Hanna Schygulla liest Kerstin Spechts „Marieluise. Ein Bericht“
„Eine Enkelin der Fleißer, diese Kerstin Specht“ schrieb die FAZ. Die Enkelin hat ihre Vorfahrin in einem großen Monodrama gewürdigt. Marieluise. Ein Bericht wurde am 22. Februar 2024 anlässlich des 50. Todestages von Marieluise Fleißer am Münchner Residenztheater in einer szenischen Lesung mit Hanna Schygulla wiederaufgeführt. Ein Bild des Abends gibt Ursula Wiest.
*
Die Bühnenautorin Kerstin Specht, deren vielbeachtetes Schreiben seit 1988 um das Scheitern bäuerlicher Lebensentwürfe und das erratische Agieren dysfunktionaler Familien in psychisch entwurzelten Dorfgemeinschaften, an grenznahen Nicht-Orten und Absiedlungen ihrer Heimatregion kreist, ist eine zierliche Person mit heller Haut und lockigem, fast pumucklrot leuchtendem Haar.
Etta Scollo, Weltmusikerin und Poetin mit sizilianischen Wurzeln hüllt ihren schmalen Körper gern in arabeske, erdfarbige Gewänder und trägt Stirnbänder und Ohrhänger, die die hohen Wangenknochen ihrer aparten Gesichtszüge betonen.
Und Hanna Schygulla ist natürlich Hanna Schygulla. Die Schauspiel-Ikone. Das Faszinosum. Die Kultfigur, der es stets aufs Neue gelang, sich zu wandeln: vom ausgegrenzten oberschlesischen Flüchtlingsmädchen zur unperfekt gestylten Münchner Vorstadt-Sirene, von Fassbinders somnambuler Darstellerinnen-Puppe zur weit über ihn hinauswachsenden Wunschbesetzung namhafter europäischer Regisseure, von der bewunderten Interpretin deutscher Balladen und französischer Chansons zur stillen Unterstützerin einer Einrichtung für Kinder mit Vertreibungs- und Migrationshintergrund, wie sie selbst es einst war. Dass sie sich in der Rolle der Mutter von George Tabori während der Uraufführung von My Mother’s Courage auf dem Bretterboden des damaligen Werkraums der Münchner Kammerspiele in simulierten Geburtswehen wand, ist lange, wirklich sehr lange her. Und doch hat ihr Publikum von damals sie nie vergessen.
Am 22.2.2024 ist der Zuschauerraum des Residenztheaters gegen 20 Uhr jedenfalls bis auf den letzten Platz besetzt, als die zur sibyllinisch lächelnden Silberlöwin gereifte Diva am Bühnenlesetisch Platz nimmt. Gehüllt in violette Broderie-Schals. Mit schwarzen Bändern ums wallende Haar. Und sich mit Specht und Scollo zu einer séanceartigen Würdigung des eigentlichen weiblichen Kraftzentrums jenes Abends verbindet: der bayerischen Literatinnen-Persona Marieluise Fleißer, deren Versterben an ihrer Geburtsstätte, dem sie prägenden, quälenden und doch nie loslassenden Ingolstadt, sich am 2.2.2024 zum fünfzigsten Mal gejährt hat. Und deren krisenhafte, von psychischen Zusammenbrüchen und männlichen Interventionen begleitete Individuation als schreibende Frau von Kerstin Specht bereits 2021 in dem fiktiven Erinnerungsmonolog Marieluise. Ein Bericht literarisiert worden ist.
Dass die Tochter des oberschlesischen Holzhändlers Josef Schygulla mit der Tochter des Ingolstädter Zeugschmieds und Eisenwarenhändlers Heinrich Fleißer in nahezu seelenschwesterliche Beziehung treten kann, dass Hanna auf der Bühne diejenige Marieluise spricht, lebt und inkarniert, die Kerstin als sich ihres Lebens erinnernde Frau dachte und schrieb, hat sich seitdem schon mehrfach gezeigt. 2010, bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen etwa, oder am Grand Théatre de la Ville in Luxemburg. Und auch jetzt in München setzt das symbiotische Geschehen mit sofortiger Wirkung ein.
