„Neuanfang“. Von Marion Zechner
Eine junge Frau in der Nacht vor ihrer Hochzeit, wachgehalten von Erinnerungen an die zurückliegenden Jahre, hin- und her geworfen zwischen Zweifeln, Hoffnung und der Frage: Wie kann ein Neuanfang nach einer schweren Zeit gelingen, ohne von der Last der Erinnerung erdrückt zu werden?
Mit dem folgenden Text beteiligt sich Marion Zechner an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.
*
„Bis morgen“, sagst du, als wir uns verabschieden, obwohl du nicht verstehst, wieso wir uns überhaupt verabschieden müssen. „Weil es so gehört“, sage ich, „das steht in allen Foren und Büchern und ist Tradition, mein Schatz! Und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede, schließlich habe ich ein halbes Jahr lang meine komplette Freizeit mit diesen Foren und Büchern verbracht und ...“ Ich hätte noch weitere Argumente gefunden, aber du hast erstaunlich schnell nachgegeben, so wie du in der letzten Zeit immer erstaunlich schnell nachgibst. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir so eng zusammen gewachsen sind und einander auch im Geschmack und in unseren Meinungen angeglichen haben. Wir müssen nicht mehr dauernd aufeinanderkleben, um uns unsere Liebe zu beweisen. Ein Mann, der seinen Beruf liebt und genügend Geld verdient, dass man sich eine Wohnung mit einem Zimmer zu viel leisten kann, und das in München-Schwabing.
„Bis morgen“, sage ich also und drücke mich zum Abschied an deinen kräftigen Körper, den ich so liebe. Ich weiß genau, dass du großartig aussehen wirst in deinem Anzug oder Smoking oder was auch immer du anhaben wirst. So oder so wirst du großartig aussehen. Kaum einer in deinem Alter, der so großartig aussieht wie du. So wenig Bauch und so üppigen Haarwuchs und dazu so trainierte Oberarme, weil du trotz der vielen Arbeit deinen Körper nicht vernachlässigst und zwei Mal in der Woche direkt von der Kanzlei zum Training fährst. Besser selten umarmt und dafür von kräftigen Armen als ... „Bis morgen dann“, sagst du und schiebst mich weg.
Nur eine Nacht. Nur noch eine Nacht.
„Von vorn anfangen“ habe ich geflüstert und dein glattrasieres Gesicht gestreichelt. Es ist heutzutage nichts dabei, wenn die Frau den Antrag macht. Das ist sogar wünschenswert, wegen der Emanzipation. Jeder Mann will eine emanzipierte Frau, solange die Emanzipation nicht überhand nimmt. Und da musst du dir bei mir zum Glück keine Sorgen machen, schließlich kann ich kochen und den Mund halten, wenn´s drauf ankommt. Zum Beispiel wenn du die Stirn runzelst und die Fältchen um deine Augenwinkel zu Furchen werden, weil du nach der Arbeit keinen Nerv hast, dich damit zu befassen, was wir am Wochenende machen und ob wir vielleicht später mal aufs Land ziehen wollen oder überhaupt noch mit irgendwas zu befassen. „Kann ich ja verstehen“, sage ich dann, und das stimmt ja auch. Zumindset teilweise. Es ist nicht leicht, auch für dich nicht, das weiß ich doch. Das vergangene Jahr war auch für dich eine Zerreissprobe, aber bald ist es so weit. Dann fangen wir von vorn an. Morgen beginnt unser Vorn.
Nur eine Nacht.
