Info

Hans Pleschinski beendet Kafkas Fragment "Amerika": Das Waisenhaus von Oklahoma

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/Kafka1911_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/Kafka1911_500.jpg?width=500&height=325
Franz Kafka während der Entstehungszeit seines Roman-Fragments "Der Verschollene", zwischen 1911 und 1912.

Franz Kafka, dessen 100. Todestag wir 2024 begehen, schrieb drei Romane und hinterließ alle drei unvollendet. Amerika, heute auch Der Verschollene genannt, erschien 1927 aus dem Nachlass des früh verstorbenen Dichters. Gut fünfzig Jahr später, 1978, schickt sich der angehende Schriftsteller Hans Pleschinski an, das inzwischen berühmte Fragment zu vollenden. Der junge Pleschinski unterwirft in seiner Schlussvariante den siebzehnjährigen Protagonisten Karl Roßmann harten Prüfungen – mit einem Schwung, den man so vielleicht nur in jungen Jahren hat, und einem erzählerischen Atem, der den kommenden Romancier bereits ahnen lässt. Ein großes Vergnügen, exklusiv aus Hans Pleschinskis Archiv im Literaturportal Bayern!

*

Als der siebzehnjährige Karl Roßmann die Addition beendet hatte, kam über seine Schulter eine Hand hervorgeschnellt, die Finger wie Krallen, und griff derart sein Blatt Papier, dass es zugleich aus dem Heft gerissen und zerknüllt war. Die Papierkugel rollte über den Boden, wobei ein völliges Verstummen im Klassenraum eintrat. Die Köpfe der Kameraden drehten sich abrupt Karl zu, der in den Gesichtern seine einsam schuldige Lage erkennen musste. Und nun sonderten ihn die zu Distanzierung versteinerten Mienen in den Strafvollzug aus, zu dem die Klassenlehrerin ihn schon an der Schulter rüttelte und die rotlackierten Fingernägel in seine Haut presste. Keiner bezweifelte, dass sie die Position dazu innehatte, denn sie war ausgebildet, die ältere und eingesetzt, sodass keiner der Schüler sich ernstlich erheben und beschweren konnte, nur weil sie mit aller Ehrlichkeit ihres Amtes waltete. Sollte vielleicht jemand einen Brief an Reverend Fox schreiben, um Miss Jenkins das Durchrütteln zu untersagen, das sie trieb bis das Gehirn taub wurde? Der Reverend befand sich schon lange mit dem Frauenklub auf einer Studienreise im Heiligen Land, und nur seine Haushälterin war im Pfarramt verblieben, sie besorgte die Reinigung des Gotteshauses und behauptete zwar, dass sie den geistlichen Herrn vertrete, aber nichtsdestotrotz war die eigentlich glaubwürdige Autorität auf und davon – vielleicht im Orient verstorben –, was sie nur verheimlichte. Und der Gouverneur von Oklahoma, die oberste Instanz? Er war es ja, der die Waisenhäuser hatte errichten lassen, um die umherstreunenden Kinder zu erziehen. Noch in seiner letzten Rede vor dem Pädagogenkongress hatte er seine Zufriedenheit darüber geäußert, dass die Reibereien zwischen Erziehern und Erzogenen deutlich im Abnehmen begriffen seien, dass allmählich ein Geist herrsche, der hervorragend dazu geeignet sei, um vornehmlich in Oklahoma eine Führungselite heranzubilden, die für die gesamten Staaten, schließlich auch für das moderne Europa vorbildhaft sein würde. Die genialen Projekte zur Erschließung seines Präriestaats hätten ihm wohl außerdem keine Zeit gelassen, einer Kinderbeschwerde nachzugehen.

„Bitte aufhören“, stammelte Karl, und sie nahm nun tatsächlich ihre Hand fort, wenn auch nicht ohne ihm zuvor einen leichten Schlag gegen den Kopf gegeben zu haben.

Sie stellte sich, vor ausgeübtem Amt bebend, vor eine der getönten Fensterscheiben, durch welche die hereinscheinende Sonne gelblich braun wurde.

