Ein Gesprächsabend mit Didier Eribon zu seinem Buch „Eine Arbeiterin“
Das Literaturhaus München lud am 18. April 2024 den französischen Autor Didier Eribon zum Gespräch mit Zeit-Online Journalisten Vanessa Vu über sein neues Buch Eine Arbeiterin (Vie, vieillesse et mort d'une femme du peuple). Die deutsche Übersetzung des Textes las Stéphane Bittoun.
*
An diesem Abend ist die Atmosphäre im Literaturhaus München beinahe wie im Theater. Zahlreiche Menschen steigen die Treppen hinauf und sammeln sich im Foyer mit Blick auf die Theatinerkirche. Der Saal füllt sich bald mit einem gut gelaunten Publikum, das sich die Laune durch Warten nicht verderben lässt. Als Didier Eribon, Vanessa Vu und Stéphane Bittoun die Bühne betreten haben, eröffnet Tanja Graf, die Leiterin des Hauses, den Abend mit der Bitte, die Verspätung zu entschuldigen. Der Autor habe im Stau gestanden, außerdem benötige er im kalten München erstmal einen Tee. Die Tasse mit Tee hat der französische Autor mitgebracht, die wattierte lange Jacke zieht er auch erst auf der Bühne aus. Der Abend beginnt mit einer von dem Synchron- und Hörbuchsprecher Bittoun sehr gestisch gelesenen Passage aus Eribons aktuellem Buch. Der stark in die Rollen gehende, vermeintlich lebendige Vortrag würde eher zu einem Jugendbuch passen als zu dem nüchternen, Szenen nur skizzierenden Text, den Didier Eribon vorgelegt hat.
Das Buch schildert in erster Linie die letzten Wochen im Leben von Eribons Mutter und reflektiert von da ausgehend Alter und Autonomieverlust des Menschen, soziale Aspekte der Heimunterbringung, kommt aber auch immer wieder auf frühere Lebensphasen der Frau aus der Arbeiterklasse zurück. Eribon liebt es, Bezüge zu anderen Büchern, erzählenden wie reflektierenden, herzustellen, das zeigt sich auch in dem folgenden Gespräch. Der Autor selbst verzichtet auf die Lesung seines Originaltextes.
Vanessa Vu, die zur Freude des Publikums im bayerischen Eggenfelde geboren ist, jahrelang in Paris und nun in Berlin lebt, schreibt Reportagen und macht einen Podcast mit „vietdeutschen Geschichten“. Sie sei in Armut aufgewachsen, heißt es bei der Vorstellung. Damit soll vermutlich der Bogen zu Didier Eribons und seiner Herkunft aus der „Arbeiterklasse“ geschlagen werden. Auf der Bühne herrscht dagegen eine gepflegte bildungsbürgerliche Atmosphäre. Weder am Ton der Diskussion noch an der Kleidung oder den Getränken lässt sich eine Abweichung von Gewohnheiten der bildungsbürgerlichen Schicht erkennen. Bittoun sticht mit seiner klassenlosen Casual Wear da fast schon hervor.
Auch der Duktus des Gesprächs ist angenehm, gebildet und gepflegt. Vu dolmetscht konsekutiv, so kann das Publikum den Ausführungen Eribons im Original folgen. Dem Eindruck nach verstehen viele der Anwesenden ausreichend Französisch, um dem Autor und Journalisten und Akademiker zu einigermaßen zu folgen. Die Lacher müssen jedenfalls nicht warten, bis Vu die deutsche Übersetzung, manchmal auch stark verkürzende Zusammenfassung des Gesagten liefert.
