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13.03.2024, 13:00 Uhr
Redaktion
Gespräche

Interview mit dem ukrainischen Schriftsteller Alexander Kostinskij

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„Flug“. (c) für alle Bilder: Alexander Kostinskij.

Der Schriftsteller, Zeichner und Erzähler Alexander Kostinskij lebt seit Anfang der 1990er Jahre in München. Im Gespräch mit dem Literaturportal Bayern erklärt der Autor, warum Mündlichkeit für Geschichten so wichtig ist. Das Gespräch führte Thomas Lang.

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LITERATURPORTAL: Lieber Herr Kostinskij, Sie haben seit 1970 eine Anzahl Kinderbücher publiziert und zum Teil selbst illustriert, außerdem einige Bände mit Erzählungen für Erwachsene. Dennoch scheint mir, dass Sie Ihre Geschichten am liebsten vor Publikum erzählen. Was Ist Ihnen daran so wichtig?

ALEXANDER KOSTINSKIJ: Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen. Abends saßen wir oft bei Tisch und haben erzählt. Besonders mein Großvater hat viele Sachen erzählt. Ich selbst kam durch Zufall zum Erzählen. Vor langer Zeit musste ich wegen eines Unfalls ins Krankenhaus. Dort gab es viele Kinder, und ich habe angefangen, ihnen Märchen zu erzählen. Ab diesem Zeitpunkt war ich gewissermaßen infiziert. Es gibt in meiner Heimat eine Redewendung: das jüdische Glück. Wenn etwas anfangs schlecht läuft, sich dann aber zum Guten wendet, ist das „das jüdische Glück“. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich laufe zum Bahnhof und bin verspätet. Der Zug ist weg. Ich stehe da und schimpfe. Dann nehme ich den nächsten Zug, und in diesem lerne ich meine zukünftige Frau kennen. So war es mit dem Erzählen – am Anfang stand ein Unfall, dann wurde etwas Entscheidendes und Gutes für mich daraus.

LPB: Was unterscheidet das Erzählen vom Vorlesen?

KOSTINSKIJ: Im Erzählen bin ich frei. Es ist wie bei dem Großvater in meinem Buch Davids Träume. Er erzählt da von einem Jungen, der Schlomo heißt. Ich sage: Großvater! Als du gestern von ihm erzählt hast, hieß er Lewi, und jetzt heißt er Schlomo … – Ja, sagt der Großvater, Schlomo ist auch ein guter Junge. Um diese Freiheit geht es. Erzählen ist wie Jazz. Es gibt eine Konstruktion, aber alles andere kann man frei bringen. Ich improvisiere. Wie es am Ende wird, hängt auch vom Publikum ab. Ich schaue, welche Menschen da sind und wie sie reagieren. Dem passe ich meine Erzählung an.

LPB: Welche Art von Geschichten erzählen Sie?

KOSTINSKIJ: Meine ersten Geschichten, das erste Buch, waren Märchen für Kinder. Das Buch hieß in Deutschland Der kleine Löwe und seine Freunde. Auf Russisch heißt es eigentlich „Kleiner Tiger“, aber mein deutscher Verleger sagte: Vergiss, es! „Kleiner Tiger“, das ist Janosch. Andere Geschichten, für Erwachsene, sind jüdische Geschichten, aber nicht alle. Meine Theaterstücke bezeichne ich eher als Fabeln. Das erste Stück, auf Deutsch erschienen im Drei Masken Verlag, heißt Dialoge aus dem Käfig. Es geht darin um drei Vögel, und es ist eine Fabel. Für mich sind Fabeln und Märchen zeitlos und erreichen deshalb mehr Publikum. Es ist sehr wichtig, dass Eltern ihren Kindern Märchen, Fabeln und Geschichten vorlesen. Wenn die Kinder nicht alles verstehen, fragen sie Mama, Papa oder Opa, was es bedeutet. Es geht um dieses Gespräch. Leider haben alle heute so wenig Zeit, die Kinder und Eltern stehen so unter Druck, dass dieser Kontakt verloren geht. Das ist ein Problem, ich glaube auch für die Gesellschaft.

LPB: Das Theater hat ja auch diese Lebendigkeit. Es entsteht im Spiel aus dem Moment …

KOSTINSKIJ: Theater ist immer ein Dialog, auch wenn der Autor es einen Monolog geschrieben hat, und es hängt von den Schauspielern ab, vom Regisseur, vom Bühnenbild, wie es wirkt. Das Erzählen ist auf seine Art auch Theater. Wenn ich erzähle, bin ich in diesem Moment auch eine Art Schauspieler und ich will meine Gedanken, meinen Kummer und Freude dem Publikum mitteilen. Bei einem Auftritt sagte mir eine ältere Frau, eine Nonne: Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern auch Brückenbauer. Das war das höchste Lob in meinem literarischen Leben.

