Zum Welttag der Poesie: Gedichte von Juri Zaplin
Anlässlich des Welttags der Poesie präsentiert das Literaturportal die poetischen, weltumspannenden Texte des ukrainischen Autors Juri Zaplin.
Juri Zaplin ist 1972 in Charkiw geboren, wo er bis heute lebt. Der Lyriker und Prosaschriftsteller studierte zunächst an der Fakultät für Hochfrequenztechnik des Luftfahrtinstituts in Charkiw. Er ist Mitbegründer und -herausgeber der Literaturzeitschrift Sojus Pisatelej (2000–2018, zu dt.: „Der Schriftstellerbund“) sowie Autor der Kurzprosa-Sammlung Malenki stschastliwy wetscher (1997, zu dt.: „Kleiner fröhlicher Abend“). Weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften in der Ukraine, Russland, USA und Deutschland. 2017 nahm er an „Eine Brücke aus Papier“ in Charkiw teil. Einige seiner Werke liegen in englischer, deutscher sowie italienischer Übersetzung vor.
Aus dem Russischen von David Drevs.
*
Es gibt Gott, stellt sich heraus. Aber wir sind nicht seine Kinder. Er hat uns adoptiert.
Keine Geschöpfe: entweder von selbst entstanden, oder von jemand anderem gezeugt.
Adoption ist anfechtbar. Wenn wir groß genug sind, werden wir darüber nachdenken.
Einstweilen –
Was immer in der Rundmail des Gashaufens steht.
Oder auf dem Hyperloop-Ticker läuft.
In unserem Hof –
Die Sonne hinterm Aufzughäuschen – mal versteckt sie sich, dann zeigt sie sich wieder.
Stacheliger Sonnenhut am Rand der Bank.
Die Scharlach-Monarde wird schwarz …
Was gehegt und gepflegt wird, blüht auf und verblüht.
Das Weltengebäude vermählt alle mit der Singularität –
Doch das sind Details. Das Wichtigste: Es gibt, wie sich herausstellt, Gott. Wir können entspannen.
Wir sind Blumen, wenn auch in der Notaufnahme.
Ohne Mitgift. Aber die weben wir noch hinein.
Blasen sie wie Blütenstaub hervor, setzen sie frei, wie eine Melodie in den Wind …
***
reden wir doch mal darüber, worüber wir früher schwiegen
nur mit denselben worten
reden wir doch mal darüber, worüber wir früher schwiegen
nur mit denselben worten
äh, nein, geht das überhaupt? mit worten? womit? vielleicht so
bla di bla di bla di bla
okay okay okay
reden wir doch mal darüber, worüber früher nicht wir schwiegen
sondern andere und was wir machten sie schwiegen wir merkten nicht
was sie schwiegen dabei hätten wir merken können dass sie fast nichts hatten womit
sie hätten schweigen können sie hatten ausgeschwiegen wir hatten ausnichtgemerkt los los jetzt
solang schon spät und die dämmerung so ruhig das heißt nur äußerlich
wie unser nichtbemerken und ihr schweigen die dämmerung ist angespannt wir
vorsichtig und alle müde los jetzt dunkeln und dann lichtwerden
los dunkeln und dann lichtwerden
bla di bla di bla
okay okay
los dunkeln und damit lichtwerden
ewig mit luftschlössern wartend auf dunkles lichtes wunder
das gibt es nicht und gab es nicht obwohl es sollte und es sollte nicht sollen und das
bedeutet lichtwerden und dunkeln hoffnung hoffen aber ohne irrtümer
und damit sie wächst aus jemandes anderen glück schade dass man es nicht sieht
bla di bla
okay
septemberluft
septemberluft gebt
auch ihnen
***
In dir, unbekannt,
lebt mein alter Freund.
Zu ihm spreche ich,
und er antwortet mir.
Einsilbig ist er:
Es gibt nicht viel zu sagen.
Wir blicken
mit vergangenem Wohlwollen
durch die beschlagene Leere
der Vorlieben und Verstimmungen.
Und eine Sekunde lang scheint es –
die getroffene Wahl sei nichts wert
(ist sie doch, und wir haben bezahlt und werden zahlen).
Und noch eine Minute lang –
dass wir einander begreifen,
dass nicht uns selbst, sondern einen anderen,
dass wir …
Begebenheit am Rand
die welt ist nicht schön aber reizvoll
sagte der alte
der am rand
des sandkastens saß
neben sich eine blechschüssel mit zement
ein bisschen zu wenig
der alte und sein geselle montierten ein klosett im siebten geschoss
was machen sie da
fragte die reizvolle dame
das ist doch unser sand
für unsere kinder
nicht für alte leute
außerdem machen die hunde da rein
ich kannte einen
ein prachtexemplar
ein klosett
sagte der alte
wir montieren ein klosett
und vielleicht
ist die welt ja gar nicht
Variation eines Vogels
für Je. K. und P. G.
