Über lustige Sprüche auf Postkarten, die Komikerin Liesl Karlstadt und die Frage, wen wir in 100 Jahren zitieren werden – Literarische Erkundungen (12)

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Alle Fotos (c) Fabienne Imlinger

In ihrer zweiten literarischen Erkundung findet Fabienne Imlinger auf dem Weg zur Toilette im Untergeschoss der Monacensia eine Postkarte von Liesl Karlstadt. Von dieser Postkarte ausgehend fragt sie sich, warum Kunst schön ist, aber viel Arbeit macht, was Postkartenständer mit der Literaturgeschichte zu tun haben und wieso Liesl Karlstadt den Job von fünf queeren Menschen machen musste.

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Brav sein, gell! Postkartenzitate, künstliche Intelligenz und der Gang zur Toilette der Monacensia

 

Eines Tages kam jemand auf die Idee, Sinnsprüche auf Postkarten zu drucken, und seither gibt es kaum mehr einen Postkartenständer ohne wahlweise lustige, tiefgründige, kluge oder anderweitig bemerkenswerte Sprüche. Oft werden diese Sprüche als Zitate berühmter Persönlichkeiten verkauft, und wenn ich berühmte Persönlichkeiten sage, dann meine ich natürlich: Männer. Sehr beliebt sind zum Beispiel Albert Einstein und Sokrates. Woody Allen war es ebenfalls, doch dürfte sein Stern auch am Postkartensprüche-Himmel zuletzt ziemlich gesunken sein.  

Ich persönlich glaube ja, dass Menschen in Marketingabteilungen sich diese ganzen Sprüche ausdenken. Mittlerweile ist es wahrscheinlich sogar eine KI, die sie sich ausdenkt, wobei ausdenken hier streng genommen nicht das richtige Wort ist, sondern generieren. Es würde mich jedenfalls sehr wundern, wenn Aristoteles tatsächlich einmal gesagt hat:

Wo deine Talente und die Bedürfnisse der Welt sich kreuzen, dort liegt deine Berufung.

Wissen Sie, ich bin Literaturwissenschaftlerin, wenn ich ein Zitat vorgelegt bekomme, will ich erstens eine Quellenangabe sehen und zweitens den Text in Originalsprache.

Da ich Literaturwissenschaftlerin bin, können Sie sich vielleicht meine Freude vorstellen, als ich neulich nach meiner kleinen Entdeckung am Schreibtisch von Oskar Maria Graf die Toilette der Monacensia aufgesucht habe. – Ja, auch Literaturwissenschaftlerinnen gehen aufs Klo, ich erwähne das nur, weil es vor Jahren mal ziemlichen Wirbel um die Schweißflecken auf Angela Merkels Blazer gab. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich schwitze, wenn es heiß ist, und wenn ich trinke, insbesondere Kaffee, dann muss ich aufs Klo. Sie ahnen vielleicht, worauf ich hinauswill: Auch Frauen haben Körper, obwohl das offenbar bei manchen Menschen immer noch für Erstaunen sorgt. Doch wie Sappho einst sagte:

Wo der weiblich gelesene Körper und das öffentliche Interesse sich kreuzen, dort liegt schon das Patriarchat auf der Lauer.

Ist natürlich nicht von Sappho, sondern von mir, und ich gebe zu: Da ist noch Luft nach oben. Wenn ich mir allerdings so anschaue, was eine als Zitate-Generator angepriesene KI beim Thema „Putzen“ an vermeintlich lustigen Sprüchen raushaut, dann sehe ich rosige Zeiten für meinen Nebenverdienst als Sprücheklopferin voraus:

Aber zurück zur Toilette der Monacensia. Dort nämlich, genauer gesagt im Gang zur Toilette im Untergeschoss befindet sich eine Wand mit Postkarten, und auch dort darf das Modell „Zitate berühmter Persönlichkeiten“ natürlich nicht fehlen.

Die hier versammelten Postkarten ließen allerdings mein literaturwissenschaftliches Herz höherschlagen, weil sich erstens auf der Rückseite eine einwandfreie Quellenangabe befand, und weil zweitens auch Zitate von Frauen darunter waren. Sie sehen, wir Literaturwissenschaftlerinnen sind eigentlich leicht zufriedenzustellen. Eine der Karten sprang mir sofort ins Auge, vermutlich weil dieser Spruch genauso gut von meinen Tanten hätte kommen können. 

