Info
27.03.2024, 14:00 Uhr
Redaktion
Gespräche

Das neue Online-Magazin Literatur.Review verbindet literarische und sprachliche Räume

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/instblog/2024/Klein/axel-timo-purr-500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/instblog/2024/Klein/axel-timo-purr-500.jpg?width=500&height=370
Porträt Axel Timo Purr © Katalin Jäger

Ein neues Literatur-Magazin geht an den Start: Literatur.Review (LR) nennt sich ein „Magazin für die ganze Welt“. Alle Beiträge erscheinen auf Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch. Dementsprechend bringt das Magazin Beiträge aus Afrika, Asien, Latein- und Südamerika neben Literatur aus US-Amerika und Europa. Neben Rezensionen, Interviews, Kolumnen, Casts, Essays, Porträts und Reportagen publiziert LR auch Primärtexte, etwa Lyrik, Prosa und Graphic Novels. Herausgeber Axel Timo Purr ist Redakteur des Münchner Online-Filmmagazins artechock. Nach Feldforschung in Ostafrika zu globalen ökonomischen Einflüssen auf individuelle Biografien schreibt er seit 2001 als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung, die NZZ sowie weitere Medien. Das Interview führte Thomas Lang.

*

LITERATURPORTAL BAYERN: Axel, Du bist einem Münchner Publikum vor allem bekannt als Filmkritiker beim Online-Filmmagazin artechock, bist aber auch Teil eines Netzwerks für Übersetzung und Design (www.virtual-earth.de). Wie kommt es, dass Du Dich jetzt auch der Literatur zuwendest?

AXEL TIMO PURR: Literatur war meine erste Liebe und da jedes Herz groß genug ist, hat auch in meines mehr als eine Liebe gepasst. Ich habe Literaturwissenschaft studiert, bevor ich auf Ethnologie gewechselt bin und nach zahlreichen Feldforschungen habe ich dann beides kombiniert, habe für die NZZ und die SZ Autoren im sogenannten globalen Süden besucht und versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass es noch eine andere literarische Realität als die westliche gibt. Parallel dazu habe ich immer mehr auch über Filme geschrieben, weil die Literatur und der Film ja auch schwer zu trennen sind. Aber der Anlass, es nun auszuweiten, ist eher traurig. Die Redakteurin, mit der ich bei der NZZ zusammengearbeitet habe, wurde „früh-verrentet“ und mit ihr das großartige Netzwerk und ihr Projekt, die ganze literarische Welt als Kugel und nicht nur als Scheibe abzubilden.

LPB: Die Website Literatur.Review will ein „Magazin für die ganze Welt“ sein. Kannst Du kurz beschreiben, wie das funktioniert und was das LR-Magazin will?

PURR: Eigentlich werfen fast alle Magazine, die sich mit Literatur beschäftigen, meist eher selbstreferenzielle Blicke auf die Literatur, sie sind ihrem Kulturraum verhaftet; es sei denn, Krisen wie im Nahen Osten drängen sich auf. Wir wollen hingegen versuchen, wie ich das vorhin ja schon angedeutet habe, die Welt wieder „rund zu machen“, weg von der flachen Erde und mit den Grenzen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden jonglieren, so dass neue literarische Landkarten und Verbindungen entstehen. Deswegen wird auch jeder Text konsequent in eine der großen Verkehrssprachen Arabisch, Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch übersetzt, obwohl Deutsch im Vergleich zu den anderen Sprachen natürlich ein Zwerg ist. Aber ein wenig Selbstreferenzialität darf und muss wohl auch sein. Wichtig ist auch, dass wir innerhalb der Formate und Themen Grenzen aufheben wollen. Es wird Rezensionen, Interviews, Kolumnen, Podcasts und Videos geben und lange – auch wissenschaftliche – Essays, Porträts und Reportagen werden erscheinen. Thematisch dürfen dann auch Lyrik neben Prosa, Graphic Novels und Kinder- und Jugendliteratur stehen. Und auch Filme werden besprochen, solang es Literaturverfilmungen oder Filme mit Bezug zu Literatur sind, wie etwa die Dokumentation über Umberto Eco und seine Bibliothek, die gerade erschienen ist.

LPB: Wer arbeitet mit? Ist es Dir gelungen, Beitragende aus den arabisch oder spanisch geprägten Teilen der Welt zu gewinnen? Wie wird das unseren Blick auf Literatur erweitern bzw. verändern?

PURR: Oh ja, wir haben inzwischen Autoren aus allen Kontinenten und allen Altersgruppen im Team. Einer der großen Autoren Ostafrikas, David Maillu, hat z.B. einen berührenden Essay über seine Sozialisierung in Kolonialzeiten geschickt und wie das sein Schreiben geformt hat. Leila Aboulela, deren gerade neu erschienener Roman von der New York Times zu einem der besten historischen Romane des letzten Jahres gewählt wurde, schreibt über literarische Reflexionen sudanesischer Autoren auf den im Westen kaum wahrgenommenen Bürgerkrieg im eigenen Land. Wir haben eine kleine Reportage eines Autors aus Bangladesch über die längste Buchmesse der Welt; die libanesische Autorin Iman Humaydan schreibt über kreatives Schreiben und die arabische Sprache als Mittel sprachlicher Emanzipation und gesellschaftlicher Befreiung und ein ganz junger Autor aus Ruanda berichtet über die ruandische Literatur zum Genozid in Ruanda, der sich in wenigen Wochen zum 30. Mal jährt. Es wird einen Text über zeitgenössische spanisch-karibische Literatur, die von Schwarzen und afro-diasporischen Frauen geschrieben wird, geben und ein melancholisches Essay eines Autors, der Leonard Cohen in Montreal begegnet ist. Das sind alles Themen, die nicht von einer zentralen Redaktion gesteuert wurden, sondern die sich die Autor:innen selbst gewählt haben und uns damit auch einen anderen, erweiterten, immer wieder überraschenden Blick auf die Literaturen unserer Welt geben werden. Auch unsere Language-Editoren sitzen übrigens auf der ganzen Welt: in Algerien, im Libanon, in England, Spanien, Ruanda – und Berlin.

