Deutsch-jüdische Gespräche (6): Andrea Heuser und Adriana Altaras

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Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.

Das sechste Gespräch führte Andrea Heuser mit der Autorin, Opernregisseurin und Schauspielerin Adriana Altaras in Bonn.

*

ANDREA HEUSER: Liebe Adriana, dein Roman Titos Brille war jetzt jüngst Gesprächsgegenstand in Regensburg, bei der wunderbaren Aktion „Regensburg liest ein Buch“. Wie war’s denn?

ADRIANA ALTARAS: Es war ganz großartig. Also unerwartet toll. Als ich da ankam, habe ich überhaupt erst einmal gemerkt, was das heißt, dass eine ganze Stadt ein Buch liest …

Man ist so im Fokus. Am ersten Abend war ich richtig überfordert – die Bürgermeisterin war da, es war wirklich sehr hochkarätig. Und es war hochemotional für mich. Ulrich Dombrowsky, aus dem Team „Regensburg liest ein Buch“, war auch damals der allererste, der mich eingeladen hatte zur ersten Lesung mit meinem ersten Buch und das war Titos Brille. Ich fühlte mich wahnsinnig wertgeschätzt. Und das zog sich durch die ganzen Tage.

In der FOSBOS-Schule hatten sie Graffitis, hatten Slam-Poetry verfasst und extra Filmplakate gemacht. Ganz tolle Plakate zu dem Film Titos Brille. Und dann habe ich da gelesen, vor fünfhundert, sechshundert Schülern. Und es gab einen Abend im Theater, den hat Judith Heitkamp moderiert; eine tolle Frau. Am nächsten Tag war ich in Kelheim – sie hatten den ganzen Tag dort für mich organisiert, mich herumgeführt und am Abend gab es eine Lesung von mir und ein Gespräch mit Achim Bogdahn; wir haben viel geredet, der ist so schnell gedanklich, das hat so viel Spaß gemacht. Und ich war in einer Schauspielschule, die haben Titos Brille gespielt in einer szenischen Lesung – ich kann mich gar nicht beruhigen. Gut. Punktum: Es war ganz toll!

Aber was vor allen Dingen so besonders war: diese Wertschätzung. Und die ist ja gerade nicht das, was man Juden am Meisten entgegenbringt. Das, was in Israel passiert ist eine Katastrophe! Ich bin vollkommen dagegen, was Netanjahu macht. Das gibt es überhaupt nichts, es muss sofort stoppen. Trotzdem geht es nicht, dass man mich als Jüdin bedroht. Es geht nicht.

HEUSER: Allerdings!

Von links: Adriana Altaras und Andrea Heuser 

ALTARAS: Und das dann zu spüren: so wertgeschätzt zu sein. Jetzt. Und auch vor der Lesung. Ich hatte dort im Januar angerufen und zu Ulrich gesagt: wenn ihr absagen wollt, dann versteh ich das. Ich hatte ja keine Ahnung. Brauche ich da Polizeischutz? Ich habe zwar keine Angst, aber wenn die das nicht hinkriegen … Und es war dann genau das Gegenteil von Polizeischutz-Atmosphäre; es war unglaublich herzlich, wohlwollend da in der Stadt. Die Leute haben mit mir diskutiert. 

HEUSER: Das hört man selbst jetzt noch heraus, diese Begeisterung. Und auch was du gerade sagst, dass es so durchdrungen war – also nicht nur eine Geste: Jetzt laden wir die Adriana halt mal ein, gerade wegen des Themas. Das Stück wurde gespielt, es wurde diskutiert, aus der Tiefe deines Werkes heraus ...

ALTARAS: Also, es gab nichts Negatives. Und ich habe viele Veranstaltungen gehabt, jeden Tag zwei. Die hatten mich gefragt, ob das so geht, und ich habe gesagt: kein Problem.

HEUSER: Aber ist man nicht hinterher auch total fertig?

ALTARAS: Klar, ich war am Ende fix und foxy.

HEUSER: Und die Fragen von den Schülerinnen und Schülern? Was wurdest du denn so gefragt?

ALTARAS: Es war alles Mögliche. Zum Beispiel kam die Frage: Warum haben Sie denn eigentlich einen Deutschen geheiratet? 