Die Nacht ist länger als ich es von Nächten gewohnt bin und länger als mir gut tut. Bis Mitternacht sitze ich vorm Fernseher und finde das auch ok, weil dieser Abend ja der letzte des alten Lebens ist und somit auch wie das alte Leben verbracht werden darf und soll. Zwischen Mitternacht und vier Uhr früh male ich mir das Nachher aus, es fängt schon morgen an, unser gemeinsames Nachher ... Wir beide auf der Schipiste in Kitzbühl, wo du mir endlich das Schifahren beibringst, wahrscheinlich musst du nach der langen Zeit wieder ganz von vorn anfangen. Wir beide mit glühenden Gesichtern beim Après-Schi, wo wir zu lauter Partymusik auf den Bänken tanzen und uns nicht fragen, was daran lustig ist, sondern uns trotz der schrecklichen Musik wundern, warum wir das so lange nicht getan haben. Wir beide abends in der hoteleigenen Sauna, wo unsere Körper einander wieder finden und es nur um uns geht, nur um uns, nicht um einen Eisprung oder eine einnistungsfreundliche Positionen. Zum Morgengrauen gehen mir die Gedanken aus. Ich setze mich aufs Fensterbrett und schaue zu, wie der Mond in der Helligkeit unsichtbar wird und wundere mich, dass mich der Gedanke an meine morgigen Augenringe kaum erschreckt. Nicht dass ich gern erschrecke, aber irgendwie hätte ich mir das von diesem Nachher erwartet, das doch der Anfang des neuen gemeinsamen Lebens ist. Nach drei Tassen Kaffee fühle ich mich bereit. Auch wenn es eigentlich mehr ein Gedanke ist als ein Gefühl.
Als die Helligkeit den Mond endgültig verschlungen hat, schlüpfe ich zittrig in mein Kleid. Ein reißendes Geräusch. Ich taste an die Stelle zwischen meinen Schulterblättern, die Naht fühlt sich heil an. Ein gutes Zeichen. Schaue auf mein Handy. Die weißen Digitalziffern verschlingen das Vorher. Ja ich will. Deinen Körper, der als Einziger Leben in meine immer kalten Hände bringen kann. Ja ich will. Neben dir einschlafen und beim Aufwachen als erstes deinen Geruch im Gesicht. Ja, ich will. Mit dir in viele Länder reisen und die Welt kennenlernen, die irgendwo im Nachher liegt, und die wir nur noch finden müssen. Ja, ich will. Nach der Arbeit allein zu Hause auf unserem teuren Ledersofa sitzen und warten, dass die Kanzlei dich freigibt. Meine feuchten Hände in deine krallen, wenn wir bei unseren Freunden zum Abendessen sitzen und sie uns eröffnen, dass sie Eltern werden. Mir einen neuen Lebensinhalt suchen, neue Ziele ... So einfach lassen wir uns das Glück nicht wegnehmen, auch nicht vom Schicksal. Wir gehören zusammen, trotz allem. Wir nehmen uns den Neuanfang, der uns zusteht. Wir nehmen das lose Ende in die Hand, an dem das Leben abgerissen ist. Bald ein Jahr. Kaum zu glauben. Vielleicht weil sich die Monate, die ich wartend auf dem Sofa verbracht habe, alle so gleich anfühlen. Die Abende, an denen ich meinen Freundinnen abgesagt habe, weil du der Einzige warst, den ich in meiner Nähe ertragen habe. Aber du hast niemanden in deiner Nähe ertragen, außer deiner Arbeit. Wie oft bin ich aufgewacht, mitten in der Nacht, und hektisch aufgesprungen vor Sorge - wenn ich dich jetzt auch noch verliere ... Wie oft hab ich mich schon zum Hörer greifen sehen, um die Polizei anzurufen. Wie oft hab ich mir ausgemalt, wie du auf dem Heimweg überfallen oder überfahren oder ... Aber jedes Mal, wenn ich mich getraut habe, die Tür zum Flur aufzumachen, standen deine Schuhe ordentlich an der Garderobe, hing die Jacke von deinem Anzug über der Stuhllehne. Jedes Mal bist du in unserem Bett gelegen, ordentlich auf deiner eigenen Seite, unter deiner eigenen Decke und hast geschlafen, oder zumindest so getan als ob.