Die Menschen verabschieden sich von Feind zu Feind
Nehmen eilig im Liegewagen Platz
Hätten keine Fremden heiraten sollen
Keine Entfernten ehelichen
Züge über Grenzen der Grenzen
Nähen den Raum und stechen schmerzhaft
Körner in Taschen für die Erde und die Alten
Hätten noch weiter wegfahren sollen
Und den Heimweg vergessen
Züge lassen Herzen schlagen
Körner in Taschen für die Erde und die Ahnen
Für alte Rassen und künftige Klassen
Hätten noch höher fliegen sollen
Lauter singen, alle aufpicken außer einem
Die Lebenden sagen ade. Der Sonnenblumenkern fährt
Ich wusste, wen ich nicht lieben darf
Verzaubert vom Bahnhofsorchester
Als ich es wie aus der Ferne von oben betrachte
Ist sie zu hören, die Musik, obwohl das Orchester fort ist
Hörend gleichsam aus der Zukunft:
Sehend gleichsam aus der Vergangenheit:
Und diese Tütchen aus Notenblättern
Gib mir ein kleines mit den nicht Gerösteten
Der Bahnhof ist womöglich schon eingeschossen
Der Leutnant ist ein fähiger Mann
Die Menschen verabschieden sich, ziehen sich was Sauberes an, setzen sich, legen sich
27.6.2016, Tschernowzy – Nowosseliza – Larga
***
gehen wir spazieren mit dem fotogerät
privatisieren wir ein stück realität
sie verliert dadurch nichts, nützt keiner person
weder sie noch wir tragen schaden davon
gehen wir verwundert durchs reale damit
irgendwann einmal wer sich verwundert denkt
hier ein richter verprügelt, dort ein dichter erhängt
teilen hätten wir sollen, werden teilen gewiss
***
Der Müllberg voll stinkender Reifen schwelt
Doch am Saum – auf seiner Kuppe
Lodert das Brennholz beseelt
Kocht einer aus Hundekadavern Suppe
Frühstück, Mittag und Vesper
Im besten Falle
Und im schlechtesten
Verreck ich wie ein Hund
in der Hölle
Gefangener des Fleisches
Und wenn ich
den Stern und den Mond betrachte
Wundersam am Morgenhimmel sich haltend
Will ich mal aufheulen, mal aufstreben
Baldmöglichst auch nur als Geist oder Rauch
Bäume sind farblos
Reifen sündig
Hunde schmackhaft
Gesetze unersättlich
Und das Leben dehnt sich aus, sträubt sich im Wind,
über viele ha
Aber bald ist Januar
bald Kälte
bald Schnee
***
Ein Junge zieht ein Mädchen im Schlitten
Das Mädchen hat dünne Beine, die Mütze ist ihr zu groß
Ihre Stimme klingt dreißig Winter zuvor
Jemandes Abdrücke im Schnee: eines großen Menschen (mit ausgestreckten Armen) und eines etwas kleineren
Und da zittert ein Mann mit angespanntem Gesicht
Und da hat jemand einen Dackel im Mantel getragen
Wir dachten, der Garten wächst durch uns hindurch, doch sind wir durch den Garten hindurchgewachsen
***
»Erfolgreiches Leben, kaum folgenreich,
halt irgend so ein Leben«,
scheint’s einem, eher flach und seicht,
ein kurzer Gedanke eben.
Wer so etwas aufzieht, woher soll ich wittern,
wer von uns als Mensch gebaut.
Die Zeit, sie erinnert den Raum (oder knittert?):
dunkler Himmel und Schnee, so grau.
Eine Stadt aus alten Träumen ist dies
und die Vorstadt im Albtraum droht
Die Kiefer neben dem Laden steht schief,
Die kleine Tamara holt Brot
und singt:
»Erfolgreiches Leben, kaum fröhlich jedoch, halt
irgendwie viel zu schön
bald kommt der Frühling, bald …«
Frühling
In Saltowka Elstern fliegen
doch kaum in Holodna Gora
kaum grünt der Rasen wieder
ist der Huflattich wieder da
riesige Wolken aus Weiden
die Birken rosa blühen
kaum Wölkchen am Himmel treiben
der Schwanz der Elster ist grün
und die Flügel schillernd blau
ein Papagei unsrer Regionen
zum Verkauf zwischen Pfützen, im Staub
liegen – Gruß aus den Tropen – Bananen
***
Zwischen Pappeln und Linden
auf der Fahrbahn gehen.