HEUSER (lacht): Ja, Jugendliche sind wohl die offensten, ehrlichsten Fragenden …

ALTARAS:  Oder ich habe erzählt, dass ich eine Blockade habe zu schreiben. Und dann kam: Wie lösen Sie diese Blockade? Was werden Sie tun, um diese Blockade zu lösen?

HEUSER: Und da konntest du dann sofort drauf antworten?

ALTARAS: Ich habe geantwortet, dass ich wahrscheinlich schreiben werde über den Zustand, der mich in diese Blockade gebracht hat. Ein Buch genau darüber. Und dann haben sie mich eben das mit dem Deutschen, warum ich einen Deutschen geheiratet habe, gefragt und da habe ich gesagt: Ich wollte mich total assimilieren. Ich wollte ganz eins sein mit der deutschen Gesellschaft. Ich meine, ich bin da nicht allein. Heinrich Heine, Jacques Offenbach … Ich bin da in guter Gesellschaft...

HEUSER: … in allerbester Gesellschaft, so gesehen …

ALTARAS: Ja, und dann habe ich erst einmal allgemein gefragt: Wie viele von euch sind denn hier, die noch Migrationshintergrund haben? Also fünfundzwanzig Prozent. Und wie viele, deren Eltern Migrationshintergrund haben? Fünfzig Prozent. Dann habe ich gefragt: Sprecht ihr noch eure Sprachen? Habt ihr noch eine zweite Sprache? Wie findet ihr das? Habt ihr Identitätsfragen? Und dann habe ich gefragt: Wollen wir über Israel reden? Über Palästina? Und dann wurde klar: Es ist so schwer, sie trauen sich gar nicht mehr, was dazu zu sagen.

HEUSER: Die Scheu zu reden … Deswegen freue ich mich, dass die Jugendlichen überhaupt etwas gefragt haben. Und auch diese Ermutigung, hier jetzt von dir, Fragen zu stellen. Klar, man kann dabei danebengreifen, man kann sich missverstehen. Aber wenn man aufhört damit, wie sieht denn die Alternative aus? Wenn man nicht mehr spricht?

ALTARAS: Ja. Und da war ein arabischer Junge, der hat gesagt, dass es auch zuhause so schwer ist mit dem Thema. Und dann hat er von zuhause berichtet. Ich fand – in dem Rahmen und von so dichten, eineinhalb Stunden – dass da schon vieles kam. Und ich war jetzt noch in Berlin an einer Schule. Ich finde, momentan ist das Beste, was ich machen kann, an Schulen zu gehen.  

HEUSER: Es ist die Gegenwart und die Zukunft. Ich finde das Sprechen mit den Kindern und Jugendlichen generell total wichtig. Und natürlich haben sie sowieso unter sich ihre Meinungen. Aber wer von den Erwachsenen spricht denn so offen mit ihnen?

ALTARAS: Also, sie mussten sich ja vorbereiten für dieses Buch. Und dadurch waren sie total fit. Die haben so gute Fragen gestellt. Als ich gesagt habe, es hat ja gut gehalten in der Familie bei mir trotz der schwierigen Fragen, da kam: geht so, dein Mann ist ja jetzt weg. Und ich habe dann ganz ehrlich gesagt: zwanzig Jahre hat es gehalten, dann nicht mehr. Und ich glaube, die Aufrichtigkeit war gut …

HEUSER: Ich glaube, das spüren sie auch. Einer meiner Schüler in einem Workshop hat das neulich erst gesagt: Wer redet denn schon offen mit uns? Und es stimmt ja – wer gibt denn freiwillig etwas von sich preis? Und das hast du dann beispielweise auch eingebracht. Sie haben offen gefragt und du hast dich darauf eingelassen. Du bist ja nicht ausgewichen.

ALTARAS: Das stimmt. Aber man kann das nicht oft machen. Man lässt Federn …

HEUSER: Da passiert dann eben auch was, man öffnet sich, setzt sich aus …  

ALTARAS: Es ist ein Gegenüber. Sie kommen ja nicht wie Erwachsene und lassen sich einlullen oder sind sowieso deiner Meinung. Sondern sie sind, als Klasse, wirklich auch eine Gruppe.

Es war eine Jüdin darunter und das war sehr beeindruckend. Ich habe sie gefragt: Und, hast du Schiss, das offen zu sagen, dass du Jüdin bist?

HEUSER: Was hat sie gesagt?