LPB: Diese jüdischen Geschichten und Märchen, sind das überlieferte Geschichten?

KOSTINSKIJ: Nein. Sie sind vielleicht angestoßen von einem ersten Satz oder einer Bemerkung, die in meiner großen Familie in diesem Haus in Kijiw fiel. Wie eine Nuss liegt so ein Satz in der Erde, in meinem Gedächtnis, und kann warten, während Sonne und Regen kommen. Nach langer Zeit entsteht aus dieser Nuss - diesem Satz - eine Geschichte. Ein Beispiel ist der Titel eines meiner Bücher. Wenn mein Vater seine Scherze und seine Witze machte, sagte meine Mama zu ihm: Moische, du bist ein Sternenverkäufer. Und viele Jahre später kam wie die Pflanze aus der Nuss aus diesem wunderschönen Wort die Geschichte Der Sternenverkäufer. Ein anderes Beispiel gibt der Spruch: Ja, ja, wenn wir fliegen, dann zusammen. – Wenn es in der tausendjährigen jüdischen Geschichte zu Verfolgung und Pogromen kam, fiel dieser Satz: Pass auf, wenn wir fliegen, dann zusammen! – Und dieser Satz wurde zum Titel meiner CD.

LPB: Hat der Großvater Ihnen also ein Vorbild für das Erzählen gegeben?

KOSTINSKIJ: Nicht nur der Großvater; es war die ganze Familie. Wir haben oft zusammengesessen, und wir haben erst spät einen Fernseher gehabt. Meine Großmutter backte Strudel, und wir saßen zusammen und aßen Strudel, tranken Tee, erzählten Geschichten oder machten Witze. Das hat mich bis heute geprägt.

„Träumer“

LPB: Erzählen Sie auf Ihren Hör-CDs auch frei?

KOSTINSKIJ: Ich spreche frei, gleichzeitig spielen zwei Musiker. Da mein Deutsch leider nicht so gut ist, musste manches zwei oder dreimal erzählen, damit meine Zuhörer es verstehen. Es war auch schwierig mit dem Mikrophon. Ich habe auch von den zugrundeliegenden gedruckten Texten nicht alles genommen, sondern gesagt: Ich will hier zwei, drei Sätze weglassen oder umgekehrt dort einen neuen Satz hinzufügen. Es war harte Arbeit.

LPB: Sie sind in Kijiw geboren und haben lange dort gelebt. Anfang der 1990er Jahre sind Sie nach München gekommen. Was bedeutet Ihnen diese Stadt?

KOSTINSKIJ: Ich habe schon den Spruch vom „jüdischen Glück“ erwähnt … Am Anfang wurde ich von einer Dame eingeladen, mit ihr zusammen ein Theaterstück über ihr Leben zu schreiben. Daraus wurde nichts. Mein Visum war nur für zwei Wochen gültig. Aber dann kam ein Zufall und noch ein Zufall und noch ein Zufall … und es ist gut geworden. Meine Freunde fragen mich manchmal: Bist du im Westen zufrieden? Ich antwortete: Ja, ich habe hier wunderbare Freunde gefunden. Ich war ein Immigrant ohne Sprache, ohne Kontakte. Doch ich bekam richtige Freunde – das ist ein Glück.

Mein erstes Glück war eine alte Dame, bei der ich ein halbes Jahr gewohnt habe, Frau Mosidße. Das ist ein georgischer Name. Wissen Sie, alte, sehr alte Menschen und kleine Babys sehen nicht aus wie Franzosen, Deutsche oder Russen. Sie sind alle gleich. Und diese alte Dame war klein und schmal, sie hatte eine dicke Brille und ihren georgischen Namen. Nachdem ich eine Woche bei ihr gewohnt hatte, kam sie zu mir und sagte: Sascha! – Das ist die Kurzform von Alexander. Sascha, Sie sind Jude. – Ich war wie ein Igel, ich antwortete: Ja, und?! Ist es wichtig, ob ich Jude, Ukrainer oder Georgier bin? – ? – Nein, nein, es nicht wichtig. Ich bin auch Jüdin. Und dann hat mir sie ihren Lebenslauf erzählt.