Weil auf dem Gehweg Sonne ist
und überall Himmel.
Ein Anglergeschäft.
Das Büro einer kurdischen NGO.
Ein rumpelnder Traktor
in den Streifen und Stollen der spanischen Auswahl.
Geradezu Kurort-Hitze
über dem Mikrorayon der Megacity.
(Sind wir wirklich so klein,
wie wir viele sind?)
Melonen für zwei fünfzig.
Das Telefon nimmt den Anruf nicht entgegen.
Ein »Horilka«-Laden.
Tee- und Kaffeewerbung.
Am Schalter der erledigten Bank
lebt, wenn auch alternd, die Angestellte.
Tatsächlich auch dieser Tag?
(Unabwendbar, aber darum geht‘s jetzt nicht.)
***
Nein, das Patronym ist nicht ausgestorben, und selbst wenn es
einst entschläft, so wird es süß träumen,
süß und malerisch: Künstler werden nicht versäumen
es abzubilden, sei’s in einer Ecke,
sei’s im Mittel- oder Hintergrund großer Panoramen
unseres künftigen Lebens, und die alternden Namen der Väter,
wie Gutsbesitzer aus alter Zeit,
werden mit goldenem Schlummer anwehen die nun verkürzte
ostslawische Welt (in Breite oder Höhe?) und die zu ihr gestoßenen Phalangen.
»Wir haben Wurzeln ausgerissen, um schneller gehen zu können!«,
schreibt komisch ein Publizist des konservativen Lagers,
einer der Letzten, deren Familie heimische Konservierung betreibt
und sich sonntags bis zur Verblödung im Gemüsegarten verlustiert:
Gläser mit Eingesalzenem, Kürbisse auf hohen Schränken, weiche Patisson-Ritzel,
behaglich die verstaubte Lokalzeit zermahlend.
Doch selbst ein, zwei Jahrhunderte später wird in dieser ununterscheidbaren,
bereits gewesenen Pause zwischen Vor- und Nachnamen
noch immer etwas phantomartig schmerzen (das Herz, errät der Leser des Gartenkürbis-Pürees, da wohnte auch das Herz!
das seither endgültig ins Mailbox-Passwort umgezogen ist,
in die Prostata und die Hosen).
***
Die Schuppen deiner Meinungen,
die Schuppen meiner Meinungen
ineinander verhakt
stören uns beim Schwimmen.
In verschiedene Richtungen:
du zur Quelle, ich zur Mündung.
Wir stehen quer zum Strom.
Angespannt
unsere Körper.
Unter Treibholz.
Unsere Ansichten
ununterscheidbar.
Was bringen Ansichten im Finstern?
Symbole, nicht die, die sie lesen,
doch uns liest niemand.
Das Schuppenkleid knirscht
vor Glück.
Von gaumen zu gaumen
es nervt mich, wenn was passiert
zum beispiel viele menschen sterben
ist der tag verdorben
ist es mit dem spaß vorbei
der schlaue witz bleibt liegen und wird hart
doch kannst du dich in der sonne baden
kannst im kellerlokal essen gehen
kannst sagen, du bleibst du auch für sie
indem du was einfaches machst, das euch verbindet
kannst wieder aufstehen, wenn du auf der straße stolperst
es nervt mich, wenn in meinem leben nichts passiert
***
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Wie findest du das
Ich gar nicht
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Wir finden das
Finden wir
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Und reiß dich zusammen
Reiß dich zusammen und denk nach
Komm auf den Platz
Wir kommen dort auch zusammen
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Reiß dich los
Entspann dich und genieß es
Genieß
Genieß
Entspann dich
Und reiß dich los von der Erde
Entspann dich und genieß es
Dich über deine Zweifel, deine Träume und deinen Körper zu erheben
Entspann dich und genieß es
Über den Platz hinwegzufliegen vorbei an Lichtboxen, Flaggen und Transparenten
Entspann dich und genieß es
Du gehörst zu uns Wir zusammen Alles ist eins
Entspann dich und genieß es
Auf den Boden herabzusinken
***
Zum Großen Attraktor driftend,
zum Shapley-Superhaufen schwimmend
mit sechshundert Kilometern pro Sekunde,
schauten wir Serien (irgendwas mussten wir ja tun),
Es half nichts. Nur eine Zeitlang, aber letztlich nicht.
Lasen Bücher. Mit Mühe, in fremden Sprachen,
zwei oder drei, verteidigten den Nebel unserer Ansichten
und das Wölkchen unseres Geldes, gingen weder in die Sauna,
noch ins Fitness-Studio (kamen irgendwie nicht dazu),
liebten es aber, lange spazieren zu gehen und zu scherzen.