ALTARAS: Sie hielt sich sehr zurück. Sie hat es ja immerhin zugegeben vor den anderen.

HEUSER: Dafür brauchte es sicher Mut oder zumindest etwas Vertrauen …

Nun geht es in deinem Roman Titos Brille ebenfalls um den Umgang mit dem Erbe. Um Hinterlassenschaften – auch sehr schön in deiner Geschichte Dilemma, in der das Erbe bildlich in den vielen alten Familienmöbeln zum Ausdruck kommt, die man plötzlich erbt und die die ganze gegenwärtige Wohnung verändern und zustellen – und nun hat man dieses Erbe, aber wohin jetzt damit? Nun ist Literatur eine Möglichkeit, Erfahrungen zu transformieren. Wie verändert sich für dich dieses jüdische Erbe durch das Schreiben, das Erzählen?

ALTARAS: Also erst einmal verändert es sich dadurch, dass ich live so viele Wohnungen ausmisten musste. Und ich die Faxen so dicke habe von all diesem „Müll“ und all diesen Möbeln. Das wiederum hat sich auf mein Scheiben ausgewirkt und mein Schreiben wird dadurch klarer und vielleicht ... (überlegt) so, dass ich denke: boah, das ist schon wieder so sentimental. Muss jetzt nicht mehr sein. Aber ich kann‘s nicht genau sagen. Weil, ich habe seit dem 7. Oktober nur Zeitungsartikel und einen Essay geschrieben. Ich glaube, dass die Zeitrechnung bis zum 7. Oktober geht und ab dem 7. Oktober. Und das bescheinigen andere Autorinnen und Autoren auch …

HEUSER: Eine Art Zäsur? Literatur ist ja immer auch Fiktion, Fiktives. Und nun schneidet die Realität so traumatisch da hinein. Man braucht doch Zeit, das emotional überhaupt ansatzweise zu erfassen, geschweige denn zu transformieren.

ALTARAS: Ja. Ich habe viel über das Erinnern geschrieben. Und das ist praktisch Zeitdokument. Und da kamen immer viele Überlebende vor und die Frage, wie leben sie nach dem Krieg und ich glaube, jetzt muss ich zwar auch zeitdokumentarisch schreiben, ich werde wohl immer von mir ausgehen, aber es wird aktueller sein. Eher wie in dem Buch Doitscha, wo ich über das deutsch-jüdische Verhältnis schreibe, so was. Der Holocaust ist gerade überhaupt nicht das Thema. Also, ist das Thema natürlich, deshalb reagiert auch Deutschland wie es reagiert. Aber, es ist nicht DAS Thema gerade.

HEUSER: Was würdest du sagen – ist natürlich schwer in Worte zu fassen – was denn das Thema ist?

ALTARAS: Das Thema ist der immerwährende Nahostkonflikt. Seit Yitzhak Rabins Tod ist dieser Konflikt einfach sowieso entglitten; mit ihm wäre es anders gewesen. Ganz sicher, wir hätten eine Zweistaatenlösung hingekriegt. Und jetzt ist es … (schweigt).

HEUSER: (schweigt).

ALTARAS: Und das schwappt halt auf uns alle. Auf uns Juden, aber auch auf Nichtjuden.

HEUSER: Auf alle eigentlich. Und dann kommen dazu Dinge hoch in einem, mit denen man konfrontiert wird, mit denen man sich mitunter lange nicht auseinandergesetzt hat; die eigenen, nicht verarbeiteten Themen. Je nachdem, mit wem man spricht.

ALTARAS: Absolut.    

HEUSER: Weil du eben dein Buch Doitscha erwähnt hast: Du hast dort das deutsch-jüdische Zusammenleben sehr schön, nämlich treffend und unterhaltsam, im Mikrokosmos der Familie beschrieben…

ALTARAS: Das mache ich immer. Ich nehme ja immer den Mikrokosmos. Das mache ich aber nicht, damit dann jeder weiß, wie sieht es da in meiner Familie aus. – Also, ich gehe in Vorleistung, in der Hoffnung, dass die anderen dann bei sich gucken. 

HEUSER: Genau. Das wäre jetzt auch meine Frage gewesen: Was können wir von diesem Mikrokosmos lernen? Was kann Geschichtenerzählen der Gemeinschaft geben? Oder vielleicht so: Was kann sich der Makrokosmos unserer Gesellschaft vom Mikrokosmos der Literatur abgucken? 