Frau Mosidße war ein privates Sozialamt. Viele kamen zu ihr, die z. B. nicht Deutsch sprachen. Denen half sie unterschiedslos. Sie füllte Formulare aus und ging mit jedem aufs Amt … es war eine großartige Frau. Ein Mensch. Bei Juden ist es das größte Lob zu sagen: er oder sie ist ein Mensch. Und diese Frau war ein großer Mensch. Und dann hat sie gesagt: Sascha, ich war Dolmetscherin in der jüdischen Gemeinde in München. Die möchten ein Festival mit jüdischen Künstlern aus Osteuropa machen. Sie sind doch Autor …

Dann hat sie mir einen Termin gemacht. Ich bin zu der jüdischen Gemeinde gegangen. Dort war Frau Knobloch, die zu der Zeit noch nicht so bekannt war. Sie vermittelte mich an den Geschäftsführer, Herrn Rakowski. Ich habe ihm meine Bücher gezeigt. Ich werde nie vergessen, wie Herr Rakowski sagte: Endlich ein Schriftsteller. Jeder zweite Jude aus der Ukraine ist ein Geiger.

Ich wurde eingeladen, am Festival teilzunehmen. Ich sagte: mein Visum läuft aber ab. – Wir schreiben einen Brief ans Kreisverwaltungsreferat, erwiderte er, dass wir Ihre Hilfe bei dem Festival brauchen. Ich kam ein Visum für ein halbes Jahr, dann wurde es verlängert. Ich bekam Kontakt mit dem Drei Masken Verlag. Das war für mich sehr wichtig, weil ich gesehen habe, dass ich mit meinen Werken auch hierzulande ein Publikum gewinnen kann.

Ich habe am Anfang alles Mögliche gemacht, wie viele Immigranten. Alle müssen am Anfang bereit sein, alles Mögliche zu machen. Ich darf nicht sagen: Ich bin ein Dichter, deshalb kann ich nicht putzen gehen. Man muss alles machen. Und ich danke meinem Schicksal. Vieles in meinen Leben war Zufall. Ich habe meinen Verleger nie gesucht, auch das war Zufall. Das heißt nicht, dass ich untätig bliebe, ich habe immer geschrieben und gezeichnet. Aber ich versuche nie, das Bessere zu suchen. Im Leben nehme ich es, wie es kommt – das ist meine Lebensphilosophie. Inzwischen bin ich 32 Jahre hier.

„Kindheit“

LPB: Schreiben Sie Ihre Texte auch auf Deutsch?

KOSTINSKIJ: Nein. Kleine Bücher wie Frosch und Hase, Ein wunderbares Hundeleben oder Die grüne Katze habe ich auf Deutsch geschrieben. Klar habe ich tausende Fehler gemacht. Die Lektorin hat es dann korrigiert. Aber für ein Buch wie Der Sternenverkäufer oder auch das Theaterstück Dialoge aus dem Käfig habe ich mit Übersetzerinnen zusammengearbeitet.

Mein letztes Stück heißt Der Flötist. Es ist eigentlich eine Erzählung, ich empfinde es jedoch als Theater. Dieses Stück hat eine junge Studentin übersetzt. Ihr Name lautet Nicole Maria Bertelshager. Diese Zusammenarbeit war sehr schön – ich hoffe, für uns beide. Ich habe ihr erklärt, wie im Russischen die Wörter manchmal etwas anders funktionieren, dass man sie nicht wörtlich übersetzen muss. Also einige meiner kurzen Texte schreibe ich auf Deutsch.

LPB: Welche Pläne verfolgen Sie gegenwärtig?

KOSTINSKIJ: Ich schreibe, arbeite schon sehr lange an einem Monolog. Es geht um Joseph, den Mann Mariens. Ohne ihn wäre Maria gesteinigt worden. Joseph blieb immer bei ihr und dem Kind, floh mit ihnen nach Ägypten. Er hielt sich im Hintergrund, doch er war ein großartiger Mensch, ein Beschützer. Die Kirche hat ihn erst viel später zum Heiligen ernannt. Auf Kreta habe ich einmal eine romanische Kirche besucht. Dort gab es ein Fresko aus dem frühen Mittelalter. Es zeigt Joseph, wie er weint. Neben ihm sitzt Maria und weint ebenfalls. Joseph weint, weil er noch nicht glauben kann, dass sie von Gott, dem Herrn, ein Kind bekommt. Sie weint, weil er ihr nicht glauben kann. Erst später kam die Verkündigung des Engels zu ihm.

Ich arbeite bereits seit vielen Jahren an diesem Stück. Es dauert lang und ich muss viele Quellen, viele Apokryphen lesen und Informationen zusammentragen. Joseph hat Maria immer beschützt. Ich glaube: Hätte es ihn nicht gegeben, gäbe es kein Christentum. Im symbolischen Sinn ist er allgemein ein Beschützer. Im Christentum wie in vielen anderen Religionen ist Gott Liebe.

LPB: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Eine gekürzte Fassung des Interviews erscheint in der Literatur in Bayern Nr. 155 (2024).