pächter eines Guts in Birkenau – das später einmal, nicht ohne großen Anteil des Ehepaars, bekannt sein wird als Gemeinde Halbergmoos – um nach einer gewissen Wartezeit das Geld für den Einstieg in das Augustinerbräu entrichten zu können.

Therese Wagner

Die Arbeit ist hart, aber gelingt. Bis zum Jahr 1840, als Thereses Mutter stirbt, und sie selbst eine Zeitlang den Blick für das Geschäft verliert. Fünf Kinder hat sie nebenbei noch zu versorgen und nun die Trauer um die Mutter. In diese Zeit fällt eine geschäftlich höchst ungeschickte Entscheidung Antons. Er beschließt den Preis für das Bier über den gesetzlichen Höchstpreis hinweg zu erhöhen und bekommt Ärger vom hartnäckigen Magistratsbeamten Gerber, der dem Augustinerbräu ganz genau auf die Finger schaut. Als Gerber immer aufdringlicher wird, weiht Anton mit großem Unwohlsein seine Frau ein, die, wer kann es ihr verübeln, erst schimpft und flucht, um dann pragmatisch alles wieder ins Lot zu bringen. Es werden Entschuldigungsschreiben aufgesetzt, dann die Vorgängerwirte Gröber, mit denen man ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, ins Vertrauen gezogen und um Protektion gebeten. Den Preis verringert man in der Folge selbstverständlich wieder aufs erlaubte Maß, obwohl Anton noch damit angibt, dass im Augustiner mehr Malz als in anderen Bieren verwendet wird und darum ein höherer Preis gerechtfertigt sei. Stolz und Ehrgeiz lassen Anton erbeben, aber Therese holt ihn wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Vielleicht rettet sie dadurch auch das Geschäft, denn manchmal sind es doch die kleinen Vergehen, die einen zu Fall bringen. 1844 stirbt Thereses geliebter Anton. Wie es im Buch heißt: „Augustiner – das war nun Therese“.

Doch Therese hat es recht schwer unter den ausnahmslos männlichen Brauereibesitzern. Erst wird sie bei den gemeinsamen Zusammenkünften ignoriert, dann ändert man die Taktik, stellt ihr, statt weiter nur zu schweigen, törichte Nachfragen, stichelt und amüsiert sich. Einer der kleineren Brauereibesitzer versucht ihr gar das Geschäft abzunehmen, es scheint, als wittere er eine Chance, aber Therese ist nicht überfordert, sondern bleibt zäh. Nur ihre Geduld geht zur Neige. Und so lädt sie an einem erinnerungswürdigen Tag die anderen fünf Großbrauer der Stadt zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Ein geschäftliches Treffen auf Augenhöhe soll es werden, aber die geladenen Herren kommen nicht, statt ihrer deren Frauen, Schwestern oder Tanten. Nach anfänglichem Zorn über diesen offenkundigen Affront beginnt Therese mit den Damen zu plaudern, aus dem Plaudern wird ein Erfahrungsaustausch, wird eine Solidarisierung. Die gleich in doppelter Weise geschickten Damen scheinen ihre Männer jedenfalls ins Gebet genommen zu haben, denn nacheinander tauen die arg verstockten Brauereibesitzer auf. Therese denkt und agiert, wie man es vordem nur Männern zugetraut hat. Aus Verachtung wird Bewunderung. Sie packt an und modernisiert, denn Stillstand, das weiß Therese, ist der Tod jeden Wachstums. Neue Sudpfannen werden angeschafft, Saccharometer bestellt, Thermometer, alles Dinge, um den Geschmack des Bieres weiter zu verbessern. Bereits zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes steht Therese Wagner auf Rang 15 der Münchner Steuerzahlerliste. Ein ganz großer Erfolg. Für sie ist das Augustiner lange nicht nur Gelderwerb. Ihr ganzes Herz hängt daran, denn das Augustiner ist nicht nur Therese, es ist auch Anton. Obwohl sie viele Jahre später Glück in der Beziehung zum Brauereimeister Balthasar Fescher findet, ist ihr klar, dass eine Heirat ausgeschlossen ist. Sie muss sicherstellen, dass das Augustiner in der Hand der Familie Wagner bleibt. Und so kommt es auch. Nach Jahren harter Arbeit stirbt Therese 1858 im Alter von 61 Jahren und reicht das Zepter weiter an ihren ältesten Sohn Joseph und dessen Frau Bertha.