Schygulla liest, rezitiert und wiegt sich traumverloren summend zum Takt der Melodien von Schlagern und Chansons, die episodisch im Erinnerungsmonolog der fiktiven Fleißer auftauchen. Scollo erschafft mit Reiskörnern, Tamburin und Gitarre beredte klangmagische Bilder, die fast wie Zirkusseifenblasen im Zuschauerraum zu schweben scheinen. Und Specht verfolgt aus der ersten Stuhlreihe mit, wie der von ihr geschaffene Text sich ein weiteres Mal mit Leben füllt.
Wie Marieluise-Schygulla sich der Schwärmereien ihres Schülerinnen-Ich für junge Verwundete des gerade begonnenen Ersten Weltkriegs im Regensburger Internat der Englischen Fräulein entsinnt. Wie ihr lebenshungriges Studentinnen-Ich im Schwabinger Künstlerfasching kostümiert als Nixe erst Lion Feuchtwanger trifft und über ihn in den dunklen, sie fast zerbrechenden Bannkreis von Bert Brecht gerät. Wie sie der toxischen Männlichkeit von „Jappes“, dem kriminellen, in Paris untertauchenden „Apachen“ ebenso wie der des dominant auftrumpfenden Autoren-Hochstaplers Hellmut Draws-Tychsen erliegt. Wie sie sich im Oszillieren zwischen der schillernden literarischen Avantgarde in Berlin und der Tristesse ihres kinderlos bleibenden Ehefrauen-Alltags in Ingolstadt aufreibt. Wie sie zu erlöschen droht, wie sie für Jahre als Autorin verstummt, hinter Hornbrillen und in großkarrierten Kostümjacken verschwindet und 1968 phönixgleich aus ihrer eigenen Asche wiederkehrt: entdeckt, interpretiert, gelesen und verstanden vom wilden Jungmänner-Triumvirat des Neuen Kritischen Volksstücks: Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz. „Meine Söhne“, singsäuselt La Schygulla mit vieldeutiger Emotionalität. „Meine Söhne“. Dann erhebt sie sich ein wenig mühsam vom Lesetisch. Tritt an die Rampe und spricht die letzten Sätze von Kerstins Text, die sie für Sekunden mit dem lebenssatten Ich der fiktiven Marieluise F. in Eins fallen lassen: „Es geht weiter. Ich tanze wieder. Viel Zeit bleibt mir nicht.“
Wehmütiger, dankbarer, lang anhaltender Applaus.
Hanna Schygulla liest Kerstin Spechts „Marieluise. Ein Bericht“>
„Eine Enkelin der Fleißer, diese Kerstin Specht“ schrieb die FAZ. Die Enkelin hat ihre Vorfahrin in einem großen Monodrama gewürdigt. Marieluise. Ein Bericht wurde am 22. Februar 2024 anlässlich des 50. Todestages von Marieluise Fleißer am Münchner Residenztheater in einer szenischen Lesung mit Hanna Schygulla wiederaufgeführt. Ein Bild des Abends gibt Ursula Wiest.
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Die Bühnenautorin Kerstin Specht, deren vielbeachtetes Schreiben seit 1988 um das Scheitern bäuerlicher Lebensentwürfe und das erratische Agieren dysfunktionaler Familien in psychisch entwurzelten Dorfgemeinschaften, an grenznahen Nicht-Orten und Absiedlungen ihrer Heimatregion kreist, ist eine zierliche Person mit heller Haut und lockigem, fast pumucklrot leuchtendem Haar.
Etta Scollo, Weltmusikerin und Poetin mit sizilianischen Wurzeln hüllt ihren schmalen Körper gern in arabeske, erdfarbige Gewänder und trägt Stirnbänder und Ohrhänger, die die hohen Wangenknochen ihrer aparten Gesichtszüge betonen.
Und Hanna Schygulla ist natürlich Hanna Schygulla. Die Schauspiel-Ikone. Das Faszinosum. Die Kultfigur, der es stets aufs Neue gelang, sich zu wandeln: vom ausgegrenzten oberschlesischen Flüchtlingsmädchen zur unperfekt gestylten Münchner Vorstadt-Sirene, von Fassbinders somnambuler Darstellerinnen-Puppe zur weit über ihn hinauswachsenden Wunschbesetzung namhafter europäischer Regisseure, von der bewunderten Interpretin deutscher Balladen und französischer Chansons zur stillen Unterstützerin einer Einrichtung für Kinder mit Vertreibungs- und Migrationshintergrund, wie sie selbst es einst war. Dass sie sich in der Rolle der Mutter von George Tabori während der Uraufführung von My Mother’s Courage auf dem Bretterboden des damaligen Werkraums der Münchner Kammerspiele in simulierten Geburtswehen wand, ist lange, wirklich sehr lange her. Und doch hat ihr Publikum von damals sie nie vergessen.