Er habe ein intimes und persönliches Buch schreiben wollen, sagt Eribon und betont zugleich die politisch soziale Relevanz seines Themas. Seine Mutter sei, nachdem sie allein lebend nicht mehr klarkam, in ein Altersheim gekommen und dort in einem rasanten Verfall bereits nach sieben Wochen verstorben. Die Frage des Autonomie-Verlustes und der Zustand der französischen Pflegeheime sind Aspekte, die der Schriftsteller an dem Abend im Literaturhaus in den Mittelpunkt stellt. Die Frage nach dem Tod und den damit verbundenen möglicherweise metaphysischen Aspekten seines Sujets, treten demgegenüber in den Hintergrund. Interessant ist ein Exkurs in die Lebensgeschichte seiner Mutter, die als Arbeiterin in den 1960er-Jahren an großen Streiks teilnahm. Damals habe sie immer von „wir“ gesprochen. Später wurde sie von einer Linken zur Wählerin im rechten französischen Spektrum. Da habe sie immer noch von „wir“ oder von „Leute wie wir“ gesprochen, das allerdings habe sich anders angefühlt. Im Alter dagegen und insbesondere im Pflegeheim, sei dieses „Wir“ verschwunden. Alte haben kaum Möglichkeiten, sich zu versammeln und ihren Interessen eine kollektive Stoßkraft zu geben.
Mehrfach kommt Eribon auf die Schriften Simone de Beauvoirs zurück. Er spricht von ihrem in Frankreich bis heute auf den Bestsellerlisten stehenden Buch Das andere Geschlecht (1949), das er inhaltlich aber nicht auf das Leben seiner Mutter bezieht. Vielmehr wundert ihn, dass Das Alter (1970), der ähnlich angelegte große Essay der Philosophin über den letzten Lebensabschnitt, praktisch unbekannt geblieben sei. Über das Alter, spekuliert Eribon, möchte man in keinem Lebensalter lesen. Den Jungen scheine es zu weit weg, die Älteren wollten erst recht nicht daran denken. Die Alten schließlich könnten es häufig nicht mehr lesen. Interessant ist in dem Zusammenhang aber vor allem eine politische Frage: Warum wählen Leute, die gar nicht mehr so weit weg davon sind, soziale Einrichtungen wie die Pflegeheime in Anspruch nehmen zu müssen, Politiker, die diesen Einrichtungen die finanzielle Basis nehmen?
Wenn der französische Schriftsteller über das Leben seiner Eltern spricht, kommt eine merkwürdige Distanz und emotionale Reserviertheit zum Vorschein. Er fragt sich, wie seine Mutter über 50 Jahre lang mit einem Mann zusammenleben konnte, den sie hasste, ohne wesentlich mehr zu geben als ihre eigene Antwort, dass das andere Zeiten waren. Erst bei der Frage Vus, ob es denn später im Leben der Mutter, nach dem Tod ihres Mannes, Liebe und Sexualität gegeben habe, wirkt er lebendiger und umreißt die romantische Geschichte einer Altersliebe der Mutter zu einem Mann, den sie im Supermarkt kennenlernte. Die Mutter habe sich gefragt, ob das verrückt sei, ob man das im Alter sein dürfe, verliebt. Sie habe das ihren schwulen Sohn gefragt und ihn gleichzeitig gebeten, seinen Brüdern nichts davon zu sagen.
Immer wieder unternimmt Eribon Ausflüge zu anderen Texten wie Brechts Unwürdiger Greisin oder Filmen wie Hanekes Liebe über ein altes Ehepaar. An diesen Stellen wird der Bruch der Generationen sichtbar, denn Vu verbindet erkennbar nichts mit den Werken, auf die Eribon sich bezieht. Auch als er Beauvoirs Essay über das Alter gegen Sartres Philosophie in Stellung bringt, übersetzt sie flüchtig und ohne inhaltlichen Bezug. Diese Entgegensetzung ist einer der interessantesten Gedanken des Abends, an dem schon eine Entschuldigung zu hören ist, wenn das Wechseln von Windeln erwähnt wird: Beauvoir habe mit ihrem Essay Sartres existenzialistische Idee von Menschen, der sich auf eine Zukunft hin frei entwerfe, konterkariert. Ob es bei dem in Alter zunehmend hilflosen, beinahe blinden Autor zu einem Umdenken kam, erfahren wir nicht. Aber immerhin wissen wir nun, dass der existenzialistischen Philosophie kein inklusives Konzept zugrunde liegt.