Zum Großen Attraktor tanzend,
zum Shapley-Superhaufen hüpfend …
Weißt du noch, Kiefernhaine? Glück? Nachtigallen?
Weißt du noch, die anderen Wörter, die ich zu vergessen beginne
und erst nach einer Pause blökend erinnere (»Ungesagtes«? »Menschwerdung«? »Knacks«?),
und diese Luft, eher selten klar, aber dafür umso ehrlicher?
Zum Großen Attraktor pfeifend,
zum Shapley-Superhaufen verstummend …
***
Hier ist niemand.
Hier isst niemand.
Hier ist niemand zu essen.
Hier ist niemand.
Wo niemand ist,
da niemand isst.
Wo niemand, ist
niemand zu essen, nein.
Nur Musik der Sphären,
Traurig karierter Kattun.
Nur Musik der Sphären,
Dünung der Stille.
Nur Knistern der Stille.
Schwaches Klopfen der Stille.
Leises Knacksen der Stille.
Dann endlich bricht die Stille.
Doch wer hat mit der Stille geknistert,
wenn hier niemand ist?
Wer hat die Stille gebrochen,
als hier niemand war?
Wer? Den finden und verspeisen wir.
Ihr? Euch finden und verspeisen wir.
Oh, ich war’s, aus Versehen.
Entschuldigung, kommt nicht mehr vor.
Verzeihung, wir sind nicht mehr da.
Adieu, wir sind schon weg.
Jetzt ist hier niemand für wen zu essen.
Nur Musik.
(Jemand schmatzt.)
Nur Musik.
***
Hinter der Wand schläft ein Mensch.
Der Mensch schnarcht leise.
Der Mensch ist hier, um auszuspannen.
Der Mensch spannt sich aus.
Hinter einer dünnen Sperrholzwand,
von außen mit Leisten verschalt.
Fassadenseitig ist der Mensch abgedichtet
mit einer Schicht Mineralwolle.
Hinter der Wand schläft ein Mensch.
Er hat Mineralwasser getrunken
und vieles andere noch,
und atmet leise pfeifend.
Und hinter der Wand schläft ein Mensch nicht.
Er ist hier, um müde zu werden, er schreibt
das Gedicht »Über den Menschen hinter der Wand«.
Der Mensch ist fassadenseitig verkleidet
mit ausgeatmeten Sekunden
und eingehenden Nachrichten.
Hinter der Wand schläft ein Mensch.
Hat sich einen Sommertag gemietet.
Er altert, verfällt, geht fort …
***
Wenn die Apokalypse anbricht,
werden in der Stadt Smela
nicht Engel die Trompete spielen,
sondern mein Onkel.
In den Fünfzigern
spielte er dort bereits im Orchester.
Er nahm an Fackelzügen teil
(wenn die Apokalypse kommt, veranstalten sie vielleicht noch einen).
War Kommunist,
erforschte den Magnetismus,
hielt sich Bienen
und einen kleinen Teil der Welt in seinen Händen.
Dann ließ er los.
Und jetzt
manchmal
kann man in der Stadt Smela
morgens
eine Trompete hören –
fast aus dem Nichts,
und erstaunt den Kopf schütteln.
Oder in einer kühlen Nacht
am Ufer
das Flackern warmer Lichter sehen.
Treppenmarsch der Kommata
Alles begann
im Kristallisationspunkt
Nach einigen Mikrosekunden
reifte dort etwas heran, so ähnlich wie ein Komma
Das Komma wuchs
und verwandelte sich in einen Strich, vielleicht auch in ein l
Von dem sich seinerseits ein Punkt trennte
(und ein i bildete, vielleicht auch ein Ausrufezeichen)
Dieser Punkt entwickelte sich erneut zu einem Komma
und so weiter
Vor unseren, der erstaunten Forscher, Augen
erhob sich eine Reihe vertikaler Gedankenstriche
Wie ein Schrei oder ein Stöhnen oder ein Heulen, hinaufstrebend
Oder ein Zetern
Oder ein Marsch
Ein Treppenaufgang
(Und da sage einer
in unserer Gesellschaft gebe es keine sozialen Fahrstuhleffekte)
Die punktierte Linie wand sich immer höher
An ihrem Ende war kein Pfeil
Da war wieder ein Komma
Dichtung
ich bin klug und sensibel
so kann’s gehen
hab an mir und der welt vieles bemerkt
so kann’s gehen
und euch davon erzählt
wie’s eben ging
jetzt geht‘s schon wieder
(geht doch!)
oder nicht
(ach geh)
Zum Welttag der Poesie: Gedichte von Juri Zaplin>
Anlässlich des Welttags der Poesie präsentiert das Literaturportal die poetischen, weltumspannenden Texte des ukrainischen Autors Juri Zaplin.