ALTARAS: Also wir wissen ja alle, wie wichtig Worte sind. Man merkt das auch jetzt bei diesem Aufrüstungsvokabular, das in den Nachrichten kommt. Wie wichtig Sprache ist. Deshalb kann Sprache auch heilend sein, wenn sie zart ist, aber vor allem, wenn sie komisch ist. Für mich selbst ist Komik in der Sprache und im Umgang mit Geschichten etwas, was hoffentlich heilsam ist.

HEUSER: Ich muss gerade so schmunzeln, da das auch meine nächste Frage gewesen wäre, weil das sehr auffällt: der Umgang mit Humor in deinen Werken. Das scheint mir ganz wichtig für dein Schreiben zu sein, besonders in den verschiedenen Facetten, die dieser Humor hat. Vor allem der Witz, auch mal der schräge Witz, der etwas aushebelt – Klischees, zum Beispiel, oder die Frage: was ist angemessen und was nicht – weil er dadurch andere Wahrheiten aufdeckt.

ALTARAS: Privat mache ich das auch. Wenn ich nicht deprimiert bin. Manchmal bin ich ja auch so deprimiert, dann fühl ich mich komplett humorlos. Sobald der Humor wieder da ist, denk ich: ah ja, geht ja wieder. Ich soll jetzt zum Beispiel ein Nachwort schreiben zu einem neuen Buch, was rauskommt über den Briefwechsel von Jane Austen mit ihrer Schwester. Und dann habe ich mir überlegt, warum mir Jane Austen so gut gefällt. Und sie ist ja auch so lustig …

HEUSER: Sehr. Und ich liebe es, dass sie sagt: egal, was passiert – Geschichten müssen am Ende gut ausgehen.       

ALTARAS: Ja, und es geht eigentlich die ganze Zeit um Themen, die uns jetzt nicht mehr so beschäftigen: ob sie [die Roman-Heldin] nun den Mann jetzt heiratet oder nicht. Aber wie sie das beschreibt. Wie sie die Bälle beschreibt, wie sie die Leute beschreibt – es ist immer liebenswert …

HEUSER:  … trotz ihrer klaren, kritischen Wahrnehmung; sie hatte eine fantastische Beobachtungsgabe, der nichts erspart blieb und die nicht viel aussparte …  

ALTARAS: Es ist auch manchmal ein bisschen bös, ja, aber nie so wie, ich finde zum Beispiel Korrekturen [von Jonathan Franzen] ist so ein Buch – da sind die Leute schon so unangenehm am Anfang und werden auch noch demaskiert, da bleibt am Ende fast gar nichts mehr übrig und das schafft mich. Ich steh sehr auf Somerset Maugham oder Josef Roth, die ja Familiengeschichten beschreiben mit feiner Ironie, aber die Leute werden nicht verletzt. Und das wäre mir wichtig.

HEUSER: Du würdest also auch sagen, wie Dostojewski, dass man alle seine Figuren lieben sollte. Auch die „Schurken“.

ALTARAS: Unbedingt. Es ist auch eine Flucht. Ich fliehe in die Komödie, andere fliehen in die Tragödie.

HEUSER: Fliehen vom Schmerz. Es ist auch eine Schmerzbewältigung …   

ALTARAS: Ja. Aber ich kann das wirklich nur, wenn es dem Schmerz schon bessergeht.

HEUSER: Das ist dann die feine, fragile Balance…

ALTARAS: Jetzt gerade fängt mir an, wieder was einzufallen. Aber es ist sechs Monate her …

HEUSER: Zeit ist ja eh was Merkwürdiges, sie bleibt innerlich auch mal stehen für einen. Sie vergeht und vergeht zugleich nicht. Und daran anknüpfend; an einschneidende Zeiten, an die Zäsur: was ist mit der Angst?

ALTARAS: Angst?

HEUSER: In deinen Geschichten aus dem Alltag, die 2017 unter dem Titel Das Meer und ich waren im besten Alter erschienen, gibt es dieses Kapitel über Angst. Und es ist erschreckend, geradezu verstörend, wie aktuell das ist.

