Deutsch-jüdische Gespräche (3): Andrea Heuser und Nathalie Frank
Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.
Das dritte Gespräch führten die Autorinnen Nathalie Frank und Andrea Heuser.
*
ANDREA HEUSER: Liebe Nathalie, wir haben uns gestern [im Dezember, Anm. d. Red.] und auch jetzt noch mal hier im NS-Dokumentationszentrum getroffen, wo du bis eben an einem Workshop teilgenommen hast: „Archive der Erinnerungen“…
NATHALIE FRANK: Ja, das ist ein Workshop, wo wir mit Archivbildern, hier mit Erinnerungen des Warschauer Ghettos, gearbeitet haben. Eine ganz besondere Angelegenheit, unter der Leitung von Barbara Yelin; einer Comickünstlerin, mit der ich wahnsinnig gern zusammenarbeite. Dieses Mal war das Thema besonders nah an meiner eigenen Arbeit, die sich ja auch mit Erinnerung, mit der Verfolgung von Juden und Jüdinnen in der NS-Zeit beschäftigt. Die Ausstellung hat alle Teilnehmenden sehr mitgenommen …
Und wenn ich hier einen Bogen zu unserem Thema schlagen darf: Ich wohne in Deutschland seit zwölf Jahren und es fällt mir immer wieder auf, dass meine Perspektive schon ein bisschen eine andere ist.
HEUSER: Ja, inwiefern?
FRANK: Über meine eigene Herkunftsgeschichte identifiziere ich mich natürlich eher mit den Jüdinnen und Juden. Und nicht mit den Nazis, die den Scheiß gebaut haben. Die meisten, die Mehrheit in Deutschland identifiziert sich ja über ihre Nachkommenschaft mit einer Generation der „Täter“ – wobei ich den Begriff der „Täter/Tätergesellschaft“ jetzt nicht einfach so stehen lassen würde; diesen Begriff müsste man besprechen. Wir wissen ja, dass nicht alle Deutsche das NS-Regime unterstützt haben oder Mitläufer waren.
HEUSER: Ja, da hast du recht, das ist natürlich komplex. Was ich aber daran interessant finde, am NS-Dokumentationszentrum als einem Ort der Begegnung und an unserer Begegnung jetzt hier: Der Ort bringt dieses Übereinanderlagern von Vergangenheit und Gegenwart mit sich. Und wie sortieren wir uns da, innerlich?
FRANK: Ja, ich glaube, dies spüren alle hier auf ihre Weise …
HEUSER: Also ich merke, wenn ich hierher komme fühle ich mich gleich etwas schwerer … Und dann tauchen wir danach in die lärmenden Straßen ein und gehen zusammen spazieren, gehen in die Gegenwart, und alles fließt so ineinander …
FRANK: … und ich habe da gleich ein Bild im Kopf; also von uns, wie ich uns betrachte von ferne: Zwei Frauen, die da spazieren, in München, an einem Adventssamstag und suchen nach einem Café in der Stadt. Und man erkennt nicht mit seinen Augen: da ist eine Enkelin von deutschen Juden und eine Enkelin von deutschen Nichtjuden. Das ist ja faktisch. Aber da sind eben die beiden Enkelinnen, die sich da in München heute kennenlernen und sprechen. Und suchen da …
HEUSER: … nicht nur nach einem Café …
(c) Literaturportal Bayern
FRANK: … ja, sondern auch ein Gesprächsterrain, das diesen Zusammenhang irgendwie weiterführt, die versuchen: Was machen wir damit, mit diesem Wissen, dass wir Enkelinnen von Deutschen sind, die jeweils in einer ganz anderen Position in dieser Gesellschaft waren? Und diese Positionen sind, wie ich finde, immer noch sehr spürbar. Vor allem jetzt mit dieser Antisemitismuswelle, die man seit dem 7. Oktober lauter hört...