 Screenshot LR © Literatur.Review

LPB: Muss ich fürs Lesen der RL etwas zahlen? Wie finanziert sich das Magazin, insbesondere unter dem Aspekt seiner Mehrsprachigkeit?

PURR: Alle Texte sind ohne Bezahlschranke für jeden lesbar. Das ist uns sehr wichtig. Das wäre allerdings ohne die Anschubfinanzierung durch den Digitalisierungsfond des Bundes für die aufwändig konzipierte Website nicht möglich gewesen. Die ersten Monate im laufenden Betrieb werden von mir finanziert, von einem Gewinn, den ich durch eine Wette bei einem englischen Buchmacher eingefahren habe. Man kann dort ja jedes Jahr zu Zeiten des Nobelpreises auf den neuen Nobelpreisträger für Literatur wetten und ich lag einmal richtig, weil ich auf Bob Dylan gesetzt hatte. Aber dieses Budget reicht natürlich nicht unbegrenzt, weshalb wir in den nächsten Wochen auf Stiftungen zutreten werden, auch im arabischen Raum, um sie von unserer Idee zu überzeugen. Auf diesem sicherlich sehr steinigen Weg hilft es uns allerdings, dass die meisten in unserem Team entweder unentgeltlich oder für ein sehr geringes Honorar arbeiten und schreiben.

LPB: Wie siehst du das Magazin im Printkontext? Ist nicht gerade die deutschsprachige Öffentlichkeit recht papieraffin?

PURR: Ich denke, dass das mit der papiernen Affinität komplexer ist, als wir denken. Als Redakteur von artechock, einem reinen Online-Magazin, konnte ich über die letzten 15 Jahre eine konsequente Zunahme an Lesern feststellen, gleichzeitig wurden in den letzten Jahren immer mehr Filmredaktionen im Printbereich kleingeschrumpft. Bei der Literatur sieht es nicht anders aus; die ZEIT hatte vor zwei Jahren zum ersten Mal eine Ausgabe ohne eine Literatur-Rezension. Beim Radio sieht es nicht anders aus, wie wir alle wissen, und der BR probiert es in seiner Verzweiflung jetzt ja sogar mit einem Format auf Tiktok. Wir versuchen allerdings, an die große Zeit des Prints zu erinnern. Zumindest das. Es gibt lange, sehr lange Texte, die an die Bleiwüsten alter Zeitungsseiten erinnern, und unser Designer hat die Website mit dezenten Anspielungen an die Anfänge des Buchdrucks und an die Hochphasen, wie die Zeiten des Jugendstils, versehen. Und auch die Namensgebung entspricht altehrwürdigen Print-Traditionen wie dem London Review of Books oder dem Psychological Review, allerdings mit einer kleinen Erweiterung, da ein „Literatur-Review“ ja auch eine wissenschaftliche Technik ist, um Wissen aus den verschiedensten Quellen zu sammeln und damit ein komplexes Fundament für einen kritischen Diskurs zu schaffen.

LPB: Welche Rolle spielt Literatur aus Deiner Sicht in den heutigen Gesellschaften und welche sollte sie evtl. spielen?

PURR: Ich denke, Literatur ist eines der wenigen Kulturwerkzeuge unserer Zeit, das noch relativ unabhängig ist, das in dem komplexen, nischenhaften Wildwuchs, in dem Literatur ja am besten gedeiht, sich auf fast anarchistische Weise noch wehren kann. Gegen das, was war, gegen das, was ist, und gegen das, was noch kommen wird. Der kanadisch-autochthone Autor Michel Jean hat das kürzlich auf seiner Lesung in München sehr schön formuliert. Da er auch journalistisch bei TV und Print arbeitet und er konsequent blockiert wurde, wenn er über Themen zur indigenen Kultur in Kanada arbeiten wollte, blieb ihm irgendwann nur noch die Literatur, mit der er dann, fast schon überraschend, auch Erfolg hatte, weil erstmals indigene Themen in der sogenannten Hochkultur öffentlich verhandelt wurden. Literatur ist ja immer auch, genauso wie der Film, ein Spiegel der Zeit und weiß oft mehr als der Mensch und seine Zeit, so ungefähr hat das Siegfried Kracauer einmal formuliert. Deswegen ist auch jedes Buch, wie trivial oder apolitisch es erscheinen mag, immer auch ein politisches Statement, kann jeder, der sich die Zeit nimmt, daraus lesen, wo wir stehen und wohin wir gehen. Das ist wunderschön, aber auch sehr beunruhigend, weil es wie eine Waffe, wie handfester Widerstand funktioniert. Literatur ist gefährlich, und das ist gut.

Externe Links:

Literatur.Review

Artechock