Früher haben wir nur eine einzige Decke gebraucht, weißt du noch? Irgendwann war uns so heiß, dass sogar die unter unseren Umarmungen auf den Boden geglitten ist, unsere Hände und Körper ineinander geglitten sind. Damals waren wir 17. 17 jahre. zwei teenager. eine klassenfahrt. fünf tequila und zwei bier. zwei hände an meinem körper, und die auch noch doppelt. hundert zungenküsse. das erste mal. drei monate händchenhalten. eine steffi, und alles vorbei. aber was du kannst, kann ich auch: ein peter. ein ralf. ein jason. zwei andis. dazwischen ein zigarettenentzug, drei Ausbildungsjahre, die erste eigene wohnung. dann: ein meeting. ewei augenpaare, ein erkennen. ein gemeinsamer heimweg, der eigentlich gar nicht meiner war. zwei begrüssungszigaretten vor deiner haustür. drei stockwerke, 46 stufen. ein zweites erstes mal.
zwei jahre, eine entscheidung: eine gemeinsame wohnung mit einem zimmer mehr. weitere vierzehn monate. drei Zimmer, zwei Personen. dann: ein stäbchen, zwei striche. ein lächeln auf zwei mündern und eine lange umarmung. 62 tage. ein blutsturz auf dem klo. tausend tränen. und nochmal tausend. und nochmal tausend. sieben ärzte, eine diagnose: keine kinder. es liegt an ihr, nicht an ihm. 4 hände müssen genug sein. minuten, stunden, tage, wochen, monate, ein jahr. dazwischen nicht gezählte tränen, knallende türen, nächte auf dem sofa und milliarden von sternen in einem schwarzen himmel, der auch nicht weiterweiß, wenn´s drauf ankommt. eine gute freundin, ein guter rat: nach vorne schauen! nach vorne. 61 einladungskarten. 9 brautkleider, 3 floristen, 3 probeessen in 4-sternerestaurants, zum schluss sogar ein pfarrer.
Das Kleid ist heil und ein gutes Omen, und ich fröstle unterm kalten Kirchenportal. Die Orgelklänge sind bereit, das Vorher zu verabschieden und auf das Nachher einzustimmen. Meine Hand mangels Vater in Onkel Erichs Armbeuge.
Nochmal ein neues weißes Vorn, auf das wir gemeinsam malen können, auch wenn wir noch nicht wissen, was. Es wird uns schon was einfallen. Auf alle Fälle mit Tinte, keine flüchtigen Skizzen von unserem Leben mehr, wir meinen es ernst, und das sollen ruhig alle wissen. Nur die Fältchen würde ich uns wegretuschieren, damit man uns das Vorher nicht ansieht.
122 Knie auf kalten Holzbänken, weil es vielleicht doch einen Gott gibt, und weil man nach vorn schauen muss. Greta und Johann. Max und Annelie. Mama allein. Bis dass der Tod euch scheidet. Der Tod, sogar hier und jetzt der Tod. In guten wie in schlechten Zeiten. Die schlechten Zeiten haben wir schon hinter uns, ab jetzt bitte nur noch gute. Auch 4 Hände können ein Leben bauen. 4 Hände, und ein paar Überstunden weniger, das hast du mir versprochen.
Das Vorher tickt unter meinen Absätzen, als ich auf dem kalten Marmorboden langsam nach vorn schreite. Da sitzt du, ich sehe dich nur von hinten, aber ich habe recht gehabt: Du siehst großartig aus, und trotzdem ... Wer sind wir in einem Nachher, wo alle Einladungskarten geschrieben und alle Probemenüs schon gegessen sind? Mamas Gesicht sehe ich aus den Augenwinkeln. Sie sitzt in der dritten Reihe ganz innen. Freudentränen, genau wie meine.
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Marion Zechner, geboren in München, Mutter zweier Kinder, arbeitet als Sozialpädagogin und systemische Therapeutin bei einem bayerischen Suchthilfeträger. Neben Schreibwerkstätten (u.a. an der Bundesakademie Wolfenbüttel) absolvierte sie das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur. Kurzgeschichten von ihr erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Mit einem Ausschnitt aus ihrem Romandebüt Bewölkt aber trocken war sie für den Irseer Pegasus nominiert und gewann den österreichischen Literaturpreis Schreiberei.