HEUSER: Hört und spürt …
FRANK: Und ich finde, eine Sache ist uns spätestens seit diesem 7. Oktober klar: Dass diese Sache nicht ganz rund ist, noch immer nicht, und noch nicht ganz verarbeitet wurde. Was nicht heißt, man sollte jetzt die ganze Erinnerungsarbeit heruntermachen, die ja in der Gesellschaft stattfindet und stattgefunden hat.
Aber eben einfach anerkennen, dass es lange noch nicht rund ist. Und dass es immer noch unbequem ist. Ich spreche jetzt ja eher aus der Jüdisches-Erbe-Position. Aber aus einer nichtjüdischen Position wird es wahrscheinlich auch immer noch ein unbequemes Erbe sein, mit dem man hadert. Vielleicht ist es gut so, es ist und wird und soll unbequem für alle bleiben. Und unser gemeinsames Anliegen ist es nicht, es „bequem“ zu machen, sondern: Wie machen wir daraus einen produktiven oder vielleicht einfach auch erst einmal nur einen interessanten Gesprächsraum draus? Was können wir da öffnen?
HEUSER: Genau. Und wie begegnen wir uns? Ich denke: Das eine ist das Erinnern; die sogenannte Erinnerungsarbeit. Auch so ein schwieriges Wort, das ja zeigt, dass das wohl nicht so ganz von alleine läuft auf kollektiver Ebene. Vergangenheit. Gegenwart. Das sind sehr abstrakte Begriffe in gewisser Weise. Und wir als Menschen sind so dazwischen. Wir erleben dies und wir erleben das. Und die Frage, die darin ja auch bei uns aufkommt, lautet: Wie begegnen wir uns? Du und ich zum Beispiel, wir sind ja auch in vielen Rollen, die wir gemeinsam haben: wir sind beide Mütter, wir sind beide Schriftstellerinnen und wir sind eben Nachfahren. Enkelinnen. Die eine gemeinsame und eine trennende Geschichte gleichzeitig haben.
FRANK: Ja…
HEUSER: Und wenn wir uns in diesen Rollen begegnen und das hast du gestern im Café so schön gesagt: Wir sprechen miteinander und es findet eine wirklich schöne Begegnung statt. Und gleichzeitig haben wir in dem Gespräch gewisse „Rollen“/Positionen. Und die gilt es zu sehen; ich finde: Einerseits spürt man, dass da ein ganz wichtiges Potential drin steckt in diesen Rollen: Jetzt haben wir Enkelinnen und Enkel ja noch eine Notwendigkeit, eine Dringlichkeit darüber zu sprechen …
FRANK: … denn es geht uns ja noch direkter an …
HEUSER: … und für die nächste Generation ist es dann aber nur noch Geschichte. Bei uns ist es noch Familiengeschichte. Und wir haben das Bedürfnis zu sprechen. Anderseits trauen wir uns nicht; sicher auch, weil es ja noch schmerzbesetzt ist. Auch wenn die Schuld nicht mehr das Thema ist. Aber die Verantwortung. Und die lässt einen manchmal verstummen. Und wie schaffen wir es also miteinander zu sprechen? Was würdest du dir wünschen? Dass es diese „Rollen“ vielleicht gar nicht erst gäbe?
FRANK: Ich finde es erstmal wichtig, die Begriffe „Rollen“ und „Positionen“ zu unterscheiden. „Rollen“ ist für mich das, was wir aus diesen „Positionen“ machen, das hat etwas mit unserer Erwartungshaltung zu tun. – Ich finde es sehr interessant, zu betrachten, in was für Rollen wir uns gegenseitig sehen, was wir voneinander dann erwarten. Das könnte ein Thema für eine ganze Gesprächsreihe sein.
Jetzt aber möchte ich mich auf diese „Positionen“ konzentrieren: Da ist ein gewisser Widerstand in mir. Ein Teil von mir würde sich wünschen, es wäre egal: Wir sind alle nur Menschen. Wir waren damals nicht da. Ein anderer Teil kann nicht ignorieren, dass wir mit einem anderen Erbe leben. Und dies hat andere psychologische Folgen. Das ist einfach ein Fakt. Und das scheint nicht vereinbar zu sein.
