Saltivka Concrete Dreams
Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik begann er 1988 zu schreiben. Auf Russisch erschienen sind der Erzählband Schkola kibernetiki (Moskau 2002), die Romane Serpantin (Moskau 2008), Pinoktiko (Charkiw 2008), Kontora Kuka (Moskau 2012), Parallelnaja akzija (Moskau 2014) sowie ein Erzählband namens Kodex paratschjutista (Charkiw 2013). Im August 2017 kam sein Erzählband Pjatipol im Verlag des 32 Vozdvizhenka Arts House Kiew heraus. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. 2017 nahm er an Eine Brücke aus Papier in Kiew teil. 2018 erschien sein jüngster Roman Analogovie Maschini (Analoge Maschinen) im Kajala Verlag, Kiew.
*
Saltivka Concrete Dreams
9. Juli 2017
„Worüber kann man mit jemandem reden, der nicht in Saltivka gelebt hat?“ (Boris Mikhailov)
23. März 2022
Alle Bilder im Album „Saltivka mon amour“ wurden vor dem Krieg gezeichnet, bis auf eines – „Tetris“. Und die erste Version davon wurde 2016 gemalt, es war eine Computerzeichnung und jetzt habe ich also ein Acryl-Remake auf Papier gemacht.
Und neulich habe ich im Fernsehen gehört, dass sie in Russland, damals 2010, ein Computerspiel gemacht haben, in dem man Charkiw bombardieren konnte, Charkiw, haben sie gesagt, ich erinnere mich, aber ich habe es nicht überprüft, ich habe nie Tetris gespielt, oder vielleicht ein- oder zweimal, im Roman Das Eichamt spielt es eine Praktikantin im Forschungsinstitut, wir hatten wirklich ab und zu Praktikanten, als ob wir so Theoretiker dort wären, und sie spielte Tetris, erst einfach und dann dreidimensional, und es nimmt im Roman einen beträchtlichen Raum ein ... Saltivka, das größte Wohngebiet (Plattenbaugebiet, wörtlich übersetzt „Schlafzimmergebiet“) Europas, wurde seit Kriegsbeginn ununterbrochen bombardiert, es ist klar, dass ich mir Gedanken über sein Geheimnis gemacht habe, ganz zu Beginn des Krieges habe ich einen Freund gefragt, der damals in Charkiw war, als es schien, dass die Russen irgendeinen vernünftigen Zweck hatten, und er sagte, dass sich hinter Nord-Saltivka irgendeine militärische Einrichtung befand, aber selbst wenn es dort etwas gegeben hätte und er nicht geträumt hätte (was sehr wahrscheinlich ist), wäre von dem Objekt längst nichts mehr übrig, und Saltivka wird immer noch bombardiert oder mit Artillerie beschossen, ich weiß nicht, ob es jemals einen solchen Krieg mit einem Wohngebiet gegeben hat, na ja, Aleppo schon ... ja, ja, wo man geboren ist, das tut besonders weh, ich bin nicht in Saltivka geboren, aber ich bin dort aufgewachsen, es passt nicht in meinen Kopf … Ich war vor nicht allzu langer Zeit in Mariupol, das es nicht mehr gibt, ich weiß, dass es dahinter kein Geheimnis gibt, und doch gestern habe ich ein halbstündiges Video mit dem Titel „Horrors of Kharkiv“ gesehen, und wieder scheint es, als gäbe es ein gewisses Mysterium, irgendein Weltraumdepp, der eine Art Spiel spielt in einer Win-Win-Situation: Wo immer eine Rakete einschlägt, da war Leben, das ist das Ziel, das ist alles, das ist das Geheimnis, ja.