„Roßmann, wenn es das erste Mal gewesen wäre, dass du meine Lehrmethode, und das bin ich, sabotiert hättest, so wäre eine simple Bestrafung genug, aber es ist das zweite Mal – vielleicht schon deine Planung –, und du scheinst mir aus der ersten Unregelmäßigkeit eine Eigenart machen zu wollen, was ich zu verhindern wissen werde!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften, als gerade ihr kupferrot gefärbtes Haar im Zug der einsetzenden Klimaanlage leicht zu wehen begann, was sie jedoch nicht kühlte, wie Karl zu hoffen gewagt hatte, sondern eher noch ihre Gereiztheit zu steigern schien: „Ich will die Zahlen so haben, wie ich es selbst gelernt habe, wie es gescheit ist.“ Mit Hast suchte sie die Papierkugel auf, entfaltete sie und hielt die Ziffern in Karls Handschrift der Klasse entgegen, die loszulachen begann. Dabei waren Miss Jenkins rauchgelbe Zähne gegen Karl selbst gerichtet.

„Wir haben die Methode der glatten Ziffern bei uns eingeführt und nichts anderes wird gelehrt, Bürschchen. Und was treibst du da, du Taugenichts? Hast dich aus Deutschland herübergeschlichen und meinst wohl, du könntest das Fehlen deiner Eltern hier ausgiebig nutzen, um ohne Vater und Mutter mir deine Marotten zu präsentieren.“ Dabei geriet sie wieder in seine Nähe und schlug mit dem Lineal so auf seinen Tisch, dass sie noch die Kuppen seiner Finger traf, die er vor Schmerz zurückriss.

„Du pinselst weiter deine 8, deine 0 mit dem Schnörkel am oberen Ende. Die Fußwelle bei der 2 haben wir schon wegbekommen, warte nur, den Rest treib ich dir auch noch aus, dass du ganz vergessen wirst, wie es aussah. Mir hier die Klasse verderben zu wollen, das fehlte noch, was?“ Ihr was war herausfordernd in die Klasse gesagt, die jetzt tatsächlich die Bedrohung, die Karl mit seinen krakeligen Zahlen gegen sie geschrieben hatte, zu begreifen begann und mit Miss Jenkins unwillige Schmähungen Karls brummte.

„So etwas wie du kann froh sein, wenn der Gouverneur dermaßen nachsichtig für Essen, Schlafen und Erziehung sorgt.“ Ihr Kopfnicken wurde von den Klassenkameraden aufgenommen und wiederholt. Unterdessen rauschte Windluft aus der Klimaanlage, die wegen der Hitze stärker als gewöhnlich für die Temperaturmäßigung zu sorgen hatte, über flatternde Blätter auf allen Tischen. Aus einer plötzlichen Angst heraus begann Karl, noch immer streng fixiert, eilig eine lange Reihe gänzlich glatter Nullen in sein Heft zu schreiben. Er fragte sich, ob alles wirklich sei, und musste es zugeben, da vom Schlag die oberen Fingerglieder rot angeschwollen waren. Er hoffte, nun endlich in Ruhe gelassen zu werden; Miss Jenkins jedoch blieb stehen und schien nichts von ihrer Strafabsicht vergessen zu haben. Nicht zu Unrecht fand er bestätigt, dass sie ihm noch nicht traute, obgleich er schon zehn vollkommene Ziffern geschrieben hatte. Er spürte, wie sie ihn musterte und nun leise das Wort Isolation zu ihm sprach. Damit war wenigstens eine klare Linie da, dachte, er, wenngleich es wohl Qual meinte. Jetzt konnte Karl zumindest seine kaum beherrschte Wut in seinen Augen aufleuchten lassen. Auch in Oklahoma konnten die glatten Ziffern nicht die einzige Wahrheit sein, denn noch in Europa hatte sein Onkel ihn das Schreiben gelehrt und der, in seiner winkeligen Stube, das wusste Karl noch fast genau, hatte ohne Zögern die Zahlen mit einem Schnörkel und einer Fußwelle versehen. Als ob der Onkel ein anderer Mensch wäre als die in Oklahoma, die so einfach und skrupellos Dinge unterschlugen wie es Miss Jenkins tat, die Oklahoma doch sicherlich niemals ernstlich verlassen hatte. Ihr genügte Karls bange Starre, um das Strafmaß noch zu erhöhen: „Roßmann, du wirst doppelte Mahlzeiten einnehmen.“