Juri Zaplin ist 1972 in Charkiw geboren, wo er bis heute lebt. Der Lyriker und Prosaschriftsteller studierte zunächst an der Fakultät für Hochfrequenztechnik des Luftfahrtinstituts in Charkiw. Er ist Mitbegründer und -herausgeber der Literaturzeitschrift Sojus Pisatelej (2000–2018, zu dt.: „Der Schriftstellerbund“) sowie Autor der Kurzprosa-Sammlung Malenki stschastliwy wetscher (1997, zu dt.: „Kleiner fröhlicher Abend“). Weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften in der Ukraine, Russland, USA und Deutschland. 2017 nahm er an „Eine Brücke aus Papier“ in Charkiw teil. Einige seiner Werke liegen in englischer, deutscher sowie italienischer Übersetzung vor.
Aus dem Russischen von David Drevs.
*
Es gibt Gott, stellt sich heraus. Aber wir sind nicht seine Kinder. Er hat uns adoptiert.
Keine Geschöpfe: entweder von selbst entstanden, oder von jemand anderem gezeugt.
Adoption ist anfechtbar. Wenn wir groß genug sind, werden wir darüber nachdenken.
Einstweilen –
Was immer in der Rundmail des Gashaufens steht.
Oder auf dem Hyperloop-Ticker läuft.
In unserem Hof –
Die Sonne hinterm Aufzughäuschen – mal versteckt sie sich, dann zeigt sie sich wieder.
Stacheliger Sonnenhut am Rand der Bank.
Die Scharlach-Monarde wird schwarz …
Was gehegt und gepflegt wird, blüht auf und verblüht.
Das Weltengebäude vermählt alle mit der Singularität –
Doch das sind Details. Das Wichtigste: Es gibt, wie sich herausstellt, Gott. Wir können entspannen.
Wir sind Blumen, wenn auch in der Notaufnahme.
Ohne Mitgift. Aber die weben wir noch hinein.
Blasen sie wie Blütenstaub hervor, setzen sie frei, wie eine Melodie in den Wind …
***
reden wir doch mal darüber, worüber wir früher schwiegen
nur mit denselben worten
reden wir doch mal darüber, worüber wir früher schwiegen
nur mit denselben worten
äh, nein, geht das überhaupt? mit worten? womit? vielleicht so
bla di bla di bla di bla
okay okay okay
reden wir doch mal darüber, worüber früher nicht wir schwiegen
sondern andere und was wir machten sie schwiegen wir merkten nicht
was sie schwiegen dabei hätten wir merken können dass sie fast nichts hatten womit
sie hätten schweigen können sie hatten ausgeschwiegen wir hatten ausnichtgemerkt los los jetzt
solang schon spät und die dämmerung so ruhig das heißt nur äußerlich
wie unser nichtbemerken und ihr schweigen die dämmerung ist angespannt wir
vorsichtig und alle müde los jetzt dunkeln und dann lichtwerden
los dunkeln und dann lichtwerden
bla di bla di bla
okay okay
los dunkeln und damit lichtwerden
ewig mit luftschlössern wartend auf dunkles lichtes wunder
das gibt es nicht und gab es nicht obwohl es sollte und es sollte nicht sollen und das
bedeutet lichtwerden und dunkeln hoffnung hoffen aber ohne irrtümer
und damit sie wächst aus jemandes anderen glück schade dass man es nicht sieht
bla di bla
okay
septemberluft
septemberluft gebt
auch ihnen
***
In dir, unbekannt,
lebt mein alter Freund.
Zu ihm spreche ich,
und er antwortet mir.
Einsilbig ist er:
Es gibt nicht viel zu sagen.
Wir blicken
mit vergangenem Wohlwollen
durch die beschlagene Leere
der Vorlieben und Verstimmungen.
Und eine Sekunde lang scheint es –
die getroffene Wahl sei nichts wert
(ist sie doch, und wir haben bezahlt und werden zahlen).
Und noch eine Minute lang –
dass wir einander begreifen,
dass nicht uns selbst, sondern einen anderen,
dass wir …
Begebenheit am Rand
die welt ist nicht schön aber reizvoll
sagte der alte
der am rand
des sandkastens saß
neben sich eine blechschüssel mit zement
ein bisschen zu wenig
der alte und sein geselle montierten ein klosett im siebten geschoss
was machen sie da
fragte die reizvolle dame
das ist doch unser sand
für unsere kinder
nicht für alte leute
außerdem machen die hunde da rein
ich kannte einen
ein prachtexemplar
ein klosett
sagte der alte
wir montieren ein klosett
und vielleicht
ist die welt ja gar nicht
Variation eines Vogels
für Je. K. und P. G.