Am 22.2.2024 ist der Zuschauerraum des Residenztheaters gegen 20 Uhr jedenfalls bis auf den letzten Platz besetzt, als die zur sibyllinisch lächelnden Silberlöwin gereifte Diva am Bühnenlesetisch Platz nimmt. Gehüllt in violette Broderie-Schals. Mit schwarzen Bändern ums wallende Haar. Und sich mit Specht und Scollo zu einer séanceartigen Würdigung des eigentlichen weiblichen Kraftzentrums jenes Abends verbindet: der bayerischen Literatinnen-Persona Marieluise Fleißer, deren Versterben an ihrer Geburtsstätte, dem sie prägenden, quälenden und doch nie loslassenden Ingolstadt, sich am 2.2.2024 zum fünfzigsten Mal gejährt hat. Und deren krisenhafte, von psychischen Zusammenbrüchen und männlichen Interventionen begleitete Individuation als schreibende Frau von Kerstin Specht bereits 2021 in dem fiktiven Erinnerungsmonolog Marieluise. Ein Bericht literarisiert worden ist.
Dass die Tochter des oberschlesischen Holzhändlers Josef Schygulla mit der Tochter des Ingolstädter Zeugschmieds und Eisenwarenhändlers Heinrich Fleißer in nahezu seelenschwesterliche Beziehung treten kann, dass Hanna auf der Bühne diejenige Marieluise spricht, lebt und inkarniert, die Kerstin als sich ihres Lebens erinnernde Frau dachte und schrieb, hat sich seitdem schon mehrfach gezeigt. 2010, bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen etwa, oder am Grand Théatre de la Ville in Luxemburg. Und auch jetzt in München setzt das symbiotische Geschehen mit sofortiger Wirkung ein.
Schygulla liest, rezitiert und wiegt sich traumverloren summend zum Takt der Melodien von Schlagern und Chansons, die episodisch im Erinnerungsmonolog der fiktiven Fleißer auftauchen. Scollo erschafft mit Reiskörnern, Tamburin und Gitarre beredte klangmagische Bilder, die fast wie Zirkusseifenblasen im Zuschauerraum zu schweben scheinen. Und Specht verfolgt aus der ersten Stuhlreihe mit, wie der von ihr geschaffene Text sich ein weiteres Mal mit Leben füllt.
Wie Marieluise-Schygulla sich der Schwärmereien ihres Schülerinnen-Ich für junge Verwundete des gerade begonnenen Ersten Weltkriegs im Regensburger Internat der Englischen Fräulein entsinnt. Wie ihr lebenshungriges Studentinnen-Ich im Schwabinger Künstlerfasching kostümiert als Nixe erst Lion Feuchtwanger trifft und über ihn in den dunklen, sie fast zerbrechenden Bannkreis von Bert Brecht gerät. Wie sie der toxischen Männlichkeit von „Jappes“, dem kriminellen, in Paris untertauchenden „Apachen“ ebenso wie der des dominant auftrumpfenden Autoren-Hochstaplers Hellmut Draws-Tychsen erliegt. Wie sie sich im Oszillieren zwischen der schillernden literarischen Avantgarde in Berlin und der Tristesse ihres kinderlos bleibenden Ehefrauen-Alltags in Ingolstadt aufreibt. Wie sie zu erlöschen droht, wie sie für Jahre als Autorin verstummt, hinter Hornbrillen und in großkarrierten Kostümjacken verschwindet und 1968 phönixgleich aus ihrer eigenen Asche wiederkehrt: entdeckt, interpretiert, gelesen und verstanden vom wilden Jungmänner-Triumvirat des Neuen Kritischen Volksstücks: Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder, Franz Xaver Kroetz. „Meine Söhne“, singsäuselt La Schygulla mit vieldeutiger Emotionalität. „Meine Söhne“. Dann erhebt sie sich ein wenig mühsam vom Lesetisch. Tritt an die Rampe und spricht die letzten Sätze von Kerstins Text, die sie für Sekunden mit dem lebenssatten Ich der fiktiven Marieluise F. in Eins fallen lassen: „Es geht weiter. Ich tanze wieder. Viel Zeit bleibt mir nicht.“
Wehmütiger, dankbarer, lang anhaltender Applaus.