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Das Literaturhaus München lud am 18. April 2024 den französischen Autor Didier Eribon zum Gespräch mit Zeit-Online Journalisten Vanessa Vu über sein neues Buch Eine Arbeiterin (Vie, vieillesse et mort d'une femme du peuple). Die deutsche Übersetzung des Textes las Stéphane Bittoun.
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An diesem Abend ist die Atmosphäre im Literaturhaus München beinahe wie im Theater. Zahlreiche Menschen steigen die Treppen hinauf und sammeln sich im Foyer mit Blick auf die Theatinerkirche. Der Saal füllt sich bald mit einem gut gelaunten Publikum, das sich die Laune durch Warten nicht verderben lässt. Als Didier Eribon, Vanessa Vu und Stéphane Bittoun die Bühne betreten haben, eröffnet Tanja Graf, die Leiterin des Hauses, den Abend mit der Bitte, die Verspätung zu entschuldigen. Der Autor habe im Stau gestanden, außerdem benötige er im kalten München erstmal einen Tee. Die Tasse mit Tee hat der französische Autor mitgebracht, die wattierte lange Jacke zieht er auch erst auf der Bühne aus. Der Abend beginnt mit einer von dem Synchron- und Hörbuchsprecher Bittoun sehr gestisch gelesenen Passage aus Eribons aktuellem Buch. Der stark in die Rollen gehende, vermeintlich lebendige Vortrag würde eher zu einem Jugendbuch passen als zu dem nüchternen, Szenen nur skizzierenden Text, den Didier Eribon vorgelegt hat.
Das Buch schildert in erster Linie die letzten Wochen im Leben von Eribons Mutter und reflektiert von da ausgehend Alter und Autonomieverlust des Menschen, soziale Aspekte der Heimunterbringung, kommt aber auch immer wieder auf frühere Lebensphasen der Frau aus der Arbeiterklasse zurück. Eribon liebt es, Bezüge zu anderen Büchern, erzählenden wie reflektierenden, herzustellen, das zeigt sich auch in dem folgenden Gespräch. Der Autor selbst verzichtet auf die Lesung seines Originaltextes.
Vanessa Vu, die zur Freude des Publikums im bayerischen Eggenfelde geboren ist, jahrelang in Paris und nun in Berlin lebt, schreibt Reportagen und macht einen Podcast mit „vietdeutschen Geschichten“. Sie sei in Armut aufgewachsen, heißt es bei der Vorstellung. Damit soll vermutlich der Bogen zu Didier Eribons und seiner Herkunft aus der „Arbeiterklasse“ geschlagen werden. Auf der Bühne herrscht dagegen eine gepflegte bildungsbürgerliche Atmosphäre. Weder am Ton der Diskussion noch an der Kleidung oder den Getränken lässt sich eine Abweichung von Gewohnheiten der bildungsbürgerlichen Schicht erkennen. Bittoun sticht mit seiner klassenlosen Casual Wear da fast schon hervor.
Auch der Duktus des Gesprächs ist angenehm, gebildet und gepflegt. Vu dolmetscht konsekutiv, so kann das Publikum den Ausführungen Eribons im Original folgen. Dem Eindruck nach verstehen viele der Anwesenden ausreichend Französisch, um dem Autor und Journalisten und Akademiker zu einigermaßen zu folgen. Die Lacher müssen jedenfalls nicht warten, bis Vu die deutsche Übersetzung, manchmal auch stark verkürzende Zusammenfassung des Gesagten liefert.