Das war eine der gefährlich nett scheinenden Einrichtungen, Strafen des Hauses, die womöglich begehrt war bei Ahnungslosen, denn sogleich erhob sich ein Gemurmel aus Neid im Raum. Die verdoppelte Mahlzeit war das erlesenste Instrument, wusste er, um die Zöglinge zur Raison zu bringen, die nämlich mit vollem Magen nachts Albträume bekamen und sogar erleichtert waren, wenn die Weckanlage sie aus den Torturen der leibschweren Flugversuche im Schlaf befreite.

„Diesen Dreck aus der Büchse“, entfuhr es Karl, der im Moment der Äußerung schon stöhnte, noch bevor Miss Jenkins ihn am Arm vom Stuhl zog und vor sich her durch die Tischreihen stieß, wobei Karl mehr aus Instinkt als aus Hoffnung mit der Hand die Hände und Rücken der Kameraden zu streifen versuchte – auch um sie auf seine Behandlung aufmerksam zu machen, aber sogleich schrie Miss Jenkins: „Singt!“, und dies kaum gerufen, begann an den drei Tischreihen der Kanongesang. Mittenhinein schlug hinter Karl die Tür zu. Im Korridor war das Singen nur noch schwach und wie aus einem Karton zu vernehmen.

„Willst du wohl still sein“, und dabei trat sie Karl heftig auf den Fuß, nachdem dieser mitzusummen begonnen hatte und er sich auf die Lippen beißen musste, um nicht aufzuschreien. Sie schubste ihn ein paar Meter weiter.

„Es reicht“, sagte er plötzlich stehenbleibend der Frau ins Gesicht, aber die war stärker und drängte ihn weiter, und Karl war wie tot, als er erkannte, dass seine Kraft nicht einmal ausreichte, um dieser ältlichen Frau davonzuspringen, und überall die Wände des Gangs, die ihn umschlossen. Durch die Oberlichter aus Milchglas schwemmte weißer Schein. In den Vitrinen, die zur Zoologie gehörten, waren ausgestopfte Hühner und Kühe aufgestellt, die aus Glasaugen auf die Vorbeidrängenden glotzten. Am Ende des Korridors ließ sich ein schlurfendes Gehen hören und schließlich war ein Mann erkennbar, der als Rettung entgegenkommen mochte.

Es war der Kunsterzieher Mr. Fletcher. Er musste das gemeine Treiben schon länger gewahrt haben, er verlangsamte den Schritt jedoch nicht im Geringsten. Erst als Miss Jenkins ihn grüßte, verharrte er. Sie schüttelten sich die Hände, was Karl völlig beklommen machte. Miss Jenkins lachte kurz auf und kaschierte die Situation, indem sie Karl scheinbar gutgemeint ans Ohrläppchen fasste. Er blickte flehentlich zu Mr. Fletcher und konnte Miss Jenkins Voranschieben tatsächlich für einen Moment vereiteln. Doch Mr. Fletcher mit seiner Leidensmiene zog nur einen kleinen Block aus dem Jackett und skizzierte mit einigen Strichen ein Bild von Karl und Miss Jenkins. „Ich schenke es Ihnen später. Tja“, sagte er dann verdrießlich zu Karl: „Ich habe diese Schule nicht gebaut, aber, aber – ist jetzt auch egal.“ „Sehen Sie denn nicht, Mr. Fletcher, sie verschleppt mich.“ Die beiden Lehrer sahen einander an. „Ich sehe, ich sehe, aber du bekommst schließlich auch ein Bild davon, wenn du möchtest“, damit zeigte er, als wäre es die vollkommene Hilfe, auf den Skizzenblock, auf dem sich Miss Jenkins anscheinend mit leichter Verärgerung wiedererkannte: „Haben Sie denn jetzt nichts anderes vorgehabt!“, sagte sie auffordernd zu Fletcher, der sein müdes Schlurfen fortsetzte. „Haben Sie denn keinen Einfluss hier, Mr. Fletcher? Mr. Fletcher!“ rief Karl ihm hinterher. „Ich bin in Eile, ich will ins Städtische Museum“, hörte er, Fletcher sah sich um, „ich habe keine Idee mehr, Ihnen beizustehen, Roßmann.“ Danach verschwand er im Gang.