ALTARAS: Absolut. Ich habe aber trotzdem keine Angst. Es gibt manchmal so einen kurzen Moment – ich habe inszeniert in Hamburg, am 13. Oktober und die Fatwa war: alle Juden umzubringen. Und dann musste ich mit dem Zug nach Berlin zurück und dachte: an meinem Haus, da ist jetzt ein Davidstern, wenn jetzt was passiert – die Nachbarn waren aber alle cool. Die Angst ist anders. Ich habe keine Angst, eher traumatische Bilder. Ich habe also keine direkte Angst. Ich habe Karate gemacht und fühle mich stark. Eher sowas, dass mir die Bilder kommen: auslöschen. Erst wollte man meine Eltern, meine Großeltern auslöschen, jetzt will man mich auslöschen. So was passiert mir.

HEUSER: Ja … das wirkt wohl sehr viel tiefer … Ich frage mich: Kann man sich die Angst – du beschreibst das Trauma, das Trauma wohl nicht – aber kann man sich die Angst sozusagen vom Leib schreiben?    

ALTARAS: Ich glaub nicht.

HEUSER: Ich glaube das auch nicht. Du hast mal so treffend gesagt: „Die Angst lässt sich nichts vorschreiben.“ Und das Trauma?

ALTARAS: Auch nicht. Was mich viele fragen ist, ob mein Schreiben therapeutisch ist und ob es mir danach bessergeht? Und ja: wenn ich ein Buch fertig habe, geht’s mir danach natürlich besser, weil ich dann froh bin, keine Korrekturfahnen mehr vor mir zu haben.

HEUSER (lacht): Oh ja, das geht mir auch so. Endlich Ruhe.

ALTARAS: Aber ich bin noch genauso bekloppt wie vorher. Und immer wieder mal suche ich Therapeuten auf, obwohl ich schreibe. Also man würde ja meinen, nach fünf Büchern bräuchte man keinen Therapeuten mehr. Stimmt aber nicht.

HEUSER: Du hältst ja in deinen Büchern stets an dem „Ich“ fest…

ALTARAS: Ich habe einmal was Anderes versucht. Da hatte ich ein Stipendium in Amerika und wollte über Rabbinerinnen schreiben. Die eine, die von der ersten Rabbinerin träumt, Regina Jonas…

HEUSER: … über sie ist gerade ein Buch erschienen: Reginas Erbinnen

ALTARAS: … ja und ich wollte über eine Frau schreiben, die sich immer mit ihr vergleicht, über diese beiden Frauen halt. War schon interessant, aber überhaupt nicht meins. Es war so langweilig, das zu schreiben und wohl auch so langweilig, das zu lesen. Ich kann es nicht.

HEUSER: Interessant. Da geht dann irgendwas in dir in die Distanz? Oder geht was weg? Die Intensität?      

ALTARAS: Keine Ahnung. Ich kann meine Welt am besten beschreiben. So wie: es ist Generalprobe und der technische Direktor bleibt im Aufzug stecken. Das ist halt so. Wenn ich mir woanders was überlege, es will mir nicht einfallen. Ich meine, die anderen schreiben auch über sich. Sie verstecken es nur.  

HEUSER: Letztlich ist ja alles Schreiben autobiographisch. Und jeder hat seine Form. Manchen hilft es, in die Distanz zu gehen und manchmal wird es intensiver, wenn man das Ich wählt.

ALTARAS: Man muss schon was von sich darin haben.

HEUSER: Der Lesende spürt das … Jetzt bist du ja auch Opernregisseurin und heute bist du hier in Bonn für die letzte Vorstellung von Flight. – Wie war diese Arbeit für dich? Woran denkst du zurück, wenn du daran denkst?

ALTARAS: Ich mochte das Team sehr gerne. Wir hatten es sehr stressig, weil Weihnachten und Silvester dazwischen waren, es war so eine kurze Zeit. Dazu Corona und Magendarm, also es war ziemliches Chaos, es war ziemlich schwierig – und dann haben wir es doch geschafft. Wir hatten eine wirklich großartige Premiere, in der alle so wahnsinnig schön gespielt haben. Es ist ja extrem hoch das Stück, wie sie singen, sie singen ja alle so arg hoch. Und am Anfang war ich so genervt von diesen hohen Stimmen: die Sopranistin, der Counter, dann noch ne Sopranistin, dann der Tenor – es nervt! Und dann – dann mochte ich es gerne. Und die Musik zunehmend lieber. Ich mache ganz selten was Modernes; nur hier. Das ist das zweite Mal.