Joseph Wagner, um 1858

Joseph und Bertha Wagner

Auch Bertha, die zweite Frau mit eigenem Kapitel, ist eine Augustinerfrau durch und durch. Patent ist sie, sicher auf dem gesellschaftlichen Parkett und voller Sinn für Mode und Stil. Dabei ist für sie eigentlich ein anderer Weg vorgezeichnet. Ihr Vater Adolph Otto, ein Hofbeamter mit einigem Berufsstolz, möchte seine Tochter in aristokratischen Kreisen wissen, mindestens aber in höheren. Bertha aber liebt ihren gebildeten Brauereisohn Joseph, denn, wenn er schon keinen Stand hat, so hat er doch eine (Aus-)Bildung und ist ein Unternehmer mit Ehrgeiz. Bei ihm ist sie nicht nur Beiwerk, nicht nur Schmuckstück, sondern kann eigene Ideen einbringen und wirkend tätig sein. Man muss es ihrem Vater anrechnen, dass er sich dieser Ehe nicht aktiv widersetzt hat.

Kurz nachdem Bertha ihre Arbeit im Augustiner aufgenommen hat, errichtet sie einen Speiseraum für Geschäftsessen, setzt Akzente mit teurem Silberbesteck und Porzellan aus Meißen, die Speisekarte wird verschlankt, und dem Zeitgeist entsprechend serviert man neben obligatorischen bayerischen Gerichten auch französische Spezialitäten. Die Schänke für die weniger wohlhabende Kundschaft gibt es weiterhin und auch der von Bertha errichtete sogenannte „Affenkasten“, ein langes und schmales Gesellschaftszimmer, zieht mehr und mehr Kundschaft an. Aber es sind nicht nur diese, nur auf den ersten Blick scheinbar banalen Kleinigkeiten, mit denen Bertha dem Augustiner ihren eigenen Stempel aufdrückt. Sie lehrt ihre Angestellten auch, was sie selbst schon lebt: Gastfreundschaft. Denn nicht nur auf die „Pflege des Wampens“ kommt es, gemäß dem für seine gastronomischen Texte bekannten griechischen Dichter Archestratos an, sondern auch auf die „Kultur der Gastfreundschaft“. Das Augustiner soll keine anonyme Bahnhofswirtschaft sein, es soll befähigen, eine Kundenbindung aufzubauen. Zu den späterhin bekannteren Gästen gehört beispielsweise Lovis Corinth, damals ein Künstler, der gerade noch seine Zeche zahlen konnte, später ein berühmter Vertreter des deutschen Impressionismus und der Berliner Secession, der sich ausnehmend gerne im Affenkasten aufhält, wo es lärmt und von allen Tischen her qualmt.

Joseph Wagner zeigt Interesse an der aufkeimenden liberalen Bewegung und schätzt freiheitliche Ideen. Sicher hatte auch seine Mutter großen Anteil daran. Dennoch: Frauen dürfen noch immer nicht studieren, zudem untersagt ihnen ein damals geltendes Vereins- und Versammlungsgesetz, sich politisch zu betätigen und einen auch nur geringen Einfluss zu nehmen, der ihre Situation verändern könnte. Wie absurd dieser Ausschluss von Frauen schon damals war, macht die Autorin anhand Berthas Rede vor den Angestellten deutlich. Denn es waren Frauen, denen schon im Babylonischen Reich das Brauhandwerk und die Bewirtung von Gästen oblag. Frauen als Pionierinnen des Gastgewerbes. Bertha erinnert daran und gibt ihren weiblichen Angestellten mit auf den Weg, selbstbewusster zu sein.

Nach der zweiten, schweren Schwangerschaft Berthas liegt es an Joseph das Augustiner voranzutreiben. Die Eheleute sind eines Geistes und was sie antreibt, sind nicht nur Ehrgeiz und Liebe zum Geschäft, sondern auch der Wunsch, die Ideen der jeweils anderen besseren Hälfte umzusetzen. Einen Schub erfährt die Brauerei 1862 durch den neuen Wirtsgarten, heute bekannt als „Augustiner Keller“, ein hübscher Biergarten voller Kastanien, der gegenüber einer alten Hinrichtungsstätte liegt. Gerüchte besagen, dass wegen dieser Nähe keine Musik gespielt werden kann. Wahr ist die Geschichte von einem ausdauernden und geduldigen Bierochsen, der viele Jahre hindurch die Seilwinde betätigt und dadurch kühles Bier aus den Gründen des Lagerkellers hinaufbefördert. Reich und Arm speisen an diesem Ort zusammen. Wo sich die Reichen das Essen bestellen, bringen die Armen es selbst mit, aber jeder genießt die Sonne, die Gesellschaft und eine kleine Alltagsflucht.