Schubsend und gestoßen passierten die beiden die Stahltür, die den Gebäudetrakt gegen Feuer und was sonst bedrohlich sein konnte, hermetisch abschloss. Sie durchquerten den kleinen Lichthof, wo Miss Jenkins sich eine Hand schräg vors Gesicht hielt, da ihr nach dem Dämmerschein im Innern das Sonnenlicht in die Augen stach. Karl war es kurz, als schliche jemand hinter ihnen her und als er sich umwandte, war der Türgriff heruntergedrückt. Er schrieb es den Fantasien zu, die in seinem durchgeschüttelten Kopf schwirrten. Das Kopfweh würde die Isolation noch unerträglicher machen, denn keineswegs sah jemand in dem Isolationszimmer so etwas wie einen Eremitenunterschlupf – ganz im Gegenteil. Gedrängt stieß er ungeschickt gegen einen der Kübel aus Waschbeton, in die japanische Zierpflanzen und Kriechgewächse gepflanzt waren, die den Lichthof schmückten. In Säulen aus Glas, mit Wasser gefüllt, schwammen bemerkenswert dicke Goldfische – daher wurde dieser Hof von manchen Schülern kurz Atlantis genannt. Hier erholte sich in den Pausen das Lehrpersonal und demonstrierte der Biologielehrer Phänomene der Natur.

Schon schlug die nächste schwere Tür hinter ihnen zu. Miss Jenkins atmete auf und konnte die Hand von den Augen nehmen, um Karl wieder fester am Pullover zu greifen. Vielleicht rührte es vom Luftzug, dass die Tür wie abermals zufiel.

Nachdem sie die Lichtschranke passiert hatten, öffnete sich vor ihnen der Trichter des nächsten Gangs bis in alle Tiefe. „Der Herr Direktor“, sagte sie und drückte Karls Hinterkopf, dass er sich verbeuge. Ein seine Zigarre rauchender Herr in dunkelblauem Anzug und Weste trat aus einem der Seitenzugänge. Er erahnte einen Missetäter und blies ihm die Rauchwolke ins Gesicht. Karl wusste nicht, wie das gemeint war – manchmal sollte so etwas ein seltsamer Spaß sein.

„Eine Korrekturmaßnahme, Herr Dr. Ziegberg“, merkte Miss Jenkins in einem frivolen Ton an und trat dicht an den Direktor heran. Nun spürte Dr. Ziegberg wohl Karls Schuld. „Der sieht wirklich nach schlechtem Gewissen aus“, wobei er mit der Zigarre auf Karls nervöses Gesicht deutete. Sie legte ihm den Fall dar. „Roßmann“, äußerte er abfällig, „Vergebung liegt nicht in unserem Interesse, wir wollen, dass du hart wirst und du wirst es auch wollen, wenn du mal dein späteres Fortkommen bedenkst.“ Er holte Luft: „Nachsicht verwischt den Charakter. Es ist eine Eigenschaft, nach der sich Schwache sehnen. Die will ich nicht. Roßmann“, dabei griff auch er Karl am Ohr: „Alle Menschen sind gleich. – Du kennst wohl unsere Verfassung nicht. Daher ist es nicht einzusehen, warum du Schnörkel malen dürftest. Wenn du so etwas produzieren willst, dann geh in unsere Hobbyräume und drechsele da herum. Aber“, wie leidend wandte er sich Miss Jenkins zu, „da gehen die jungen Herren lieber in die Kneipen und in die Spielhöllen, als gäbe es unsere gepflegte Kegelbahn im eigenen Hause nicht.“ Er machte ein Zeichen, dass sie sich entfernen sollten. Plötzlich rief er: „Miss Jenkins“, und sie ging ein paar Meter zurück, dann konnte Karl nicht umhin, lautes Küssen, Schmatzen zu hören und hinter der noch offenen Tür ein zunehmendes Stöhnen und Getobe. Nach geraumer Zeit kam Miss Jenkins wieder zum Vorschein, richtete ihr Haar, und die Bürotür des Direktors schloss sich.