HEUSER: Ich fand, es war eine recht konzentrierte, klare Regie. Man wurde musikalisch sowohl vom Dirigenten Daniel Johannes Mayr als auch von deiner Bildsprache her gut hindurchgelotst durch all die Turbulenzen, die die Personen auf Ebene der Handlung umtrieben; es war nicht so zerfasert. Ich habe mich nur gerade gefragt – bei den Figuren Tina und Bill, die ja das routinierte, alltagsmüde Ehepaar darstellen; sie beispielsweise wünscht sich mehr gemeinsame Abenteuerlust – jetzt auf unser Thema bezogen: Wären Tina und Bill ein deutsch-jüdisches Paar, wie hätte das denn ausgesehen unter deiner Regie?   

ALTARAS (lacht): Ach, hätt‘ ich machen können, ja. Bin ich gar nicht auf die Idee gekommen … Ich habe ganz selten in der Oper etwas Jüdisches. Ich habe einmal Rigoletto als Juden gemacht. Weil, ich hatte einen Darsteller – also ich dachte, wenn ich dem jetzt einen Buckel gebe oder so, ist das alles Quatsch. Und dann habe ich ihn zum Juden gemacht und das war super, weil die lachen ihn immer aus und er ist ein Orthodoxer, deshalb quält er auch die Frau so. Und dann kommt er zum Hof und alle habe eine Kippa an und sagen: Na, Rigoletto? Da passte es. Hier in Flight waren die Personen alle schon so kabarettistisch, sie sind ja alle schon etwas überzeichnet von dem Libretto. Da habe ich immer nur geschaut, wie rührig die sind. Es gibt ja nur zwei Arien in dem Stück.

HEUSER: Ja, das ist schade. 

ALTARAS: Wenn du nur zwei Arien hast, die rühren können, und das Stück „rührt“ ja nicht in dem Sinne, dann musst du es immer eher runterholen mit der Regie, weil es so „fliegt“, das Stück.

HEUSER: Deswegen fand ich es so angenehm, dass es von der Regie und der musikalischen Leitung her so konzentriert war. Es wirbelte ja genug.

ALTARAS: Und es fliegt immer weg … Und dann hatte ich nur vier Statisten, die wollte ich aber auch, damit es ein bisschen am Boden ist.

HEUSER: Das war eine meiner Lieblingsszenen am Ende, wo sie alles weggekehrt, die Reinigungskraft. Das gab dem Ganze so eine sachte Melancholie.

ALTARAS: Ist ja am Flughafen immer so: als wäre nichts gewesen.

HEUSER: Spuren verwischen … Jedenfalls, man hatte durchaus Sehnsucht nach Arien. Da wäre noch Luft nach oben gewesen.

ALTARAS: Es ist halt ein bisschen ein eitles Werk, das zeigt: ich kann alles komponieren. Das Stück läuft ja auch sehr gut, es hat schon vierundvierzig Aufführungen gehabt und er [der Komponist Jonathan Dove] kommt zu fast jeder. Nicht zu jeder Aufführung, aber zu jeder Premiere.

HEUSER: In deiner Geschichte Bühnenasyl beschreibst du drei Opernsängerinnen, die, so unterschiedlich sie sonst sind, ihre Herkunft vom Balkan miteinander und mit dir teilen. Und es heißt dort, für sie, also für die drei Frauen, die Gewalt, Entwurzelung und Vertreibung erlebt haben, war „die Bühne die Rettung“. Aber eigentlich gilt das doch auch umgekehrt – sie sind wiederum für die Bühne die Rettung.

ALTARAS: Absolut.

HEUSER: Weil man das Gefühl hat, so wie du sie und ihre Ausdrucksweisen beschreibst, geben sie den Rollen der Liebenden eine andere Tiefendimension, eine Art wissende Erfahrung mit, die sie in die so prominenten, aber auch arg stilisierten Rollen der Carmen, der Traviata und der Tosca so quasi-natürlich mit einspeisen, aus ihren eigenen Lebenserfahrungen.

ALTARAS: Ja, die haben eine Realität mit hineingebracht, die kennen die meisten anderen gar nicht.

HEUSER: Und das spürt man wohl beim Hören? Auch wenn man es nicht weiß.  