So eine Biergartenstimmung hat einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Impressionismus, der Maler Max Liebermann, in einem Gemälde von 1884 anschaulich in Szene gesetzt. Und auch Franz von Lenbach soll im Augustinerkeller Skizzen für seine Gemälde angefertigt haben. Die Zeiten sind wechselhaft. Auf Bierkrawalle folgen Choleraausbrüche und schließlich, im Jahre 1874, der viel zu frühe Tod der an einer Lungenentzündung erkrankten Bertha.

Zeichnung der Augustinerbrauerei München von 1883

Sophie Wagner und die bürgerliche Frauenrechtsbewegung

Hier nun lernen wir eine weitere, sehr prägende Frau unter den Augustinnerinnen kennen: Sophie, die älteste Tochter von Bertha, die sich dermaßen aus den Zwängen, denen eine Frau in der damaligen Zeit ausgesetzt ist, herausemanzipiert, dass sie im Jahr 1894 sogar Gründungsmitglied des bedeutsamen Vereins für Fraueninteressen wird. Vorgestellt haben wird sie sich eine solche Zukunft in jungen Jahren wohl kaum. Nach dem Tod ihrer Mutter wird Sophie die Pflicht über den Haushalt sowie über die kleineren Geschwister übertragen und das sehr zum Nachteil ihrer schulischen Bildung, die sie frühzeitig abbrechen und durch Hausunterricht ersetzen muss. Besser wird ihre Situation erst, als sie einen Lehrerwechsel durchsetzt. Unterricht bekommt sie fortan von Magdalena Kirsch, die lebhaft, optimistisch und solidarisch mit dem eigenen Geschlecht umgeht. Ob es diese Magdalena Kirsch wirklich so gegeben hat, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Durch sie eröffnet sich für Sophie ein wahrer Reigen an erbaulicher und motivierender Literatur. Sie liest nicht nur Flauberts „Madame Bovary“, sondern auch Bücher von Sophie Mereau, eine Anfangs des 19. Jahrhunderts von Schiller geförderte Schriftstellerin der Romantik. „Aus ihren Zeilen“, heißt es im Buch, „sprechen Freiheitsdurst- und Liebessehnsucht“. Gänzlich unbeobachtet durch den abwesenden Vater Joseph, der sich intensiv mit dem Ausbau des Augustiners beschäftigt und für die Familie nur wenig Zeit erübrigen kann, entwickelt Sophie stabile Freiheitsgedanken und Selbstbewusstsein. Sie ist bereits über 20 Jahre alt, als sie Emil von Trentini, einen Adligen mit New Yorker Auslandserfahrung und auch sonst nicht völlig unbeleckt, lieben lernt und bei ihm untertaucht.

Sie, die gleichsam Kindheit wie Jugend übersprungen hat, möchte nun ein eigenes und vor allem eigenständiges Leben führen. Mit dem Majorssohn adliger Herkunft begibt sie sich auf eine Reise, die bis nach Italien führt, besucht dort seinen Palazzo, vor allem aber die Stadt, die schon für Therese unerfüllter Sehnsuchtsort war: Venedig. Nach Wochen der Abwesenheit von Zuhause, die Stille zwischen den Familienmitgliedern nur durchbrochen von einem Brief an ihren Vater, kehren die beiden Verliebten wieder in die Heimat zurück. Dort stellt sich Sophie ihrem Vater. Lange genug hat sie ihre Zeit vertan und möchte nicht wieder in die Neuhausergasse und in den Augustinerkosmos zurück. Das erklärt, warum das eigentlich mit „Sophie“ überschriebene Kapitel sich zu einem Großteil mit den durchaus sehr interessanten Entscheidungen und Denkweisen des Patrons Joseph Wagner beschäftigt. Sophies Wirken fächert sich dafür in den Folgekapiteln ab „München 1874“ auf – ihr Kampf für die Freiheit reicht bis weit in die kommenden Frauengenerationen.