 

Liesl Karlstadt und Amalie Wellano – Schwesternschaft durch dick und dünn

Wie sich herausstellte, lag ich mit meiner Tanten-Assoziation gar nicht so falsch. Denn die Aufforderung zum Bravsein stammt aus einem Brief von Liesl Karlstadt an ihre Schwester Amalie Wellano. Der Vater der beiden war übrigens Bäcker, hatte jedoch, anders als der Vater von Oskar Maria Graf, nichts mit den schlechten Zähnen Ludwigs II. zu tun. Die Mutter starb, als Elisabeth Wellano (aka Liesl Karlstadt) sechzehn war und Amalie sechs. Fortan war Elisabeth nicht nur große Schwester, sondern auch Mutterersatz – daher wahrscheinlich die halb ernst gemeinte Ermahnung zum Bravsein im Brief vom 7. Mai 1956, zu einem Zeitpunkt also, als Amalie immerhin 54 Jahre alt ist.

Zeit ihres Lebens verband die Wellano-Schwestern eine enge Beziehung, sie wohnten zusammen und sorgten füreinander, wie in Gunna Wendts Porträt der beiden nachzulesen ist.[1] Während der „schweren Jahre“ nach Liesl Karlstadts Selbstmordversuch im April 1935 stand Amalie ihrer Schwester ebenfalls bei.[2] Die schweren Jahre im Leben von Liesl Karlstadt wiederum hatten viel mit jener anderen Beziehung zu tun, über die Sie vermutlich – wie ich bis vor Kurzem auch – sehr viel mehr wissen als über die lebenslange Verbundenheit zwischen Amalie und Elisabeth. 

Und es ist schon komisch – und wenn ich sage komisch, dann meine ich: Es wundert mich überhaupt nicht, dass ich im Gang zur Toilette der Monacensia zum ersten Mal eine Postkarte mit Liesl-Karlstadt-Zitat gefunden habe, während Karl Valentin wohl die unumstrittene Nummer eins in der Postkartenzitate-Hitparade ist, zumindest im deutschsprachigen Raum. Ach, was sage ich, Nummer eins – Karl Valentin hält bestimmt Platz eins bis zehn der Postkartenzitate-Hitparade! Ihm werden sogar Dinge in den Mund gelegt, die er niemals gesagt hat,[3] unter anderem etwa das folgende Zitat:

Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit!

Dass Kunst schön ist, aber viel Arbeit macht, dürfte sich zweifellos auch Liesl Karlstadt des Öfteren gedacht haben. Denn sie war nicht nur die kongeniale Partnerin Valentins, sondern unterstützte ihn emotional und psychisch, organisierte ihrer beider Auftritte, sorgte dafür, dass der notorisch neurotische Valentin überhaupt die Bühne betrat,[4] und finanzierte schließlich sein Panoptikum genanntes Gruselmuseum, das ein voller Misserfolg war, wodurch sie ihre Ersparnisse verlor. Kurzum: Liesl Karlstadt ist eine ziemlich gute Illustration der These Laurie Pennys, der zufolge es fünf schwule Männer braucht, um den Job einer Frau zu machen.[5] Ehrlich gesagt wundert es mich gar nicht, dass Liesl Karlstadt irgendwann keinen Bock mehr hatte und zusammenklappte.

Aber was haben denn die Postkarten damit zu tun?, höre ich meine Tanten fragen. Und überhaupt: Sollte es nicht ums Putzen gehen? Und was ist mit der Bürste von Oskar Maria Graf?

 

Was haben Postkartenständer und Literaturgeschichte gemeinsam?

An der Bürste bin ich dran, das Putzen kommt noch, und das mit den Postkarten ist eine Analogie. Denn es verhält sich in der Literaturgeschichte ähnlich wie mit den Postkartenständern: Es gibt ein Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen (von Menschen, die nicht den binären Geschlechtskategorien zugehören, ganz zu schweigen).