ALTARAS: Ich mach aber auch nicht so eine Inszenierung, die fürs Feuilleton so interessant ist. Ich bin nicht so eine moderne Erfinderin. Deshalb bin ich angewiesen auf die Darsteller. Wenn sie sehr viel Eigenes mitbringen, ist das für mich ganz toll.   

HEUSER: Und, von der so wichtigen Arbeit mit den Menschen einmal abgesehen, was würdest du sagen, was ist die Bühne für dich? Würdest du auch sagen: Rettung? Oder was?

ALTARAS: Ja, für mich auch. Ich bin Schauspielerin geworden, ich habe die Schauspielprüfung gemacht, weil nur da habe ich das Gefühl: ich komm nach Hause. Ich hatte keine Heimat. Und dann war‘s das Theaterspielen. Das Theater, es ist aber auch das Schreiben. Künstlerin sein ist für mich die einzige, stabile Größe. Alles andere ist bei mir nicht stabil.

HEUSER: Da höre ich auch eine Art Liebe heraus. Oder? Ist die Kunst Liebe?

ALTARAS: Unbedingt. Ich unterscheide auch nicht. Zwischen Schreiben und Inszenieren. Es ist für mich eins. Vielleicht ist es für andere etwas frustrierend; vielleicht wäre ich die bessere Schriftstellerin oder die bessere Regisseurin – aber ich wechsele immer.

HEUSER: Es gibt überhaupt so ein Bedürfnis von außen, eine Person zuzuordnen, einzuordnen.

ALTARAS: Es kommt der Verdacht auf, man sei wohl so schlecht in dem einen, da müsse man das andere wohl auch noch machen. Es gibt ja schon einige, die etliches machen. Aber in Deutschland gilt da noch so etwas wie das Reinheitsgebot. Oder sie sagen: du bist so ein Tausendsassa. Und ich finde, Tausendsassa – das klingt nicht positiv.  

HEUSER: Aber eigentlich ist die Antwort darauf doch die Kunst selbst. Sie überzeugt und berührt oder eben nicht.

ALTARAS: Und wenn was schief geht ist es auch nicht so schlimm, weil es ist immer noch die Kunst. Ich habe natürlich Glück. Ich muss nicht noch was Anderes machen.

HEUSER: Das ist wirklich ein großes Privileg. Dass sich da alles einspeisen kann, was du tust.

ALTARAS: Der Anfang war ja auch, damit ich Geld verdiene. Ich habe ja angefangen alles zu machen, weil als Schauspielerin, wenn du älter wirst und auch noch Ausländerin bist, das kannst du im deutschen Fernsehen ja vergessen. Da wirst du nur als Putzfrau besetzt. Also habe ich angefangen zu schreiben…

HEUSER: Gottseidank, in den Fall …

ALTARAS: Und dann zu inszenieren. Aus der Not.

HEUSER: Weil du das gerade sagtest mit der Kunst als Heimat – wenn ich deine Werke lese, fällt mir der Begriff „Heimat“ eher im Plural ein: also Heimaten. Was sind denn, neben der Kunst, inzwischen deine schönsten Heimaten?

ALTARAS: Berlin. Italien. Meine Freunde. Das ist Berlin. Da sind die meisten. Sind aber auch verstreut. Und das Wasser. Das Meer.

HEUSER: Das Meer und ich waren im besten Alter – da fällt mir wieder dein schöner Buchtitel zu ein. Man wünschte sich, die Welt wäre auch im besten Alter. Aber ist sie wohl leider immer noch nicht. Nun gibt es auf der Bühne gern Zugaben. Daher zum Schluss unseres Gesprächs noch drei kurze Fragen aus dem „Crescendo-Fragebogen für Künstler“. Erstens: Was inspiriert dich?  

ALTARAS: Der Alltag. Alltag inspiriert mich immer. Alles Mögliche, das mir passiert.

HEUSER: Welche natürliche Gabe hättest du gern?

ALTARAS: Geduld. Oder Gelassenheit. Die zwei großen G‘s.     

HEUSER: Was würde niemand von dir vermuten?

ALTARAS: Dass ich eine Pragmatikerin bin. Ich hatte eine eins in Mathe und bin eine große Pragmatikerin. Wenn jemand pragmatisch ist, hat er gleich bei mir ein großes Plus.

HEUSER: Vielen Dank, liebe Adriana.