Alsbald waren sie im Fahrstuhl, der lautlos die Etagen hinaufglitt, und aufleuchtende Ziffern zeigten an, welches Stockwerk sie passierten. Der Lift öffnete sich zu einem wohl niemals gelüfteten Flur, der vor einer weißen Tür endete, die an Krankenhaus erinnerte. In schwarzen Lettern war auf ihr ISOLATION vermerkt. Aus ihren wohl zwanzig Schlüsseln am Bund fand Miss Jenkins sofort den passenden heraus und steckte ihn ins Schloss.

Noch kein Mal war Karl hier gewesen und hatte nur das Vagste über diesen Raum erfahren, denn wer einmal hier eingesondert worden war, der versuchte danach still und scheu wieder Anschluss zu finden und oft verriet allein die Miene, dass ihm Grässliches widerfahren war. Einer hatte gemunkelt: „Es ist leer da – vielleicht ist es nicht das richtige Wort – so leer, dass es über die Gedanken geht, viel leerer als unsere Schlafsäle, wo wir wenigstens miteinander raufen und würfeln können.“

Die Tür öffnete sich in dem Augenblick, in dem Karl in Gedanken an die Leere gerade einen Schritt zurückweichen wollte. Mit einer Höflichkeit, die das Widerwärtigste an Miss Jenkins war, weil sie ihrer Macht noch die Lüge hinzufügte, ließ sie ihn eintreten und verbeugte sich pagenhaft, als hätte sie einen Sinn für Wohlverhalten. Karls Gesicht hellte sich auf. Er glaubte an eine geheime Schonung, eine ungeahnte Bevorzugung seitens der Heimleitung, als er sich nun umsah. Aber Miss Jenkins Lächeln erinnerte ihn allzu deutlich an Schläue. Konnte aber dieser gemütliche Raum mit Teppichen, Sessel, Fernseher, Eisschrank etwas Schlimmes sein? Karl war verwirrt und meinte einen Schatten huschen zu sehen. Nie war ihm die Welt unheimlicher erschienen als jetzt, da er nicht wusste, ob er sich elend oder froh fühlen sollte. „Es gefällt dir hoffentlich, Roßmann“, sagte sie, „setz' dich, mach's dir bequem“, säuselte sie beinahe, „alle tun das zuerst, wenn sie die ersten drei, vier Tage hier genüsslich verbringen. Du glaubst doch wohl nicht, Roßmann, dass ich dich hier ernstlich selig machen will. So, Roßmann“, damit trat sie ans Fenster und zog die Jalousien hoch, kippte es ein wenig auf, wobei sofort Straßenlärm hereindrang und das Zahncremeplakat auf der gegenüberliegenden Seite sichtbar wurde, wie ein riesiges Segel. Die Frau mit der angepriesenen Marke zeigte das Gebiss eines Raubtiers. Im Lärm musste Miss Jenkins lauter sprechen: „Das funktioniert so – ich sage es dir im Voraus, damit du dir keine Illusionen machst. Du machst es dir gemütlich, isst die doppelte Portion, denn du bist ja hungrig, du schläfst, siehst fern, hörst Musik, zuerst ertragen deine Nerven sogar das Hupen und die Sirenen. Aber dann hast du bald genug gegessen, gesehen, gehört, geschlafen, so dass dir von allem übel werden wird und du keineswegs froher geworden bist, sondern vielmehr alle Mittel vergeblich ausgekostet hast, um glücklich zu bleiben. Wir haben hier im Haus die Erfahrung gemacht, dass keiner fähig ist, länger als drei Tage und Nächte allein zu sein. Bücher gibt es übrigens nicht. Mit dem gut gefüllten Eisschrank, dem Fernseher zögern wir die Strafe, die Trübsal hinaus, die dann umso unerträglicher sein wird. Schau' nur, hier kannst du aus dem Fenster springen“, sie deutete auf den Griff des Fensters, hinter dem es gewiss zwanzig Meter in die Tiefe ging. „Das tust du aber womöglich nicht, denn trotz allem ist deine Genusssucht möglicherweise größer als dein Wille zur Klarheit. Hinterher haben wir in dir einen gehörigen Zögling, Roßmann.“ Als sie das Fenster mit einiger Wucht zuzog, fiel eine Vase vom Fensterbrett, deren Scherben über den Boden sprangen, was in Karls Ohren wie Gelächter klang, das auf Miss Jenkins Worte folgte. Der Krach brachte auch sie ein wenig aus der Fassung, und sie zog sich eilig zurück, wobei ihr ein Bleistift aus der Rocktasche rutschte. Noch als sie im Türrahmen stand und ihn in die Folter einsperrte, schien sich unversehens eine Einsicht in ihr zu regen: „Ich bin auch nur davon abhängig, wie sich die Dinge entwickeln. In meiner Zeit habe ich mein Amt.“ Da fand Karl sie plötzlich armselig und gar nicht mehr mächtig. Sie verriegelte die Tür.