Und wenn ich Ungleichgewicht sage, dann meine ich, dass sich in der Monacensia Dokumente von 464 Schriftstellern, aber nur von 91 Schriftstellerinnen befinden.[6]

Wenn ich Ungleichgewicht sage, dann meine ich, dass die Pilotstudie des Projekts #frauenzählen aus dem Jahr 2018 zu dem Fazit kommt, dass sich zwei Drittel aller Rezensionen im deutschsprachigen Feuilleton mit Werken von Autoren befassen, dass Männer überwiegend über Männer schreiben und ihnen mehr Raum für Kritiken zur Verfügung steht.

Wenn ich Ungleichgewicht sage, dann meine ich schließlich, dass in der Wikipedia 82 Prozent der biografischen Einträge Männern gewidmet sind und nur 18 Prozent Frauen.[7]

Das ist nicht zuletzt deshalb eine ziemliche Katastrophe, weil KIs wie der von mir konsultierte Zitate-Generator ihre Fähigkeiten anhand von Datensets und Textmengen trainieren, die häufig aus dem Internet, beispielsweise aus der Wikipedia, stammen. Wenn wir also nicht, wie es die Monacensia bereits seit einigen Jahren tut, aktiv etwas gegen dieses Ungleichgewicht tun, werden wir in 100 Jahren immer noch KI-generierte Sprüche von Karl Valentin lesen müssen.

Zugegeben: Es gibt Schlimmeres. Aber: Es gibt definitiv auch Besseres. Liesl Karlstadt zum Beispiel hat im Grunde selbst schon für ihre eigene, druckreife Zitate-Postkarte gesorgt, als sie ein Porträtfoto mit folgender Widmung an Karl Valentin versah: „Meinem komischen Partner und Patienten Karl Valentin in nie versagender Geduld gewidmet von Liesl Karlstadt. Beruf: Nervenärztin. Nebenbeschäftigung: Komikerin.“

So, und was das alles mit Putzen zu tun hat, das erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal!

 

Die „Literarische Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen jeden Monat neu (jeden ersten Dienstag) und setzen sich mit der Frage „Wer putzt?“ auseinander. Mein Name ist Fabienne Imlinger, ich bin nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Feministin und future girlboss im Postkarten-Business. Gemeinsam mit Martina Kübler versuche ich in unserem Buchpodcast Ich lese was, was du auch liest! dem Ungleichgewicht im deutschsprachigen Feuilleton zumindest ein wenig entgegenzusteuern. 

 

[1] Siehe Wendt, Gunna (2022): Wir waren doch Teile voneinander. Geschichten von berühmten Schwestern. Reclam.

[2] Siehe dazu auch Koll, Andreas; Rinberger, Sabine (2019) (Hg.): Liesl Karlstadt – Schwere Jahre 1935–1945. Antje Kunstmann Verlag.

[3] Es handelt sich hierbei tatsächlich, wie der Literaturwissenschaftler und Autor Dirk Heißerer ausführt, um einen kurzen Dialog aus dem Film Die verkaufte Braut von 1932, den Valentin darin weder spricht noch dafür geschrieben hat. Siehe dazu www.sueddeutsche.de/muenchen/streit-um-ein-zitat-von-valentin-oder-nicht-1.4168580

[4] Siehe dazu auch den Artikel „Nervenärztin und Komikerin“ von Dr. Michaela Karl.

[5] Vgl. www.thebaffler.com/latest/the-queer-art-of-failing-better-penny. Laurie Penny spricht in diesem Artikel noch von fünf schwulen Männern, weil Jonathan van Ness sich erst seit 2019 öffentlich als nicht-binär identifiziert.

[6] Vgl. www.sueddeutsche.de/muenchen/blogparade-femaleheritage-gemeinsam-luecken-schliessen-1.5107070

[7] Die Einträge zu Personen, die nicht in die binären Geschlechtskategorien fallen, sind so gering, dass sie prozentual nicht ins Gewicht fallen, konkret gab es im Jahr 2021 276 Einträge zu trans Männern, 1073 Einträge zu trans Frauen, 115 zu Intersex-Personen und 645 zu nicht-binären Personen. Diese Daten entnehme ich einem Vortrag von Daniele Metilli und Chiara Paolini zu nicht-binären Geschlechtsidentitäten in Wikidata, den sie im Oktober 2021 auf der WikidataCon hielten. Der Vortrag ist nachzusehen unter  www.youtube.com/watch?v=lIsmFUuGvCw