Ich habe von meinem siebten bis zum 33. Lebensjahr in Saltivka gelebt. Als ich 22 Jahre alt war, nachdem ich geheiratet hatte, war ich gerade von der Hvardiytsiv Shyrontsiv Straße in die Traktorobudivnykiv Avenue umgezogen, vom achten Stock eines neunstöckigen Gebäudes in den zweiten Stock eines fünfstöckigen Gebäudes. Es gibt ein YouTube-Video des Historikers Ihor Solomadin, in dem ich über meine Bilder spreche, die an Schnüren in der Städtischen Galerie von Charkiw hängen, und irgendwo in der Nähe der Serie der Saltivka-Pastellbilder fragt mich Ihor Solomadin, der selbst bis vor kurzem in Saltivka, in meinem Viertel, gelebt hat, vor dem Krieg und zu dessen Beginn: „Ist Saltivka dein Trauma?“ Saltivka war für mich als Kind eine Art Trauma, weil ich vom Stadtzentrum (Ecke Sumskaja- und Danilevskij-Straße) an den Rand der Welt gezogen bin ... Damals gab es in der Nachbarschaft keine Häuser, außer unserem, das „Chinesische Mauer“ genannt wurde (15 Eingänge, mehr als fünfhundert Wohnungen), und ein oder zwei weiteren, das Feld verdeckte die Aussicht jedoch nicht so sehr wie „die aus düsteren Tagen gepressten Mauern ...“ (aus meiner Geschichte Stadt ist ein Held, 2002), als alle Häuser in der Nachbarschaft gebaut wurden, sah ich die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale am Horizont nicht mehr, die Altstadt war völlig abgeschnitten, ich war eingemauert, und meine Augen richteten sich immer mehr nach innen statt nach außen, Saltivka ist ein Wegweiser zu mir selbst, seine Mauern prägten mein Heranwachsen, ich hörte auf, mich von ihr zu unterscheiden, ein Interview auf einer Website, die sich nach Kriegsbeginn auflöste, hieß „Decoding Concrete Dreams“, das ist aus meinen Antworten, und es stimmt, in meinen Geschichten und Romanen tauchen die Saltivka-Labyrinthe-Katakomben auf, egal wo der Held oder Erzähler ist, sie sind überall mit ihm, diese Häuser, sie umhüllen ihn wie Laken in zwei Gemälden, die erste Version wurde vor einigen Jahren gemalt, ganz am Anfang meines Acryl-Trips, die zweite wurde erst kürzlich gemalt, am 8. Februar 2022, zwei Wochen vor dem Krieg, wie in meiner Geschichte hängen graue nasse Laken in Reihen bis zum Horizont, in dieser meinen alten Geschichte ging es überhaupt nicht um etwas Militärisches, sondern nur um die Beziehung zwischen dem Plural und dem Singular, zwischen der Stadt und dem Helden im Sinne eines literarischen Werks.
9. Juli 2022
Leider gibt es heute, am 136. Tag des Krieges, meinem Kommentar vom März nichts hinzuzufügen, nichts hat sich geändert, außer der Zahl der Opfer, die jeden Tag steigt, seit Beginn des Krieges gab es keinen Tag, an dem Charkiw nicht mit Raketen und Artillerie beschossen wurde, die häufigsten Ziele sind immer noch Wohngebiete der Stadt, der Terror muss größer sein, das ist die Logik der russischen Verbrecher, und das Ziel des Krieges ist für Russland der Krieg selbst, erklären Politologen.
18. August 2022
Charkiw ist in den Weltmedien kaum noch in den Nachrichten, denn es passiert jeden Tag, außer den Opfern von Volltreffern die Folter der Schlaflosigkeit einer riesigen Stadt, wie meine alte Freundin, die dort lebt, jetzt schreibt, weil sie jeden Tag zur gleichen Zeit bombardieren, nachts überall Sirenen losgehen, die Stadt nicht schläft, und dann beschlossen mutige russische Raketenspezialisten, die Effizienz zu erhöhen, und richteten eine Kalibr-Hochpräzisionsrakete auf ein Wohnheim für Taubstumme in Saltivka, elf Menschen starben, die offenbar die Sirenen nicht gehört hatten. Ehemalige Nachbarn sagten am Telefon, dass unser Haus, die „Chinesische Mauer“, getroffen wurde, aber weit weg von unserem Eingang, das Haus ist lang ... Und eine alte Freundin schickte ein Foto, auf dem ihr Haus (sie wohnt schon lange nicht mehr dort, aber ihr Bruder ist jetzt dort) durch ein Loch im Nachbarhaus zu sehen ist. Nachdem ich meinen Kommentar zum Album noch einmal gelesen habe, in dem es darum ging, wie sich der Horizont in meiner Kindheit schloss, wie ich „eingemauert“ war, weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Ende Juli habe ich einige meiner Bilder, etwa ein Dutzend, in einer Ausstellung gezeigt. Die Ausstellung trug den Titel „Konkrete Träume“, und die Besucher fragten mich, wie ich es geschafft habe, solche Details zu bekommen, wenn ich sie alle vor dem Krieg gemalt hatte, und ich sagte, ich weiß es nicht.