Die böse Person hatte durchaus die Erfahrungen vorweggenommen, indem sie erläutert hatte, wie aussichtslos er zum Scheitern verurteilt war, und so hatte er nicht einmal den Mut, etwas auszuprobieren, um sich die Zeit zu vertreiben. Keine Entdeckung sollte er während der Isolation mehr machen können. Miss Jenkins hatte ihn besonders schäbig behandelt und ihn der Hoffnungslosigkeit überlassen. Das raubte ihm alle Kraft und schon quälte ihn der Straßenlärm, der durch die Scheibe drang. Die hochgezogenen Jalousien ließen sich nicht lösen, und der Raubtiermund blendete mit riesigen Zähnen herein.

Die Dunkelheit, die über der Stadt und ihren Lichtern ebenso unvollkommen war, wie das Tageslicht durch ihre Emissionen, breitete sich dämmrig aus, und Karl hockte apathisch auf dem Boden. Es half nichts, die Hände auf die Ohren zu pressen, denn dafür waren sie nicht gewachsen, und die Ohren gaben auch ihr Hören nicht auf. Es wurde ihm so laut und grell, dass er sich wünschte, sich alle Nerven aus dem Kopf reißen zu können, um weiterleben zu wollen. Durch eine Öffnung in der Tür wurde eine immense Essensportion geschoben, die im Nu das Zimmer mit Speisedampf füllte. Karl mochte hier nichts anrühren, da alles dazu benutzt wurde, um ihn zu zersetzen.

Das Band der Scheinwerfer auf der breiten Fahrbahn riss nicht ab. Die Leute fuhren heim zu ihren Betten.

In einem imaginären Geviert stampfte er durch den dunstigen Raum und trat gegen die Möbel. Tief unten erkannte er Leute an einem Stehimbiss, aber er hätte springen müssen, um zu ihnen zu gelangen. Sie hätten das Heim informiert. Dann wollte er es doch lieber mit der eigenen Einsamkeit ausprobieren. Wieder hockte er sich auf den Boden vor die Tür und wippte mit dem Oberkörper unablässig vor und zurück, wie Tiere im Zoo, und dabei schlug sein Kopf gegen das dumpf hallende Holz. Neben seinem Fuß sah er den Stift, den Miss Jenkins verloren hatte. Nach einer Weile, in der er seinen Sprung mehr denn je ins Auge gefasst hatte, hob er den Stift auf, drehte ihn in den Fingern, zog schließlich ein paar Striche über die Türfläche, wobei er aufhören musste, wie der Affe zu wippen.

Die Finger, vor dem Malversuch ein bisschen zitternd, setzten den Stift wieder auf das Weiß.

In diesem Moment wurde neben dem Sessel und hinter dem knienden Karl unerkannt eine dunkle Gestalt deutlich. Auf dem Türholz entstand aus Karls Fantasie zunächst unklar, doch allmählich erkennbarer eine weite Landschaft mit einzelnen Bäumen, dann einer Baumgruppe, eine Pappelallee, eine Art von Steg oder Brücke, dann einem Fluss.