Aber ich finde es wichtig das in sich zu vereinbaren: Wir sind auf der eine Seite Menschen und wir haben nichts getan; wir sind in einer späteren Welt geboren und erst einmal hat diese Geschichte nicht mehr so viel mit unserer Lebensrealität zu tun. Trotzdem, und es haben genug Psychologen daran gearbeitet und diese Prozesse beschrieben: Es hat andere Folgen, wenn man in seiner direkten Familienlinie eine Verfolgungs- oder eine Tätergeschichte hat.
Und ich glaube, in meiner Idealvorstellung kann man beides gleichzeitig vereinbaren: Wir sind unschuldige Erbinnen von dieser Geschichte und wir sind beide aus anderen Familienpositionen heraus Teil einer postgenozidalen Gesellschaft. Und wir haben da eine andere Position. Vielleicht ein kleines Beispiel: Wenn ich einen Film über den Holocaust sehe, habe ich Bauchschmerzen, wahrscheinlich du auch ..
HEUSER: … ja, allerdings …
FRANK: Aber seit ich klein bin habe ich auch Verfolgungsträume. Das kommt bestimmt aus meiner Familiengeschichte. Ich träum immer wieder davon, dass ich verfolgt werde und jemand will mich töten. Und ich vermute, diese Träume hast du nicht?
HEUSER: Also, ganz offen und ehrlich: Ich habe teilweise auch massive Verfolgungsträume gehabt, ganz besonders in der Kindheit. Aber die haben sicherlich einen anderen Hinter- oder besser: Untergrund. Und das ist ja das, was du meinst: Wir träumen da auf eine andere und wohl nicht zu vereinbarende Weise …
FRANK: Ja. Und vielleicht auch so: seit ich ein Kind habe, habe ich die Sorge, jemand könnte an unserer Tür klingeln und uns deportieren. Und dann wäre der schöne, gemütliche Familientraum sofort vorbei. Diese Vorstellung ist einfach in mir.
HEUSER: Ja, das ist sehr anders.
FRANK: Das ist für mich so ein Fakt, dass das alles von einem zum anderen Tag komplett zerstört sein kann. Weil, das wurde schon einmal zerstört in meiner Familiengeschichte. Und zwar auf eine riesige kollektive Art und Weise. Und ich glaube, das ist sehr wichtig das anzuerkennen: dass dies anders ist. Und vielleicht deswegen auch der Redebedarf.
Zumindest was ich mitkriege im Austausch mit Leuten, deren Familien auch aus verfolgten Gruppen kommen. Der Redebedarf ist vielleicht nicht größer – offenbar gibt es diesen Redebedarf auch bei Enkelinnen und Enkeln von Tätern und Täterinnen – aber es ist ein anderes Gespräch.
Ich habe in einer Dokumentation diesen Satz von einem Psychologen gehört, der sagte: Die Opfer brauchen immer viel länger, sich damit zu beschäftigen. Und die Täter und Täterinnen wollen das so schnell wie möglich vergessen. Ich finde, das spürt man. Vielleicht deswegen gibt es so viele Bücher und Berichte mit dieser Verfolgungsgeschichte von den Opfern und dazu im Vergleich so wenige Berichte von Leuten, die schreiben würden: Ich war Wachmann in Auschwitz. Warum habe ich das getan? Das erzählt man nicht so gerne, sondern will das vermutlich lieber vergessen.