Er habe ein intimes und persönliches Buch schreiben wollen, sagt Eribon und betont zugleich die politisch soziale Relevanz seines Themas. Seine Mutter sei, nachdem sie allein lebend nicht mehr klarkam, in ein Altersheim gekommen und dort in einem rasanten Verfall bereits nach sieben Wochen verstorben. Die Frage des Autonomie-Verlustes und der Zustand der französischen Pflegeheime sind Aspekte, die der Schriftsteller an dem Abend im Literaturhaus in den Mittelpunkt stellt. Die Frage nach dem Tod und den damit verbundenen möglicherweise metaphysischen Aspekten seines Sujets, treten demgegenüber in den Hintergrund. Interessant ist ein Exkurs in die Lebensgeschichte seiner Mutter, die als Arbeiterin in den 1960er-Jahren an großen Streiks teilnahm. Damals habe sie immer von „wir“ gesprochen. Später wurde sie von einer Linken zur Wählerin im rechten französischen Spektrum. Da habe sie immer noch von „wir“ oder von „Leute wie wir“ gesprochen, das allerdings habe sich anders angefühlt. Im Alter dagegen und insbesondere im Pflegeheim, sei dieses „Wir“ verschwunden. Alte haben kaum Möglichkeiten, sich zu versammeln und ihren Interessen eine kollektive Stoßkraft zu geben.
Mehrfach kommt Eribon auf die Schriften Simone de Beauvoirs zurück. Er spricht von ihrem in Frankreich bis heute auf den Bestsellerlisten stehenden Buch Das andere Geschlecht (1949), das er inhaltlich aber nicht auf das Leben seiner Mutter bezieht. Vielmehr wundert ihn, dass Das Alter (1970), der ähnlich angelegte große Essay der Philosophin über den letzten Lebensabschnitt, praktisch unbekannt geblieben sei. Über das Alter, spekuliert Eribon, möchte man in keinem Lebensalter lesen. Den Jungen scheine es zu weit weg, die Älteren wollten erst recht nicht daran denken. Die Alten schließlich könnten es häufig nicht mehr lesen. Interessant ist in dem Zusammenhang aber vor allem eine politische Frage: Warum wählen Leute, die gar nicht mehr so weit weg davon sind, soziale Einrichtungen wie die Pflegeheime in Anspruch nehmen zu müssen, Politiker, die diesen Einrichtungen die finanzielle Basis nehmen?
Wenn der französische Schriftsteller über das Leben seiner Eltern spricht, kommt eine merkwürdige Distanz und emotionale Reserviertheit zum Vorschein. Er fragt sich, wie seine Mutter über 50 Jahre lang mit einem Mann zusammenleben konnte, den sie hasste, ohne wesentlich mehr zu geben als ihre eigene Antwort, dass das andere Zeiten waren. Erst bei der Frage Vus, ob es denn später im Leben der Mutter, nach dem Tod ihres Mannes, Liebe und Sexualität gegeben habe, wirkt er lebendiger und umreißt die romantische Geschichte einer Altersliebe der Mutter zu einem Mann, den sie im Supermarkt kennenlernte. Die Mutter habe sich gefragt, ob das verrückt sei, ob man das im Alter sein dürfe, verliebt. Sie habe das ihren schwulen Sohn gefragt und ihn gleichzeitig gebeten, seinen Brüdern nichts davon zu sagen.
Immer wieder unternimmt Eribon Ausflüge zu anderen Texten wie Brechts Unwürdiger Greisin oder Filmen wie Hanekes Liebe über ein altes Ehepaar. An diesen Stellen wird der Bruch der Generationen sichtbar, denn Vu verbindet erkennbar nichts mit den Werken, auf die Eribon sich bezieht. Auch als er Beauvoirs Essay über das Alter gegen Sartres Philosophie in Stellung bringt, übersetzt sie flüchtig und ohne inhaltlichen Bezug. Diese Entgegensetzung ist einer der interessantesten Gedanken des Abends, an dem schon eine Entschuldigung zu hören ist, wenn das Wechseln von Windeln erwähnt wird: Beauvoir habe mit ihrem Essay Sartres existenzialistische Idee von Menschen, der sich auf eine Zukunft hin frei entwerfe, konterkariert. Ob es bei dem in Alter zunehmend hilflosen, beinahe blinden Autor zu einem Umdenken kam, erfahren wir nicht. Aber immerhin wissen wir nun, dass der existenzialistischen Philosophie kein inklusives Konzept zugrunde liegt.