Die Menschen verabschieden sich von Feind zu Feind
Nehmen eilig im Liegewagen Platz
Hätten keine Fremden heiraten sollen
Keine Entfernten ehelichen
Züge über Grenzen der Grenzen
Nähen den Raum und stechen schmerzhaft
Körner in Taschen für die Erde und die Alten
Hätten noch weiter wegfahren sollen
Und den Heimweg vergessen
Züge lassen Herzen schlagen
Körner in Taschen für die Erde und die Ahnen
Für alte Rassen und künftige Klassen
Hätten noch höher fliegen sollen
Lauter singen, alle aufpicken außer einem
Die Lebenden sagen ade. Der Sonnenblumenkern fährt
Ich wusste, wen ich nicht lieben darf
Verzaubert vom Bahnhofsorchester
Als ich es wie aus der Ferne von oben betrachte
Ist sie zu hören, die Musik, obwohl das Orchester fort ist
Hörend gleichsam aus der Zukunft:
Sehend gleichsam aus der Vergangenheit:
Und diese Tütchen aus Notenblättern
Gib mir ein kleines mit den nicht Gerösteten
Der Bahnhof ist womöglich schon eingeschossen
Der Leutnant ist ein fähiger Mann
Die Menschen verabschieden sich, ziehen sich was Sauberes an, setzen sich, legen sich
27.6.2016, Tschernowzy – Nowosseliza – Larga
***
gehen wir spazieren mit dem fotogerät
privatisieren wir ein stück realität
sie verliert dadurch nichts, nützt keiner person
weder sie noch wir tragen schaden davon
gehen wir verwundert durchs reale damit
irgendwann einmal wer sich verwundert denkt
hier ein richter verprügelt, dort ein dichter erhängt
teilen hätten wir sollen, werden teilen gewiss
***
Der Müllberg voll stinkender Reifen schwelt
Doch am Saum – auf seiner Kuppe
Lodert das Brennholz beseelt
Kocht einer aus Hundekadavern Suppe
Frühstück, Mittag und Vesper
Im besten Falle
Und im schlechtesten
Verreck ich wie ein Hund
in der Hölle
Gefangener des Fleisches
Und wenn ich
den Stern und den Mond betrachte
Wundersam am Morgenhimmel sich haltend
Will ich mal aufheulen, mal aufstreben
Baldmöglichst auch nur als Geist oder Rauch
Bäume sind farblos
Reifen sündig
Hunde schmackhaft
Gesetze unersättlich
Und das Leben dehnt sich aus, sträubt sich im Wind,
über viele ha
Aber bald ist Januar
bald Kälte
bald Schnee
***
Ein Junge zieht ein Mädchen im Schlitten
Das Mädchen hat dünne Beine, die Mütze ist ihr zu groß
Ihre Stimme klingt dreißig Winter zuvor
Jemandes Abdrücke im Schnee: eines großen Menschen (mit ausgestreckten Armen) und eines etwas kleineren
Und da zittert ein Mann mit angespanntem Gesicht
Und da hat jemand einen Dackel im Mantel getragen
Wir dachten, der Garten wächst durch uns hindurch, doch sind wir durch den Garten hindurchgewachsen
***
»Erfolgreiches Leben, kaum folgenreich,
halt irgend so ein Leben«,
scheint’s einem, eher flach und seicht,
ein kurzer Gedanke eben.
Wer so etwas aufzieht, woher soll ich wittern,
wer von uns als Mensch gebaut.
Die Zeit, sie erinnert den Raum (oder knittert?):
dunkler Himmel und Schnee, so grau.
Eine Stadt aus alten Träumen ist dies
und die Vorstadt im Albtraum droht
Die Kiefer neben dem Laden steht schief,
Die kleine Tamara holt Brot
und singt:
»Erfolgreiches Leben, kaum fröhlich jedoch, halt
irgendwie viel zu schön
bald kommt der Frühling, bald …«
Frühling
In Saltowka Elstern fliegen
doch kaum in Holodna Gora
kaum grünt der Rasen wieder
ist der Huflattich wieder da
riesige Wolken aus Weiden
die Birken rosa blühen
kaum Wölkchen am Himmel treiben
der Schwanz der Elster ist grün
und die Flügel schillernd blau
ein Papagei unsrer Regionen
zum Verkauf zwischen Pfützen, im Staub
liegen – Gruß aus den Tropen – Bananen
***
Zwischen Pappeln und Linden
auf der Fahrbahn gehen.