Ich glaube, das ist der Elefant im Raum zwischen uns. Und der hebelt das aus, diese scheinbar sehr symmetrische Situation zwischen Menschen wie uns: Wir sind wie zwei Teile von einer Münze. Die Münze ist die Shoah und auf der einen Seite die Gruppe, die etwas getan hat (und da müsste man differenzieren, weil nicht alle an der Shoah teilgenommen haben) und auf der anderen die, der das Ganze zugefügt wurde. Was ja an sich nur eine Position ist. Wir wissen nicht, was das damals für Menschen waren; das macht ja nicht direkt aus einer Person eine gute oder umgekehrt eine schlechte Person. Das finde ich auch sehr wichtig, das zu sehen. Dass das heute einfach Positionen sind, die erstmal gegeben sind und die machen aber was mit den Menschen. Und das wird eben immer noch sehr asymmetrisch erlebt.
HEUSER: Wie genau meinst du das?
FRANK: Na ja, ich werde oft gefragt: Wie haben das deine Oma und dein Opa erlebt? Und ich erzähle das. Wobei, mittlerweile habe ich aufgehört das zu erzählen, denn ich denke mir: was geht dich das eigentlich an? Oder: was ist das? Warum fragt der/diejenige mich das? Befriedigt das, wenn ich sage: sie haben sich versteckt, sie hatten eine falsche Identität. – Was bringt dem das jetzt zu wissen, wie genau haben sie es geschafft nicht in der Gaskammer zu enden? Und ich erfahre fast niemals: was haben die anderen Opis und Omis gemacht? Das ist eine Asymmetrie. Die ist immer noch sehr präsent. Und das meine ich mit dem Elefant im Raum, der auch noch da ist.
HEUSER: Stimmt … Das, was du da sagst, hat mich auch schon etwas weiter gebracht tatsächlich, weil: wenn ich in das Gespräch gehe – im Gegensatz zu einem klassischen Interview – ist es ja das, was ich mir doch eigentlich von einem Austausch wünsche: dass wir gegenseitig offen sind. Denn jetzt haben wir ja diese gewisse Freiheit auch, als Enkel und Enkelinnen darüber zu sprechen. Wir tun es aber immer noch zu wenig, wie du sagst. Wir als Nichtjuden, die Fragen stellen, uns selbst aber bedeckt halten – das ist natürlich kein Gespräch.
Nun gibt es nichtjüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die das, mich eingeschlossen, in ihren Werken ja bereits tun. Das sollte man schon erwähnen. Aber als gesellschaftliches Phänomen – also das öffentliche und wohl größtenteils auch halböffentliche, private Gesprächsklima ist wohl noch recht weit davon entfernt.
Dabei geht es ja eigentlich um ein gemeinsames Lebensklima, ein Sichtbarsein. Und das ist mir auch für eine lebendige Gegenwart so wichtig. Wir leben ja beide auf dem Bodensatz dieser Geschichte in dieser, wie hast du das so treffend genannt: postgenozidalen Gesellschaft im Jetzt und Hier. Wir leben gemeinsam, in dieser Zeit. Wir wollen uns sehen und gesehen werden. Und das heißt ja eigentlich: wir stellen beide Fragen und befragen uns selbst; auch wenn das schmerzt. Weil auch die Vergangenheit weiterhin schmerzt …
FRANK: Ja und ich finde es muss eine Art geben, ohne diesen Schmerz gleichzustellen.
Ich glaube, das ist eine Barriere, wenn man sagt: ist ja alles dasselbe. Schmerz und Verlust gibt es auf beiden Seiten. Das fände ich respektlos so etwas wie: Ich bin ebenfalls traumatisiert, weil meine Familie auch in der NS-Zeit gelitten hat oder weil ich nicht weiß, ob meine Großeltern sich wie Arschlöcher verhalten haben oder nicht. Mag sein, aber, hey, niemand wollte die umbringen nur dafür, dass sie da waren.
Aber wenn man das schon als Basis hat: dass man unterschiedliches Terrain hat, das unterschiedliche Konsequenzen hat, dann kann man vielleicht anfangen zu sprechen und wie du sagst: zu wünschen … Ich wünsche mir einen Raum, wo alle unsere Emotionen, die mit dieser Geschichte verbunden sind, Platz haben. Von Verzweiflung und Trauer bis zu purer Wut, ohne Zwang zur Versöhnung – und dass wir das zusammen aushalten.