6. August 2019. Mit Milch auf Papier gemalt und anschließend übers Feuer gehalten.
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Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik begann er 1988 zu schreiben. Auf Russisch erschienen sind der Erzählband Schkola kibernetiki (Moskau 2002), die Romane Serpantin (Moskau 2008), Pinoktiko (Charkiw 2008), Kontora Kuka (Moskau 2012), Parallelnaja akzija (Moskau 2014) sowie ein Erzählband namens Kodex paratschjutista (Charkiw 2013). Im August 2017 kam sein Erzählband Pjatipol im Verlag des 32 Vozdvizhenka Arts House Kiew heraus. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. 2017 nahm er an Eine Brücke aus Papier in Kiew teil. 2018 erschien sein jüngster Roman Analogovie Maschini (Analoge Maschinen) im Kajala Verlag, Kiew.
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Saltivka Concrete Dreams
9. Juli 2017
„Worüber kann man mit jemandem reden, der nicht in Saltivka gelebt hat?“ (Boris Mikhailov)
23. März 2022
Alle Bilder im Album „Saltivka mon amour“ wurden vor dem Krieg gezeichnet, bis auf eines – „Tetris“. Und die erste Version davon wurde 2016 gemalt, es war eine Computerzeichnung und jetzt habe ich also ein Acryl-Remake auf Papier gemacht.
Und neulich habe ich im Fernsehen gehört, dass sie in Russland, damals 2010, ein Computerspiel gemacht haben, in dem man Charkiw bombardieren konnte, Charkiw, haben sie gesagt, ich erinnere mich, aber ich habe es nicht überprüft, ich habe nie Tetris gespielt, oder vielleicht ein- oder zweimal, im Roman Das Eichamt spielt es eine Praktikantin im Forschungsinstitut, wir hatten wirklich ab und zu Praktikanten, als ob wir so Theoretiker dort wären, und sie spielte Tetris, erst einfach und dann dreidimensional, und es nimmt im Roman einen beträchtlichen Raum ein ... Saltivka, das größte Wohngebiet (Plattenbaugebiet, wörtlich übersetzt „Schlafzimmergebiet“) Europas, wurde seit Kriegsbeginn ununterbrochen bombardiert, es ist klar, dass ich mir Gedanken über sein Geheimnis gemacht habe, ganz zu Beginn des Krieges habe ich einen Freund gefragt, der damals in Charkiw war, als es schien, dass die Russen irgendeinen vernünftigen Zweck hatten, und er sagte, dass sich hinter Nord-Saltivka irgendeine militärische Einrichtung befand, aber selbst wenn es dort etwas gegeben hätte und er nicht geträumt hätte (was sehr wahrscheinlich ist), wäre von dem Objekt längst nichts mehr übrig, und Saltivka wird immer noch bombardiert oder mit Artillerie beschossen, ich weiß nicht, ob es jemals einen solchen Krieg mit einem Wohngebiet gegeben hat, na ja, Aleppo schon ... ja, ja, wo man geboren ist, das tut besonders weh, ich bin nicht in Saltivka geboren, aber ich bin dort aufgewachsen, es passt nicht in meinen Kopf … Ich war vor nicht allzu langer Zeit in Mariupol, das es nicht mehr gibt, ich weiß, dass es dahinter kein Geheimnis gibt, und doch gestern habe ich ein halbstündiges Video mit dem Titel „Horrors of Kharkiv“ gesehen, und wieder scheint es, als gäbe es ein gewisses Mysterium, irgendein Weltraumdepp, der eine Art Spiel spielt in einer Win-Win-Situation: Wo immer eine Rakete einschlägt, da war Leben, das ist das Ziel, das ist alles, das ist das Geheimnis, ja.