„Neuanfang“. Von Marion Zechner>
Eine junge Frau in der Nacht vor ihrer Hochzeit, wachgehalten von Erinnerungen an die zurückliegenden Jahre, hin- und her geworfen zwischen Zweifeln, Hoffnung und der Frage: Wie kann ein Neuanfang nach einer schweren Zeit gelingen, ohne von der Last der Erinnerung erdrückt zu werden?
Mit dem folgenden Text beteiligt sich Marion Zechner an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.
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„Bis morgen“, sagst du, als wir uns verabschieden, obwohl du nicht verstehst, wieso wir uns überhaupt verabschieden müssen. „Weil es so gehört“, sage ich, „das steht in allen Foren und Büchern und ist Tradition, mein Schatz! Und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede, schließlich habe ich ein halbes Jahr lang meine komplette Freizeit mit diesen Foren und Büchern verbracht und ...“ Ich hätte noch weitere Argumente gefunden, aber du hast erstaunlich schnell nachgegeben, so wie du in der letzten Zeit immer erstaunlich schnell nachgibst. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir so eng zusammen gewachsen sind und einander auch im Geschmack und in unseren Meinungen angeglichen haben. Wir müssen nicht mehr dauernd aufeinanderkleben, um uns unsere Liebe zu beweisen. Ein Mann, der seinen Beruf liebt und genügend Geld verdient, dass man sich eine Wohnung mit einem Zimmer zu viel leisten kann, und das in München-Schwabing.
„Bis morgen“, sage ich also und drücke mich zum Abschied an deinen kräftigen Körper, den ich so liebe. Ich weiß genau, dass du großartig aussehen wirst in deinem Anzug oder Smoking oder was auch immer du anhaben wirst. So oder so wirst du großartig aussehen. Kaum einer in deinem Alter, der so großartig aussieht wie du. So wenig Bauch und so üppigen Haarwuchs und dazu so trainierte Oberarme, weil du trotz der vielen Arbeit deinen Körper nicht vernachlässigst und zwei Mal in der Woche direkt von der Kanzlei zum Training fährst. Besser selten umarmt und dafür von kräftigen Armen als ... „Bis morgen dann“, sagst du und schiebst mich weg.
Nur eine Nacht. Nur noch eine Nacht.
„Von vorn anfangen“ habe ich geflüstert und dein glattrasieres Gesicht gestreichelt. Es ist heutzutage nichts dabei, wenn die Frau den Antrag macht. Das ist sogar wünschenswert, wegen der Emanzipation. Jeder Mann will eine emanzipierte Frau, solange die Emanzipation nicht überhand nimmt. Und da musst du dir bei mir zum Glück keine Sorgen machen, schließlich kann ich kochen und den Mund halten, wenn´s drauf ankommt. Zum Beispiel wenn du die Stirn runzelst und die Fältchen um deine Augenwinkel zu Furchen werden, weil du nach der Arbeit keinen Nerv hast, dich damit zu befassen, was wir am Wochenende machen und ob wir vielleicht später mal aufs Land ziehen wollen oder überhaupt noch mit irgendwas zu befassen. „Kann ich ja verstehen“, sage ich dann, und das stimmt ja auch. Zumindset teilweise. Es ist nicht leicht, auch für dich nicht, das weiß ich doch. Das vergangene Jahr war auch für dich eine Zerreissprobe, aber bald ist es so weit. Dann fangen wir von vorn an. Morgen beginnt unser Vorn.
Nur eine Nacht.
