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09.04.2024, 10:05 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte
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Cover der 155. Ausgabe der Zeitschrift (c) Allitera Verlag

Zur mündlichen Autobiographik in Carlamaria Heims „Aus der Jugendzeit“

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Carlamaria Heim (c) privat

Am 9. April 1984 starb die Münchner Schauspielerin, Autorin und Mundartdichterin Carlamaria Heim. Die 155. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern, die sich dem Schwerpunkt mündlich widmete, enthält einen Beitrag von Peter Czoik, den wir anlässlich ihres 40. Todestages hier abdrucken.

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Als Verfasserin der Autobiographie ihrer Mutter Josefa Halbinger – Jahrgang 1900. Lebensgeschichte eines Münchner Arbeiterkindes (1980) ist die Schauspielerin, Autorin und Mundartdichterin Carlamaria Heim (1932-1984) ihrem Publikum in Erinnerung geblieben. Ihr Erfolg zahlte sich nicht zuletzt durch die Verleihung des Tukanpreises der Stadt München an sie aus, wiewohl diese Auszeichnung nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Heim zeitlebens an schweren Depressionen litt und sich mit nur 52 Jahren das Leben nahm. Die Autorin wusste: „Wennst als Dichter was wern willst [...] da hast as fei schwer“, außer Du bringst Dich bald um, „na iss glei leichter“ (aus ihrem Gedicht „Erfolg“ in der Anthologie Mir san so frei, 1983). Andere weniger privilegierte Menschen haben es dagegen nicht so leicht, könnte man mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor nun sagen. Für die sogenannten ‚kleinen Leute‘ – „Gschichtln von arme Leit“ lautet eines von Heims Gedichten – hatte die politisch engagierte Münchnerin, die sich gegen Wohnungsspekulanten wandte und für Minderheiten eintrat, jedenfalls ein sehr großes Herz.

In der gleichen Art wie ihr 1983 preisgekröntes Buch entstand, hat Carlamaria Heim im Folgeband Aus der Jugendzeit. Kindheit und Jugend in Deutschland (1984) neun Lebensgeschichten von drei Generationen aus zahlreichen mündlichen Einzelgesprächen „herausgefiltert“, wie es im Vorwort ihres Ehemanns, des Schauspielers und Kabarettisten Joachim Hackethal (1924-2003), heißt. Keine der befragten Personen aus der Sammlung schreibt ihre/seine Autobiographie selbst. Waren es in Josefa Halbinger Tonbandprotokolle der Mutter und die daraus resultierende „eigentümliche Spannung“ zwischen der Lebens- und der Zeitgeschichte, aus denen die Tochter ein „Schicksal“ entstehen ließ (Uwe Timm), sind es hier ebenfalls Lebensläufe mündlicher Erzählung, die Kurioses, Berührendes und Erschütterndes aus der Kinderwelt der jeweiligen Gesprächsperson präsentieren und dabei auch die Atmosphäre der Zeit und ihrer Gesellschaft lebensnah wiedergeben.

So erinnert sich Prinzessin Pilar von Bayern (1891-1987), die erste der neun Befragten, beispielsweise ans Autofahren vor dem Krieg („Die Autos haben nicht so ausgesehen wie jetzt. Die hatten so Riesenaufbauten und die Schaltung war an der Seite, außerhalb, und die Chauffeure saßen vorne in einem offenen Abteil“); die Arbeitertochter und Einödbäurin Therese Brunner (1901-1982) daran, welche Kluft zwischen den Bauern- und Arbeiterkindern in ihrer Schule herrschte; die Sachbearbeiterin Else Rau (Jg. 1909), wie sie, um Flecken beim Schönschreiben loszuwerden, als beste Methode die Tinte aus dem Tintenfass aufschleckte („Das hat irgendwie so metallisch geschmeckt, das war gut“); der Kfz-Meister und Versuchsleiter Bernhard Rampf (Jg. 1910), wie er zwei Freikarten vom legendären Komiker Karl Valentin bekam, nachdem er ihm während der großen Arbeitslosigkeit 1927/28 Briketts mit Rahmenholz geliefert hatte („Die besseren Leute haben Rahmenholz gekriegt, die anderen nur Bündelholz“); oder die Verkäuferin und Hausfrau Anne Dasch (Jg. 1925), die als Kind bei den Jungmädchen und beim BDM war und unverblümt zugibt, alles nur „ideell gesehen“ zu haben, dass sie von Konzentrationslagern „nichts genaues gewußt“ habe, erst nach dem Krieg 1945. Anders sieht es im Fall der aus einer Sintifamilie stammenden Textilhändlerin und Hausfrau Anna Wirbel (Jg. 1927) aus, die an ihrem 16. Geburtstag mit ihren Angehörigen nach Auschwitz kam und als Einzige ihrer siebenköpfigen Familie das Konzentrationslager überlebte. 