In Schwabing lebend, damals ein Anziehungspunkt für die künstlerisch-intellektuelle Boheme, und ganz in der Wohn- und Gedankennähe von Franziska zu Reventlow, entdeckt Sophie ihre Leidenschaft für die Gleichberechtigung der Frauen, die bis zu ihrem Lebensende andauern soll. Besonders prägend ist ihre Bekanntschaft mit der bekannten jüdischen Münchner Literatin und Frauenrechtlerin Carry Brachvogel. Immer wieder besucht sie den Salon der Schriftstellerin, erhascht Blicke auf den Poeten Rainer Maria Rilke und die musenhafte Femme Fatale Lou Andreas-Salomé. Trotz dieser künstlerischen Zerstreuungen vernachlässigt Sophie ihr eigentliches Ziel jedoch nicht: hilfsbedürftigen Frauen eine Unterstützung zu bieten. Ihr Verein kümmert sich um eine Rechtsschutzstelle für benachteiligte Frauen, eine Beratungsstelle für hilfesuchende Frauen (und auch Männer), und es gelingt ihr, Carry Brachvogel für ein Engagement im Verein zu gewinnen. Die sog. „Isar-Suffragetten“ heißen aber auch Männer als Vereinsmitglieder willkommen. Der bereits erwähnte Rilke ist darunter, aber auch der Bildhauer Hermann Obrist sowie der Jugendstilkünstler August Endell. Eine große Bedeutung für Sophie hat der erste bayerische Frauentag. Mitstreiter aus allen Teilen des Landes sollen in München zusammenkommen, um vier Tage lang die Emanzipation hochzuhalten und die Aufmerksamkeit für dieses wichtige Thema zu stärken. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs sind Frauen dann auf einmal „gut genug“, spottet Sophie, denn Frauen werden nun in wichtigen Positionen eingesetzt, wenn auch zu einem geringeren Gehalt als Männer. Auch bekümmert sie die Unterstützung für den Krieg innerhalb der Frauenbewegung. Immerhin: Nach der Novemberrevolution 1918 ruft der Sozialdemokrat Kurt Eisner nicht nur den Freistaat Bayern aus und befreit damit das Land von der Monarchie, sondern führt als erster Politiker in Bayern auch das Wahlrecht für Frauen ein.

Belegschaft der Augustinerbrauerei um 1890 im Innenhof an der Landsberger Straße

Die Söhne übernehmen das Zepter

Richard und Max Wagner, die beiden Söhne von Joseph, übernehmen nach dessen Tod das Augustiner. Nach anfänglich geschwisterlicher Rivalität raufen sie sich zusammen und bringen das Augustiner professionell einen Schritt nach vorn, so stabil, dass es auch weiterhin in privater Hand bleiben kann. Besonders die Sparte des Auslandsgeschäfts wird unter den Brüdern groß aufgebaut. Ihre Gattinnen, deren Konterfeis zwar im Buch abgebildet sind, deren Bedeutung für das Unternehmen aber nicht bestimmend genug ist für das Kapitel „München um die Jahrhundertwende“, sind als Brauereifrauen fürs Repräsentieren des Augustiners zuständig. Wo dies Richards Frau, der eleganten aus Karlsruhe stammenden Tänzerin Emmi Burkhardt, in die Wiege gelegt zu sein scheint, tut sich die aus einfachen Verhältnissen stammende Sophie Dallmaier damit schwer. Nicht nur leidet sie unter Richards herablassender Art, auch ihr introvertiertes Wesen erschwert ihr, leicht und fröhlich zu parlieren, entspannt, einnehmend und stolz das Augustiner zu repräsentieren. Überhaupt fällt auf, dass das Repräsentieren, die Gesellschaftsfähigkeit, mit den Jahren eine deutlich größere Rolle für die Augustinerfrauen einnimmt. Die Männer wiederum haben vollständig das Zepter übernommen, geschäftliche Überlegungen und Entscheidungen treffen sie jetzt allein. Im Roman erfährt man, dass Emmi gerne einen größeren Garten hätte, um nackt zu tanzen, und Lucy, die Tochter von Sophie Wagner, eine begabte Tennisspielerin und passionierte Bergsteigerin ist.