Es war so, als fasste der Schemen, ein Etwas aus Leib und Nichts, Karls Hand, die nun zu Karls eigener Verwunderung recht hübsch Vögel am Fluss, Reiher, gar ein Pferd zu malen begann. „Nur zu, Geliebter“, flüsterte das Wesen, „weiter“, und die Stimme war gleichsam der Luftzug, der vom Fenster besänftigend an Karls Hals entlangstrich. Immer mehr Gesträuch, Blumen, Früchte entsprangen Karls Erdreich. Der Schatten legte seine Hand auf Karls Schulter und ihm war es ein Wohlgefühl. Der Fremde beugte sich vor und über sein Dunkel floss ein Licht, das Karls Augen zu entströmen schien. - Wind, durch den Garten soll ein Wind wehen. „Wie zeichne ich ihn?“, sprach Karl zu sich selbst. Da hauchte der Gast vorsichtig über Karls Stirn. Erstarrt saß er da, der Stift glitt ihm aus den Fingern und voller Angst, dass vielleicht Miss Jenkins durch eine geheime Tür hereingeschlichen war, stammelte er: „Ich bin nicht allein?“ Er getraute sich nicht, sich umzublicken.

„Natürlich nicht“, sagte der Schatten und zog sich ein wenig ins Dunkel einer Ecke zurück.

„Mein Gott, wer bist du?“, rief Karl und sprang entsetzt auf, „ich habe kein Geld. Bin hinter Schloss und Riegel. Geld habe ich wirklich nicht.“

„Armer Karl, wie haben sie dich in Oklahoma verdorben. Nein, Geld will ich nicht. Es ist Zeit, dass ich gekommen bin, wenngleich es nicht leicht und unangenehm war, dir in diesem Haus auf den Fersen zu bleiben. Du kannst mich Orpheus nennen. Ein Name beruhigt dich.“ Dabei stellte der Gast ein goldenes Licht auf den Tisch, in dessen Schein er zu einem dunklen Flimmern wurde.

„Orpheus? Aus Griechenland?“

Der Gast lachte herzlich auf.

„Wieso kommst du zu mir?“

„Andere sind schon tot.“

„Meine Kameraden?“, fragte Karl, „Orpheus, ich erkenne dich so schlecht, da, wohl deine Hände.“ Dabei versuchte er vergeblich genauer zu erkennen.

„Das ist nun so. Ach, wohl richtig, dass es mich zu dir verschlug. Du Unglücklicher – malst dir Luft und Leben auf die Tür“, damit wies die vage Hand auf das kleine Werk: „Ohne das wärst du erloschen.“

„O dieser Tag“, stöhnte Karl und ließ sich erschöpft gegen den Sessel sinken, „es begann mit dem Schnörkel an der Null.“

„Ich bin ganz und gar unschuldig daran“, beteuerte der Gast, und Lippen lächelten.

„Und jetzt“, fuhr Karl fort, „bin ich in Haft. Wie weit ist es mit mir gekommen.“

„Noch einen Schritt – und sehr weit.“

„Ich verabscheue Oklahoma.“

„Ich weiß, Karl, und Miss Jenkins hasst dich dafür, denn sie lebt nur in und mit Oklahoma.“

„Aber es ist unheilvoll, dieses Land.“

„Du musst etwas unternehmen, Karl, du musst Miss Jenkins besiegen, wer unter ihr ist, hat sie zu tragen. Wenn sie erfährt, dass du die Tür vollgezeichnet hast, wird sie dich schlagen. Lange schlagen. Hast du denn solche eine Behandlung nötig, Karl?“

„Wie bitte?“

„Ach, das verstehst du gar nicht mehr? Lass es dir also sagen, Karl, du darfst es dir nicht gefallen lassen. Willst du mich nicht bewirten?“

„O ja, entschuldige, es ist genug da. Sogar Wein, in diesem Zimmer gibt es alles, um sich zu betäuben.“

„Denk nicht mehr daran. Wir trinken gemeinsam, du und ich und wir wollen ehrlich sein.“

Karl ging zum Eisschrank und bemerkte so nicht das Aufblitzen eines Gegenstands, den der Gast an seinem Gürtel umgriff. Karl nahm den Wein und die Schale mit Obst und Früchten. Plötzlich stand eine fürstlich gedeckte Tafel in der Mitte des Raums, Gedecke und Gläser schimmerten unter einem silbernen Leuchter.