Für Anna Wirbel verhindert die Traumatisierung als KZ-Überlebende den Erzählprozess, das Schreiben wird zum Fluchtraum und Desiderat: „Nein, erzählen kann man das gar niemand, wie das war, und was man gedacht hat. Wissen Sie, ich hab immer vor Augen, wie sie uns Kinder die Schuhe nahmen und alles, ach furchtbar. Das kann gar niemand fassen. Da müßte man selber schreiben können. [...] Wenn ich schreiben hätt können, ich hätt das von Anfang an richtig aufgeschrieben, die Kindheit, die Jugend und alles.“ Zugleich stoße man mit dem Schreiben aber auch an eine individuelle Erfahrungsgrenze, so Wirbel: „Wenn einer das nicht selber mitgemacht hat –! Man muß sich in den Menschen reindenken können, und man muß vielleicht auch einmal die Sitten und Gebräuche kennenlernen, und das kann man doch nicht in ein paar Stunden, auch nicht in ein paar Wochen, da braucht man lange dazu.“ Nicht zuletzt darin besteht Carlamaria Heims literarische Leistung, dass sie sich in die Köpfe der Menschen wie keine andere Person ‚reingedacht‘ hat. Damit unterscheidet sie sich von der „Oral History“-Methode der Geschichtswissenschaft, die es beim bloßen Sprechenlassen der Zeitzeugen belässt, um möglichst unbeeinflusst vom Historiker deren Lebenswelten und Sichtweisen für die Nachwelt darzustellen.

Gedenktafel für Carlamaria Heim neben dem Hauseingang, Johannisplatz 10, München. Die Tafel stammt von der Bildhauerin Sofia („Sophia“) Hössle.

Von den neun Autobiographien nimmt die letzte wiederum eine umgekehrte Stellung zum Erzählen und Schreiben ein: Es ist die Geschichte des arbeitslosen Hilfsarbeiters Hans Jürgen Stiegelmaier (Name geändert, Jg. 1957), der im Vergleich zu Heims übrigen Gesprächspersonen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg selbst nicht miterlebt hat, dafür aber aus den Erfahrungen seiner restriktiven Kindheit und Jugend schöpft. Ähnlich wie bei anderen Arbeiterautobiographien sind in seiner Geschichte u.a. der standardisierte Rückgriff auf die Geburt („Ich bin am 23. März geboren“), die Erinnerung an wichtige soziale Kontaktpersonen der ersten Lebensphase (Oma, Onkel, Tante, Vater, Mutter) – wobei dem Großelternteil die fürsorglichere Rolle als den Eltern zukommt – sowie einschneidende private Erlebnisse, die singulär oder wiederkehrend sich ereigneten, vorhanden (Tod der Großmutter; Prügel von der Mutter). Entscheidend für Stiegelmaiers Erzählhaltung bleibt die spürbare Distanz zum Schreiben – und Erzählen: „Deutsch war für mich auch immer scheißschwer, weil sich keiner mit mir abgegeben hat, und gelesen hab ich auch nichts. Ich les heut noch nicht, auch keine Comics, auch keine Romane. [...] Märchen könnt’ ich Ihnen kein einziges erzählen; ich weiß keines auswendig. Ich weiß nur den Anfang. Und Gedichte mag ich von Haus aus nicht. [...] Ja, und deswegen tu ich mir halt auch schwer mit dem Schreiben.“ Damit reiht sich seine mündlich erzählte Autobiographie in die typischen Verhaltensweisen anderer deutscher Autobiographien des 20. Jahrhunderts ein, unter denen keine einzige ist, „in der jugendlicher Lese-Eifer an irgendeiner Stelle vorkommt“ (Albrecht Lehmann).

 

Carlamaria Heim: Aus der Jugendzeit. Kindheit und Jugend in Deutschland. München: Obalski & Astor 1984.