Weil auf dem Gehweg Sonne ist
und überall Himmel.
Ein Anglergeschäft.
Das Büro einer kurdischen NGO.
Ein rumpelnder Traktor
in den Streifen und Stollen der spanischen Auswahl.
Geradezu Kurort-Hitze
über dem Mikrorayon der Megacity.
(Sind wir wirklich so klein,
wie wir viele sind?)
Melonen für zwei fünfzig.
Das Telefon nimmt den Anruf nicht entgegen.
Ein »Horilka«-Laden.
Tee- und Kaffeewerbung.
Am Schalter der erledigten Bank
lebt, wenn auch alternd, die Angestellte.
Tatsächlich auch dieser Tag?
(Unabwendbar, aber darum geht‘s jetzt nicht.)
***
Nein, das Patronym ist nicht ausgestorben, und selbst wenn es
einst entschläft, so wird es süß träumen,
süß und malerisch: Künstler werden nicht versäumen
es abzubilden, sei’s in einer Ecke,
sei’s im Mittel- oder Hintergrund großer Panoramen
unseres künftigen Lebens, und die alternden Namen der Väter,
wie Gutsbesitzer aus alter Zeit,
werden mit goldenem Schlummer anwehen die nun verkürzte
ostslawische Welt (in Breite oder Höhe?) und die zu ihr gestoßenen Phalangen.
»Wir haben Wurzeln ausgerissen, um schneller gehen zu können!«,
schreibt komisch ein Publizist des konservativen Lagers,
einer der Letzten, deren Familie heimische Konservierung betreibt
und sich sonntags bis zur Verblödung im Gemüsegarten verlustiert:
Gläser mit Eingesalzenem, Kürbisse auf hohen Schränken, weiche Patisson-Ritzel,
behaglich die verstaubte Lokalzeit zermahlend.
Doch selbst ein, zwei Jahrhunderte später wird in dieser ununterscheidbaren,
bereits gewesenen Pause zwischen Vor- und Nachnamen
noch immer etwas phantomartig schmerzen (das Herz, errät der Leser des Gartenkürbis-Pürees, da wohnte auch das Herz!
das seither endgültig ins Mailbox-Passwort umgezogen ist,
in die Prostata und die Hosen).
***
Die Schuppen deiner Meinungen,
die Schuppen meiner Meinungen
ineinander verhakt
stören uns beim Schwimmen.
In verschiedene Richtungen:
du zur Quelle, ich zur Mündung.
Wir stehen quer zum Strom.
Angespannt
unsere Körper.
Unter Treibholz.
Unsere Ansichten
ununterscheidbar.
Was bringen Ansichten im Finstern?
Symbole, nicht die, die sie lesen,
doch uns liest niemand.
Das Schuppenkleid knirscht
vor Glück.
Von gaumen zu gaumen
es nervt mich, wenn was passiert
zum beispiel viele menschen sterben
ist der tag verdorben
ist es mit dem spaß vorbei
der schlaue witz bleibt liegen und wird hart
doch kannst du dich in der sonne baden
kannst im kellerlokal essen gehen
kannst sagen, du bleibst du auch für sie
indem du was einfaches machst, das euch verbindet
kannst wieder aufstehen, wenn du auf der straße stolperst
es nervt mich, wenn in meinem leben nichts passiert
***
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Wie findest du das
Ich gar nicht
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Wir finden das
Finden wir
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Und reiß dich zusammen
Reiß dich zusammen und denk nach
Komm auf den Platz
Wir kommen dort auch zusammen
Entspann dich und genieß es
Entspann dich und genieß
Entspann dich
Reiß dich los
Entspann dich und genieß es
Genieß
Genieß
Entspann dich
Und reiß dich los von der Erde
Entspann dich und genieß es
Dich über deine Zweifel, deine Träume und deinen Körper zu erheben
Entspann dich und genieß es
Über den Platz hinwegzufliegen vorbei an Lichtboxen, Flaggen und Transparenten
Entspann dich und genieß es
Du gehörst zu uns Wir zusammen Alles ist eins
Entspann dich und genieß es
Auf den Boden herabzusinken
***
Zum Großen Attraktor driftend,
zum Shapley-Superhaufen schwimmend
mit sechshundert Kilometern pro Sekunde,
schauten wir Serien (irgendwas mussten wir ja tun),
Es half nichts. Nur eine Zeitlang, aber letztlich nicht.
Lasen Bücher. Mit Mühe, in fremden Sprachen,
zwei oder drei, verteidigten den Nebel unserer Ansichten
und das Wölkchen unseres Geldes, gingen weder in die Sauna,
noch ins Fitness-Studio (kamen irgendwie nicht dazu),
liebten es aber, lange spazieren zu gehen und zu scherzen.