Ich sehe ein großes Potential in uns als dritte Generation. Wahrscheinlich durch die geschichtliche Entfernung und ganz viele andere Faktoren: dass man sich dieses Erbe auch auf Seite der Täternachkommenschaft mal genauer anzuschauen traut. Aber ich will da auch keinen Ratschlag geben. Ich bin eben nicht in dieser Position – das würde mich interessieren wie du das siehst – ich kann nur sagen: als Enkelin auf der anderen Seite der Geschichte, was ich mir leise wünsche würde: dass es viel mehr stattfindet.
HEUSER: Ein ganz klares „ja“ auch meinerseits. Es sollte viel mehr stattfinden, bitte! Nun liegt uns Autorinnen und Autoren die Selbst- und Gesellschaftsbefragung vielleicht schon von Berufswegen näher. Aber eigentlich ist es doch ein urmenschliches Bedürfnis zu wissen, woher man kommt und was einem die vorherigen Generationen mitgegeben haben. Ihre Taten, Erinnerungen und Erfahrungen bilden den Boden, auf dem wir stehen, auch wenn dies mitunter ein schmerzhaftes „Ausgraben und Erinnern“ bedeutet.
Ich habe mir diese Frage auch in meinem letzten Buch gestellt und sie betrifft eigentlich uns alle: Was muss man von einem Menschen, etwa der geliebten Oma, dem geliebten Opa, wissen, um ihn lieben zu können? Und kann man einen Menschen wirklich kennen und begreifen, von dem man nur die Gegenwart sieht?
Ich hege die leise Hoffnung, dass dieses zunehmende Interesse unserer Generation etwa an Herkunft und Ahnenforschung und dem Erstellen von Stammbäumen auch mit sich bringt, sich den möglicherweise schmerzhaften Seiten unseres Erbes zu stellen; und zwar eben nicht im Sinne von Schuld und dementsprechend reflexartiger Schuldabwehr, sondern mit Verantwortung und einem mündigen „Hinsehen“. Denn, wirklich, wir wollen uns doch selbst erkennen. Uns unterscheiden. Uns weiterentwickeln.
FRANK: Ja, wie du sagst, und dazu gehört, finde ich, sich ehrlich komplexe und schmerzhafte Fragen zu stellen: Wie können Menschen, die meine liebe Großeltern waren, an so einem kollektiven Verbrechen irgendwie teilgenommen haben, warum waren sie antisemitisch oder rassistisch, haben daran geglaubt und das mit verbreitet? Wie passiert so was?
Da könnte noch viel mehr passieren. Auch als eine wichtige Lehre für die Menschheit. Ich meine, kollektiver Hass ist ja leider nicht vorbei auf dieser Welt, in den verschiedensten Kontexten. Und ich glaube da an diese postgenozidale Gesellschaft, die sich aufrichtig auseinandersetzt mit ihrem Erbe – da liegt noch viel Potential.
Und noch ganz wichtig: Verständnis heißt ja nicht entschuldigen. Denn vergeben können nur die Toten. Das geht uns nichts an, darum geht’s überhaupt nicht. Es ist keine moralische Frage. Klar, es gibt ganz viele moralische Aspekte. Aber wenn wir uns jetzt jenseits von diesen moralischen Aspekten bewegen, was können wir darüber über uns Menschen lernen, was können wir verstehen? Und selbst wenn das Verstehen nicht möglich ist – wir können uns annähern als Leute, die das selbst nicht erlebt haben.