Die Nacht ist länger als ich es von Nächten gewohnt bin und länger als mir gut tut. Bis Mitternacht sitze ich vorm Fernseher und finde das auch ok, weil dieser Abend ja der letzte des alten Lebens ist und somit auch wie das alte Leben verbracht werden darf und soll. Zwischen Mitternacht und vier Uhr früh male ich mir das Nachher aus, es fängt schon morgen an, unser gemeinsames Nachher ... Wir beide auf der Schipiste in Kitzbühl, wo du mir endlich das Schifahren beibringst, wahrscheinlich musst du nach der langen Zeit wieder ganz von vorn anfangen. Wir beide mit glühenden Gesichtern beim Après-Schi, wo wir zu lauter Partymusik auf den Bänken tanzen und uns nicht fragen, was daran lustig ist, sondern uns trotz der schrecklichen Musik wundern, warum wir das so lange nicht getan haben. Wir beide abends in der hoteleigenen Sauna, wo unsere Körper einander wieder finden und es nur um uns geht, nur um uns, nicht um einen Eisprung oder eine einnistungsfreundliche Positionen. Zum Morgengrauen gehen mir die Gedanken aus. Ich setze mich aufs Fensterbrett und schaue zu, wie der Mond in der Helligkeit unsichtbar wird und wundere mich, dass mich der Gedanke an meine morgigen Augenringe kaum erschreckt. Nicht dass ich gern erschrecke, aber irgendwie hätte ich mir das von diesem Nachher erwartet, das doch der Anfang des neuen gemeinsamen Lebens ist. Nach drei Tassen Kaffee fühle ich mich bereit. Auch wenn es eigentlich mehr ein Gedanke ist als ein Gefühl.
Als die Helligkeit den Mond endgültig verschlungen hat, schlüpfe ich zittrig in mein Kleid. Ein reißendes Geräusch. Ich taste an die Stelle zwischen meinen Schulterblättern, die Naht fühlt sich heil an. Ein gutes Zeichen. Schaue auf mein Handy. Die weißen Digitalziffern verschlingen das Vorher. Ja ich will. Deinen Körper, der als Einziger Leben in meine immer kalten Hände bringen kann. Ja ich will. Neben dir einschlafen und beim Aufwachen als erstes deinen Geruch im Gesicht. Ja, ich will. Mit dir in viele Länder reisen und die Welt kennenlernen, die irgendwo im Nachher liegt, und die wir nur noch finden müssen. Ja, ich will. Nach der Arbeit allein zu Hause auf unserem teuren Ledersofa sitzen und warten, dass die Kanzlei dich freigibt. Meine feuchten Hände in deine krallen, wenn wir bei unseren Freunden zum Abendessen sitzen und sie uns eröffnen, dass sie Eltern werden. Mir einen neuen Lebensinhalt suchen, neue Ziele ... So einfach lassen wir uns das Glück nicht wegnehmen, auch nicht vom Schicksal. Wir gehören zusammen, trotz allem. Wir nehmen uns den Neuanfang, der uns zusteht. Wir nehmen das lose Ende in die Hand, an dem das Leben abgerissen ist. Bald ein Jahr. Kaum zu glauben. Vielleicht weil sich die Monate, die ich wartend auf dem Sofa verbracht habe, alle so gleich anfühlen. Die Abende, an denen ich meinen Freundinnen abgesagt habe, weil du der Einzige warst, den ich in meiner Nähe ertragen habe. Aber du hast niemanden in deiner Nähe ertragen, außer deiner Arbeit. Wie oft bin ich aufgewacht, mitten in der Nacht, und hektisch aufgesprungen vor Sorge - wenn ich dich jetzt auch noch verliere ... Wie oft hab ich mich schon zum Hörer greifen sehen, um die Polizei anzurufen. Wie oft hab ich mir ausgemalt, wie du auf dem Heimweg überfallen oder überfahren oder ... Aber jedes Mal, wenn ich mich getraut habe, die Tür zum Flur aufzumachen, standen deine Schuhe ordentlich an der Garderobe, hing die Jacke von deinem Anzug über der Stuhllehne. Jedes Mal bist du in unserem Bett gelegen, ordentlich auf deiner eigenen Seite, unter deiner eigenen Decke und hast geschlafen, oder zumindest so getan als ob.