Ich habe von meinem siebten bis zum 33. Lebensjahr in Saltivka gelebt. Als ich 22 Jahre alt war, nachdem ich geheiratet hatte, war ich gerade von der Hvardiytsiv Shyrontsiv Straße in die Traktorobudivnykiv Avenue umgezogen, vom achten Stock eines neunstöckigen Gebäudes in den zweiten Stock eines fünfstöckigen Gebäudes. Es gibt ein YouTube-Video des Historikers Ihor Solomadin, in dem ich über meine Bilder spreche, die an Schnüren in der Städtischen Galerie von Charkiw hängen, und irgendwo in der Nähe der Serie der Saltivka-Pastellbilder fragt mich Ihor Solomadin, der selbst bis vor kurzem in Saltivka, in meinem Viertel, gelebt hat, vor dem Krieg und zu dessen Beginn: „Ist Saltivka dein Trauma?“ Saltivka war für mich als Kind eine Art Trauma, weil ich vom Stadtzentrum (Ecke Sumskaja- und Danilevskij-Straße) an den Rand der Welt gezogen bin ... Damals gab es in der Nachbarschaft keine Häuser, außer unserem, das „Chinesische Mauer“ genannt wurde (15 Eingänge, mehr als fünfhundert Wohnungen), und ein oder zwei weiteren, das Feld verdeckte die Aussicht jedoch nicht so sehr wie „die aus düsteren Tagen gepressten Mauern ...“ (aus meiner Geschichte Stadt ist ein Held, 2002), als alle Häuser in der Nachbarschaft gebaut wurden, sah ich die Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale am Horizont nicht mehr, die Altstadt war völlig abgeschnitten, ich war eingemauert, und meine Augen richteten sich immer mehr nach innen statt nach außen, Saltivka ist ein Wegweiser zu mir selbst, seine Mauern prägten mein Heranwachsen, ich hörte auf, mich von ihr zu unterscheiden, ein Interview auf einer Website, die sich nach Kriegsbeginn auflöste, hieß „Decoding Concrete Dreams“, das ist aus meinen Antworten, und es stimmt, in meinen Geschichten und Romanen tauchen die Saltivka-Labyrinthe-Katakomben auf, egal wo der Held oder Erzähler ist, sie sind überall mit ihm, diese Häuser, sie umhüllen ihn wie Laken in zwei Gemälden, die erste Version wurde vor einigen Jahren gemalt, ganz am Anfang meines Acryl-Trips, die zweite wurde erst kürzlich gemalt, am 8. Februar 2022, zwei Wochen vor dem Krieg, wie in meiner Geschichte hängen graue nasse Laken in Reihen bis zum Horizont, in dieser meinen alten Geschichte ging es überhaupt nicht um etwas Militärisches, sondern nur um die Beziehung zwischen dem Plural und dem Singular, zwischen der Stadt und dem Helden im Sinne eines literarischen Werks.
9. Juli 2022
Leider gibt es heute, am 136. Tag des Krieges, meinem Kommentar vom März nichts hinzuzufügen, nichts hat sich geändert, außer der Zahl der Opfer, die jeden Tag steigt, seit Beginn des Krieges gab es keinen Tag, an dem Charkiw nicht mit Raketen und Artillerie beschossen wurde, die häufigsten Ziele sind immer noch Wohngebiete der Stadt, der Terror muss größer sein, das ist die Logik der russischen Verbrecher, und das Ziel des Krieges ist für Russland der Krieg selbst, erklären Politologen.
18. August 2022
Charkiw ist in den Weltmedien kaum noch in den Nachrichten, denn es passiert jeden Tag, außer den Opfern von Volltreffern die Folter der Schlaflosigkeit einer riesigen Stadt, wie meine alte Freundin, die dort lebt, jetzt schreibt, weil sie jeden Tag zur gleichen Zeit bombardieren, nachts überall Sirenen losgehen, die Stadt nicht schläft, und dann beschlossen mutige russische Raketenspezialisten, die Effizienz zu erhöhen, und richteten eine Kalibr-Hochpräzisionsrakete auf ein Wohnheim für Taubstumme in Saltivka, elf Menschen starben, die offenbar die Sirenen nicht gehört hatten. Ehemalige Nachbarn sagten am Telefon, dass unser Haus, die „Chinesische Mauer“, getroffen wurde, aber weit weg von unserem Eingang, das Haus ist lang ... Und eine alte Freundin schickte ein Foto, auf dem ihr Haus (sie wohnt schon lange nicht mehr dort, aber ihr Bruder ist jetzt dort) durch ein Loch im Nachbarhaus zu sehen ist. Nachdem ich meinen Kommentar zum Album noch einmal gelesen habe, in dem es darum ging, wie sich der Horizont in meiner Kindheit schloss, wie ich „eingemauert“ war, weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Ende Juli habe ich einige meiner Bilder, etwa ein Dutzend, in einer Ausstellung gezeigt. Die Ausstellung trug den Titel „Konkrete Träume“, und die Besucher fragten mich, wie ich es geschafft habe, solche Details zu bekommen, wenn ich sie alle vor dem Krieg gemalt hatte, und ich sagte, ich weiß es nicht.
6. August 2019. Mit Milch auf Papier gemalt und anschließend übers Feuer gehalten.