HEUSER: Ja. Ich glaube, was uns schwerfällt und was ich mir aber wünschen würde, ist dieses Aushalten des Unvereinbaren, Widersprüchlichen. Wir wollen ja doch zusammenleben …
FRANK: Aushalten … ja…
HEUSER: Auch auszuhalten eben, dass wir nicht alles glätten, begreifen oder beantworten können. Auszuhalten, sich dennoch und vielleicht gerade deswegen diese Fragen zu stellen, die du hier als Beispiele ja auch angeführt hast. Getragen ja doch von dem Wunsch, dass wir miteinander sein wollen. Denn wenn du sagst, dass du dich nicht sicher fühlen kannst hier, dann ist das ja auch mein Problem und ein großer Schmerz: dass dieses Land, dem ich mich zugehörig fühle, diese Atmosphäre erzeugt. Da gilt es sich zu rühren, laut zu werden.
Dich betrifft es natürlich elementarer. – Ich wiederum habe ja immerhin den Luxus der Wahl; zu sagen: ich könnte mich da raushalten und bliebe unbehelligt. Die Frage lautet: Wie möchte ich, wie wollen wir denn heute leben? Ich wünsche mir mein Land so, dass Menschen sich hier nicht fürchten müssen. Denn was gedeiht auf Furcht und Angst? Sehen wir ja fatalerweise …
Und das bedeutet, dass ich mich auch befrage: Wie kann das sein, dass mein geliebter Opa Dinge getan hat, in denen ich ihn nicht wiedererkenne als den Mann, der so liebevoll war und mir sehr nah stand. Auszuhalten, dass ich nicht sofort, und trotz jener Transformationen des autobiographischen Schreibens, vielleicht sogar nie eine befriedigende Antwort darauf finde. Aber dennoch darum ringen, halt …
FRANK: Ich finde, das ist ein sehr wichtiges Wort, dieses aushalten.
HEUSER: Nicht aufzugeben …
FRANK: Und weiter fragen. Aber eben nicht mit dem Ziel, darin bequem zu werden. Sondern weiter probieren. Zu begreifen, woher Hass kommt und sich verbreitet. Wir haben die zeitliche Distanz für uns – wir sind ja Enkelinnen. Und diese zeitliche Distanz gibt uns eine gewisse Ruhe für diese Betrachtung, die man mitten in den Ereignissen nicht hat, wenn man selber existentiell bedroht wird. In dieser zeitlichen Distanz, Ruhe und dem Willen, sich zu begegnen, sehe ich das Potential von unseren Enkelinnen-Gesprächen.
HEUSER: Gespräche, die unabschließbar bleiben - umso wichtiger! Ja, ich glaube nach wie vor, dass diese Gesprächsversuche gerade jetzt bei all dem viralen Hass und trotz ihrer Fragilität so immens wichtig sind. Das ist immerhin etwas, also nicht nichts. Denn zu sprechen und sich zu befragen, auch wenn dies mangelhaft bleibt, ist immer noch so viel besser als zu verstummen oder gar nicht mehr zu fragen.
Dies ist nämlich leider eine große Gefahr, die ich gerade sehe in dieser toxischen Gemengelage aus Ressentiments und Resignation. Mir wird sehr oft gesagt, auch von Freunden, man könne eigentlich gar nichts mehr sagen, es sei alles viel zu komplex und unübersichtlich. Aber, was bliebe uns dann?
FRANK: Ja, was bliebe uns dann?
Deutsch-jüdische Gespräche (3): Andrea Heuser und Nathalie Frank>
Zur Reihe: Zeit wahrzunehmen, zuzuhören und zu erwidern. – Angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas möchten wir hier einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche eröffnen. Denn Literatur ist immer auch ein Verhandeln und Transformieren von Wirklichkeiten und Möglichkeiten; ein Im-Gespräch-stehen. Wir laden ein zum Lesen, Zuhören und zum Erwidern; zu einem Austausch zwischen deutschsprachigen jüdischen und nichtjüdischen Schreibenden und Kunstschaffenden über alles, worüber sie jeweils miteinander reden mögen.
Das dritte Gespräch führten die Autorinnen Nathalie Frank und Andrea Heuser.