Edith Haberland

Die Tochter Sophie Dallmaiers und Max Wagners, Edith Haberland, hat jedoch eine andere Zukunft vor sich, die mehr mit dem Augustiner zu tun hat, als es anfangs scheint. Zunächst bringt sie ihr musikalisches Talent nach Berlin, wo sie als Mezzosopranistin auf Einsatz in der Charlottenburger Oper hofft. Sie verliebt sich in einen jungen charmanten Schauspieler. Derweil steht die Lage in München nicht zum Besten. Die Inflation frisst das Vermögen der Wagner-Familie auf. Ediths Vater Max, vor allem aber ihre Tanten, geraten immens mit Richard aneinander, als sie, in Panik um ihre Kinder und Kindeskinder um Auszahlung ihres Firmenanteils bitten. In ihrer Hartnäckigkeit bestehen sie auf ein Sonderkündigungsrecht, aber die Familie zerbricht darunter, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit für das Augustiner: Investitionen können nicht getätigt, das Geschäft nicht ausgebaut werden. Nach schlechten Zeiten kommen wieder bessere. Edith heiratet ihren Edmund. Auch wirtschaftlich geht es aufwärts. Sie bleibt in Berlin, lässt aber, wegen eines immer stärker anschwellenden Lampenfiebers, den Operngesang sein, während sie der Kunst weiterhin treubleibt, für eine Galerie arbeitet und sich autodidaktisch fortbildet. Bekanntschaft macht sie schließlich mit der Collage-Künstlerin Hannah Höch. Während der Zeit des Nationalsozialismus geht allerdings auch die Freiheit der Kunst dahin. Manche, wie Höch, ahnen das schon früh.

Unter den Nationalsozialisten gelingt es Richard deren Pläne zu vereiteln, die darin bestehen, einige Münchner Brauereien zu schließen und das, was darin verwertbar ist, für die Rüstungsindustrie auszuschlachten. Richard hat gute Argumente in der Hand: Die Bedeutung der Brauereien für die Allgemeinheit erklärt sich aus dem Eis, das für Lazarette und Krankenhäuser hergestellt wird, aus der Wichtigkeit des betriebseigenen Brunnens, der Löschwasser produzieren kann, und aus der Versorgung kleinerer Betriebe und einiger Haushalte mit geteiltem Strom. Allerdings bleibt die Weste nicht ganz weiß. Richard und sein Sohn Rudolf treten in die NSDAP ein. Zunächst wohl aus Überzeugung, später dürfte der Schutz des Unternehmens eine größere Rolle gespielt haben. Nach dem Tod Richards übernimmt sein Sohn; fast unsichtbar leitet er die Geschicke der Brauerei, setzt zwar keine eigenen Akzente, aber sorgt dafür, dass die Maxime des Augustiners vor allem auch in Bezug auf die hohe Qualität weiter eingehalten werden. Nach seinem Tod muss alles neu geordnet werden, denn einen Erben oder ein Testament hat sein Vater nicht hinterlassen.

Edith von Haberland hält den größten Erbanteil und wird Hauptgesellschafterin. Sie tritt aus der Münchner Künstlervereinigung aus und kümmert sich fortan intensiv um die Modernisierung. 1982 wird der Investitionsstau in Angriff genommen, neue Anschaffungen werden getätigt. 1986 wird eine Idee Ediths Wirklichkeit, denn nach Bearbeitung durch Ferdinand Schmid, zusammen mit den Augustiner Braumeistern, kommt das Augustiner Weißbier auf den Markt. Der Betrieb mit seiner reichen Familiengeschichte liegt Edith sehr am Herzen und so verfügt sie, dass nach ihrem Tod ihr Mehrheitsanteil am Augustiner in eine wohltätige Stiftung fließen soll.

In einer hübschen kleinen Villa ganz in der Nähe der Theresienwiese befindet sich heute die Edith-Haberland-Wagner-Stiftung. Nur wenige Meter dahinter erinnern das Hotel „Augustin“ sowie das gemütlich-elegante Restaurant „Fräulein Wagner“ an die Menschen, die das Augustiner großgemacht haben. Zu schätzen wissen kann man das vielleicht nur, wenn man entweder selbst aus dem Geschlecht der Augustiner-Wirte stammt oder aber den dicken, wunderbar „süffig“ geschriebenen Augustinerroman Marta Haberlands zu Ende gelesen hat und tausende Bilder, Gerüche, Stimmungen, Erfahrungen über die Münchner Jahrhunderte einem dabei durch den Kopf gehen.

 

Marta Haberland: Thereses Töchter. Die Augustinerbräu-Gründerdynastie Wagner. Volk Verlag, München, 3. Aufl. 2022, 568 S., ISBN 978-3-86222-357-2, € 26,00.