Früher haben wir nur eine einzige Decke gebraucht, weißt du noch? Irgendwann war uns so heiß, dass sogar die unter unseren Umarmungen auf den Boden geglitten ist, unsere Hände und Körper ineinander geglitten sind. Damals waren wir 17. 17 jahre. zwei teenager. eine klassenfahrt. fünf tequila und zwei bier. zwei hände an meinem körper, und die auch noch doppelt. hundert zungenküsse. das erste mal. drei monate händchenhalten. eine steffi, und alles vorbei. aber was du kannst, kann ich auch: ein peter. ein ralf. ein jason. zwei andis. dazwischen ein zigarettenentzug, drei Ausbildungsjahre, die erste eigene wohnung. dann: ein meeting. ewei augenpaare, ein erkennen. ein gemeinsamer heimweg, der eigentlich gar nicht meiner war. zwei begrüssungszigaretten vor deiner haustür. drei stockwerke, 46 stufen. ein zweites erstes mal.
zwei jahre, eine entscheidung: eine gemeinsame wohnung mit einem zimmer mehr. weitere vierzehn monate. drei Zimmer, zwei Personen. dann: ein stäbchen, zwei striche. ein lächeln auf zwei mündern und eine lange umarmung. 62 tage. ein blutsturz auf dem klo. tausend tränen. und nochmal tausend. und nochmal tausend. sieben ärzte, eine diagnose: keine kinder. es liegt an ihr, nicht an ihm. 4 hände müssen genug sein. minuten, stunden, tage, wochen, monate, ein jahr. dazwischen nicht gezählte tränen, knallende türen, nächte auf dem sofa und milliarden von sternen in einem schwarzen himmel, der auch nicht weiterweiß, wenn´s drauf ankommt. eine gute freundin, ein guter rat: nach vorne schauen! nach vorne. 61 einladungskarten. 9 brautkleider, 3 floristen, 3 probeessen in 4-sternerestaurants, zum schluss sogar ein pfarrer.
Das Kleid ist heil und ein gutes Omen, und ich fröstle unterm kalten Kirchenportal. Die Orgelklänge sind bereit, das Vorher zu verabschieden und auf das Nachher einzustimmen. Meine Hand mangels Vater in Onkel Erichs Armbeuge.
Nochmal ein neues weißes Vorn, auf das wir gemeinsam malen können, auch wenn wir noch nicht wissen, was. Es wird uns schon was einfallen. Auf alle Fälle mit Tinte, keine flüchtigen Skizzen von unserem Leben mehr, wir meinen es ernst, und das sollen ruhig alle wissen. Nur die Fältchen würde ich uns wegretuschieren, damit man uns das Vorher nicht ansieht.
122 Knie auf kalten Holzbänken, weil es vielleicht doch einen Gott gibt, und weil man nach vorn schauen muss. Greta und Johann. Max und Annelie. Mama allein. Bis dass der Tod euch scheidet. Der Tod, sogar hier und jetzt der Tod. In guten wie in schlechten Zeiten. Die schlechten Zeiten haben wir schon hinter uns, ab jetzt bitte nur noch gute. Auch 4 Hände können ein Leben bauen. 4 Hände, und ein paar Überstunden weniger, das hast du mir versprochen.
Das Vorher tickt unter meinen Absätzen, als ich auf dem kalten Marmorboden langsam nach vorn schreite. Da sitzt du, ich sehe dich nur von hinten, aber ich habe recht gehabt: Du siehst großartig aus, und trotzdem ... Wer sind wir in einem Nachher, wo alle Einladungskarten geschrieben und alle Probemenüs schon gegessen sind? Mamas Gesicht sehe ich aus den Augenwinkeln. Sie sitzt in der dritten Reihe ganz innen. Freudentränen, genau wie meine.
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Marion Zechner, geboren in München, Mutter zweier Kinder, arbeitet als Sozialpädagogin und systemische Therapeutin bei einem bayerischen Suchthilfeträger. Neben Schreibwerkstätten (u.a. an der Bundesakademie Wolfenbüttel) absolvierte sie das Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur. Kurzgeschichten von ihr erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Mit einem Ausschnitt aus ihrem Romandebüt Bewölkt aber trocken war sie für den Irseer Pegasus nominiert und gewann den österreichischen Literaturpreis Schreiberei.