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ANDREA HEUSER: Liebe Nathalie, wir haben uns gestern [im Dezember, Anm. d. Red.] und auch jetzt noch mal hier im NS-Dokumentationszentrum getroffen, wo du bis eben an einem Workshop teilgenommen hast: „Archive der Erinnerungen“…
NATHALIE FRANK: Ja, das ist ein Workshop, wo wir mit Archivbildern, hier mit Erinnerungen des Warschauer Ghettos, gearbeitet haben. Eine ganz besondere Angelegenheit, unter der Leitung von Barbara Yelin; einer Comickünstlerin, mit der ich wahnsinnig gern zusammenarbeite. Dieses Mal war das Thema besonders nah an meiner eigenen Arbeit, die sich ja auch mit Erinnerung, mit der Verfolgung von Juden und Jüdinnen in der NS-Zeit beschäftigt. Die Ausstellung hat alle Teilnehmenden sehr mitgenommen …
Und wenn ich hier einen Bogen zu unserem Thema schlagen darf: Ich wohne in Deutschland seit zwölf Jahren und es fällt mir immer wieder auf, dass meine Perspektive schon ein bisschen eine andere ist.
HEUSER: Ja, inwiefern?
FRANK: Über meine eigene Herkunftsgeschichte identifiziere ich mich natürlich eher mit den Jüdinnen und Juden. Und nicht mit den Nazis, die den Scheiß gebaut haben. Die meisten, die Mehrheit in Deutschland identifiziert sich ja über ihre Nachkommenschaft mit einer Generation der „Täter“ – wobei ich den Begriff der „Täter/Tätergesellschaft“ jetzt nicht einfach so stehen lassen würde; diesen Begriff müsste man besprechen. Wir wissen ja, dass nicht alle Deutsche das NS-Regime unterstützt haben oder Mitläufer waren.
HEUSER: Ja, da hast du recht, das ist natürlich komplex. Was ich aber daran interessant finde, am NS-Dokumentationszentrum als einem Ort der Begegnung und an unserer Begegnung jetzt hier: Der Ort bringt dieses Übereinanderlagern von Vergangenheit und Gegenwart mit sich. Und wie sortieren wir uns da, innerlich?
FRANK: Ja, ich glaube, dies spüren alle hier auf ihre Weise …
HEUSER: Also ich merke, wenn ich hierher komme fühle ich mich gleich etwas schwerer … Und dann tauchen wir danach in die lärmenden Straßen ein und gehen zusammen spazieren, gehen in die Gegenwart, und alles fließt so ineinander …
FRANK: … und ich habe da gleich ein Bild im Kopf; also von uns, wie ich uns betrachte von ferne: Zwei Frauen, die da spazieren, in München, an einem Adventssamstag und suchen nach einem Café in der Stadt. Und man erkennt nicht mit seinen Augen: da ist eine Enkelin von deutschen Juden und eine Enkelin von deutschen Nichtjuden. Das ist ja faktisch. Aber da sind eben die beiden Enkelinnen, die sich da in München heute kennenlernen und sprechen. Und suchen da …
HEUSER: … nicht nur nach einem Café …
(c) Literaturportal Bayern
FRANK: … ja, sondern auch ein Gesprächsterrain, das diesen Zusammenhang irgendwie weiterführt, die versuchen: Was machen wir damit, mit diesem Wissen, dass wir Enkelinnen von Deutschen sind, die jeweils in einer ganz anderen Position in dieser Gesellschaft waren? Und diese Positionen sind, wie ich finde, immer noch sehr spürbar. Vor allem jetzt mit dieser Antisemitismuswelle, die man seit dem 7. Oktober lauter hört...
HEUSER: Hört und spürt …
FRANK: Und ich finde, eine Sache ist uns spätestens seit diesem 7. Oktober klar: Dass diese Sache nicht ganz rund ist, noch immer nicht, und noch nicht ganz verarbeitet wurde. Was nicht heißt, man sollte jetzt die ganze Erinnerungsarbeit heruntermachen, die ja in der Gesellschaft stattfindet und stattgefunden hat.