Zum Großen Attraktor tanzend,
zum Shapley-Superhaufen hüpfend …
Weißt du noch, Kiefernhaine? Glück? Nachtigallen?
Weißt du noch, die anderen Wörter, die ich zu vergessen beginne
und erst nach einer Pause blökend erinnere (»Ungesagtes«? »Menschwerdung«? »Knacks«?),
und diese Luft, eher selten klar, aber dafür umso ehrlicher?
Zum Großen Attraktor pfeifend,
zum Shapley-Superhaufen verstummend …
***
Hier ist niemand.
Hier isst niemand.
Hier ist niemand zu essen.
Hier ist niemand.
Wo niemand ist,
da niemand isst.
Wo niemand, ist
niemand zu essen, nein.
Nur Musik der Sphären,
Traurig karierter Kattun.
Nur Musik der Sphären,
Dünung der Stille.
Nur Knistern der Stille.
Schwaches Klopfen der Stille.
Leises Knacksen der Stille.
Dann endlich bricht die Stille.
Doch wer hat mit der Stille geknistert,
wenn hier niemand ist?
Wer hat die Stille gebrochen,
als hier niemand war?
Wer? Den finden und verspeisen wir.
Ihr? Euch finden und verspeisen wir.
Oh, ich war’s, aus Versehen.
Entschuldigung, kommt nicht mehr vor.
Verzeihung, wir sind nicht mehr da.
Adieu, wir sind schon weg.
Jetzt ist hier niemand für wen zu essen.
Nur Musik.
(Jemand schmatzt.)
Nur Musik.
***
Hinter der Wand schläft ein Mensch.
Der Mensch schnarcht leise.
Der Mensch ist hier, um auszuspannen.
Der Mensch spannt sich aus.
Hinter einer dünnen Sperrholzwand,
von außen mit Leisten verschalt.
Fassadenseitig ist der Mensch abgedichtet
mit einer Schicht Mineralwolle.
Hinter der Wand schläft ein Mensch.
Er hat Mineralwasser getrunken
und vieles andere noch,
und atmet leise pfeifend.
Und hinter der Wand schläft ein Mensch nicht.
Er ist hier, um müde zu werden, er schreibt
das Gedicht »Über den Menschen hinter der Wand«.
Der Mensch ist fassadenseitig verkleidet
mit ausgeatmeten Sekunden
und eingehenden Nachrichten.
Hinter der Wand schläft ein Mensch.
Hat sich einen Sommertag gemietet.
Er altert, verfällt, geht fort …
***
Wenn die Apokalypse anbricht,
werden in der Stadt Smela
nicht Engel die Trompete spielen,
sondern mein Onkel.
In den Fünfzigern
spielte er dort bereits im Orchester.
Er nahm an Fackelzügen teil
(wenn die Apokalypse kommt, veranstalten sie vielleicht noch einen).
War Kommunist,
erforschte den Magnetismus,
hielt sich Bienen
und einen kleinen Teil der Welt in seinen Händen.
Dann ließ er los.
Und jetzt
manchmal
kann man in der Stadt Smela
morgens
eine Trompete hören –
fast aus dem Nichts,
und erstaunt den Kopf schütteln.
Oder in einer kühlen Nacht
am Ufer
das Flackern warmer Lichter sehen.
Treppenmarsch der Kommata
Alles begann
im Kristallisationspunkt
Nach einigen Mikrosekunden
reifte dort etwas heran, so ähnlich wie ein Komma
Das Komma wuchs
und verwandelte sich in einen Strich, vielleicht auch in ein l
Von dem sich seinerseits ein Punkt trennte
(und ein i bildete, vielleicht auch ein Ausrufezeichen)
Dieser Punkt entwickelte sich erneut zu einem Komma
und so weiter
Vor unseren, der erstaunten Forscher, Augen
erhob sich eine Reihe vertikaler Gedankenstriche
Wie ein Schrei oder ein Stöhnen oder ein Heulen, hinaufstrebend
Oder ein Zetern
Oder ein Marsch
Ein Treppenaufgang
(Und da sage einer
in unserer Gesellschaft gebe es keine sozialen Fahrstuhleffekte)
Die punktierte Linie wand sich immer höher
An ihrem Ende war kein Pfeil
Da war wieder ein Komma
Dichtung
ich bin klug und sensibel
so kann’s gehen
hab an mir und der welt vieles bemerkt
so kann’s gehen
und euch davon erzählt
wie’s eben ging
jetzt geht‘s schon wieder
(geht doch!)
oder nicht
(ach geh)