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07.06.2024, 10:00 Uhr
Nikolai Vogel
Text & Debatte

„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (8)

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Bild von Oleksiy Shuman auf Pixabay

München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...

*

Außenstelle Deutsches Museum

 

Wie spät? Es ist noch nicht mal richtig hell. Immer diese Türglocke. Ein Päckchen? Oder der Nachbar hat wieder seinen Schlüssel vergessen? Schwerfällig quäle ich mich aus dem Bett und tapse den Flur hinab zur Gegensprechanlage. „Ja, bitte?“ – „Lieferung!“ – „Ich habe nichts bestellt und der Nachbar hat sein Paket von letzter Woche noch nicht mal bei mir abgeholt!“ – „Der Zustellschein lautet auf Sie! Vogel?“ – „Ja, das bin ich ...“ Ich drücke auf den Türöffner.

Es dauert eine ganze Weile. Dann tauchen gleich vier Männer unten im Treppenhaus auf. Sie schleppen eine große Kiste. Was um alles in der Welt, mag das sein?

„Hier unterschreiben!“ Verwundert und verschlafen krakele ich so etwas wie eine Unterschrift auf einen Mini-Touchscreen. Ohne mich zu fragen, tragen die Männer die Kiste in meine Wohnung, platzieren sie mitten im Zimmer, das doch ohnehin nicht groß ist.

„Was ist das“, frage ich.
„Deutsches Museum“, sagt der Mann, der wohl der Sprecher der Truppe ist.
„Wie Deutsches Museum“, frage ich.
„Na, haben Sie denn nicht Bescheid bekommen?“
„Nein, was denn für einen Bescheid?“
„Na, über das Exponat, das zu Ihnen ausgelagert wird.“
„Exponat?“
„Ja, das werden Sie doch mitbekommen haben, das Deutsche Museum ist zu klein geworden, es platzt, vor allem auch wegen des Umbaus, aus allen Nähten. Etliche Privatwohnungen wurden von der Stadt ausgelost, und erhalten Exponate. Natürlich nur als Leihgaben – und natürlich müssen Sie sich an die Öffnungszeiten des Museums halten.“
„Aber! Und was ist das für ein Ding?“ Die anderen Männer haben schon begonnen, die Kiste auszupacken und das Exponat zu installieren.
„Moment, schauen wir mal hier in den Lieferschein … Die Z4. Sie wissen schon, von Konrad Zuse. Die ist es ja gewohnt, transportiert zu werden. Die stand auch schon mal in einem Schuppen rum … Das muss man sich mal vorstellen. Der erste kommerzielle Computer der Welt, wenn ich mir das richtig gemerkt habe. Haben Sie ein Glück. Das ist doch wirklich interessant. Da kommen sicher immer wieder Museumsbesucher_innen vorbei.“ Er machte wirklich den Glottisschlag und ich überlegte, ob das Deutsche Museum der bayerischen Verwaltung untersteht … „Aber passen Sie bloß gut darauf auf! Sie haben Aufsichtspflicht!“

Das Ding ist riesig. Die Männer sind schnell und fügen es mit gekonnten Handgriffen zusammen. In der Zwischenzeit haben sie sogar noch mehr Kisten geholt. Ein großer, pultartiger Tisch steht jetzt mitten in meinem Zimmer und ich schaue ihn mit großen Augen an.
„Ja, ja, die Schreibmaschine gehört dazu. Und hier dieses Schaltpult auch.“
Ich trete näher heran.
„Und spielen Sie nicht auf der Tastatur herum! Der Speicher und das Rechenwerk kommen noch. Das ist nicht so klein, wie die Dinger von heute! Ich schlage vor, Sie bauen die Regale hier schon mal ab, wie sollen wir das sonst hier unterkriegen? Wahrscheinlich müssen wir ohnehin noch Ihr Schlafzimmer mit hinzunehmen.“

„Was ist denn das für ein roter Knopf“, frage ich. „Da steht Irrtum darunter!“
„Nein, drücken Sie ihn nicht!“
Ich zögere kurz, dann drücke ich ihn ganz schnell – 

– und wache auf ...

 

 

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.