„Souper italien“, nannten es die Menschen vor langer Zeit. „Nun siehst du froher aus, Karl. Nimm Platz.“

„Danke.“

„Aber was wirst du tun?“ fragte eine behutsam eindringliche Stimme, die sehr melodiös klang, über den Tisch. Karl dachte seufzend an die Rückkehr in die Schar seiner Kameraden. Versehentlich stieß er gegen die Flasche, die merkwürdig nah am Tischrand gestanden hatte. Aus den Splittern am Boden breitete sich die glänzende Lache aus. Sofort wollte Karl alles aufsuchen und säubern. Dabei hatte der Gast sich schon erhoben und sich ihm genähert. „Was wirst du tun?“, wiederholte er in bedrohlichem Ton seine Frage. Erstaunt, verzweifelt sah Karl ihn von unten an. „Hierbleiben. Was sonst? Ich bin nur Karl Roßmann, bin in Oklahoma.“

„Auch, wenn du Miss Jenkins Ziffern schreiben sollst, auch wenn deine Kameraden dressierte Pudel werden und im Innern oft Bestien.“

„Aber wenn es doch überall so ist und sein wird.“

Der Gast hielt inne und schien sich etwas von Auge und Wange zu wischen. Aber ehe Karl tröstend aufstehen konnte, wurde er mit flinkem Griff gepackt, und ein Arm wie von Eisen umschlang würgend seine Kehle. „Du Feigling!“ Dabei zog das Wesen ein Stilett aus seinem märchenhaften Gurt und führte die Spitze auf das Herz des bebenden Jungen.

„Du bist nicht Orpheus. Du bist schlimmer als alles!“

„Täusch dich nicht, mein Freund. Du kennst mich nicht. Von dir lass ich mich nicht verraten.“ Immer entschlossener drückte er das Messer durch den Pullover auf die Haut, „und mich kennt man nicht, um dann wieder, als wäre nichts gewesen, sich auf seinem alten Platz niederzulassen. Hör gut zu, mein liebes Früchtchen. Dir folgte ich, du hast mich erahnt und deswegen stirbst du auf der Stelle“, und wie zum Beweis glitt die Messerspitze über die Brust, „oder du wirst es wagen! Ich habe es satt, mir deine feige Mittelmäßigkeit noch länger bieten zu lassen.“

„Mein Gott, mein Gott“, brachte Karl halb erdrosselt von dem zwingenden Wesen hervor und glitt aus dem Griff des Eindringlings zu Boden: „Ich tue, was du willst.“

Da half ihm der unberechenbare Schatten auf die Beine, raffte sein Flimmern, sein Gewand und führte Karl ans Fenster. „Erst einmal kehrst du heim nach Europa“, befahl er, „hier ist es nichts für dich. Oklahoma war ein Fehlgriff.“

„Der Menschen oder der Götter?“ fragte Karl mutig.

„Du musst sehen, dass du von hier fortkommst. Der Menschengeist und der Götterwille sind dermaßen verwickelt, dass keiner mehr Bescheid weiß. Da hilft nur guter Wille. Denke nicht so sehr darüber nach, versuche dein Bestes. Warum sollte ich dich klüger machen als andere, ich will dich nicht aller Mühen und der Sehnsucht berauben. Vielleicht habe ich Pläne für dich. Also ab nach Europa.“

Aus Laken und Decken knoteten beide ein Seil, das der Halbgott, mithin fast ein Gott, oben festhielt: „Ich muss rasch fort. Diese Schule fällt in Trümmer, wenn ich länger bliebe. Sie wankt schon fast.“

Tatsächlich verspürte Karl ein Beben, und Kalk rieselte die entsetzlich hohe Wand herunter. Er griff und tastete nach Halt an Gittern und Brüstungen.

Nun musste er sich allein zurechtfinden.

Autofahrer nahmen ihn mit nach Philadelphia. Dort gelang es ihm, eine Heuer auf einem portugiesischen Frachtschiff zu bekommen. Als er nach Tagen der Fahrt über den Ozean in der Morgenfrühe erwachte, lag das iberische Festland in einem Dunst am Horizont und in der ersten Regung zwischen Traum und Wachen meinte er, es wäre die Freiheitstatue, die sich weiß über dem Hafen von Lissabon, aber mit ausgebreiteten Armen erhob.

 

Hans Pleschinski, 1978

Verwandte Inhalte
Literarische Wege
Literarische Wege