Aber eben einfach anerkennen, dass es lange noch nicht rund ist. Und dass es immer noch unbequem ist. Ich spreche jetzt ja eher aus der Jüdisches-Erbe-Position. Aber aus einer nichtjüdischen Position wird es wahrscheinlich auch immer noch ein unbequemes Erbe sein, mit dem man hadert. Vielleicht ist es gut so, es ist und wird und soll unbequem für alle bleiben. Und unser gemeinsames Anliegen ist es nicht, es „bequem“ zu machen, sondern: Wie machen wir daraus einen produktiven oder vielleicht einfach auch erst einmal nur einen interessanten Gesprächsraum draus? Was können wir da öffnen?
HEUSER: Genau. Und wie begegnen wir uns? Ich denke: Das eine ist das Erinnern; die sogenannte Erinnerungsarbeit. Auch so ein schwieriges Wort, das ja zeigt, dass das wohl nicht so ganz von alleine läuft auf kollektiver Ebene. Vergangenheit. Gegenwart. Das sind sehr abstrakte Begriffe in gewisser Weise. Und wir als Menschen sind so dazwischen. Wir erleben dies und wir erleben das. Und die Frage, die darin ja auch bei uns aufkommt, lautet: Wie begegnen wir uns? Du und ich zum Beispiel, wir sind ja auch in vielen Rollen, die wir gemeinsam haben: wir sind beide Mütter, wir sind beide Schriftstellerinnen und wir sind eben Nachfahren. Enkelinnen. Die eine gemeinsame und eine trennende Geschichte gleichzeitig haben.
FRANK: Ja…
HEUSER: Und wenn wir uns in diesen Rollen begegnen und das hast du gestern im Café so schön gesagt: Wir sprechen miteinander und es findet eine wirklich schöne Begegnung statt. Und gleichzeitig haben wir in dem Gespräch gewisse „Rollen“/Positionen. Und die gilt es zu sehen; ich finde: Einerseits spürt man, dass da ein ganz wichtiges Potential drin steckt in diesen Rollen: Jetzt haben wir Enkelinnen und Enkel ja noch eine Notwendigkeit, eine Dringlichkeit darüber zu sprechen …
FRANK: … denn es geht uns ja noch direkter an …
HEUSER: … und für die nächste Generation ist es dann aber nur noch Geschichte. Bei uns ist es noch Familiengeschichte. Und wir haben das Bedürfnis zu sprechen. Anderseits trauen wir uns nicht; sicher auch, weil es ja noch schmerzbesetzt ist. Auch wenn die Schuld nicht mehr das Thema ist. Aber die Verantwortung. Und die lässt einen manchmal verstummen. Und wie schaffen wir es also miteinander zu sprechen? Was würdest du dir wünschen? Dass es diese „Rollen“ vielleicht gar nicht erst gäbe?
FRANK: Ich finde es erstmal wichtig, die Begriffe „Rollen“ und „Positionen“ zu unterscheiden. „Rollen“ ist für mich das, was wir aus diesen „Positionen“ machen, das hat etwas mit unserer Erwartungshaltung zu tun. – Ich finde es sehr interessant, zu betrachten, in was für Rollen wir uns gegenseitig sehen, was wir voneinander dann erwarten. Das könnte ein Thema für eine ganze Gesprächsreihe sein.
Jetzt aber möchte ich mich auf diese „Positionen“ konzentrieren: Da ist ein gewisser Widerstand in mir. Ein Teil von mir würde sich wünschen, es wäre egal: Wir sind alle nur Menschen. Wir waren damals nicht da. Ein anderer Teil kann nicht ignorieren, dass wir mit einem anderen Erbe leben. Und dies hat andere psychologische Folgen. Das ist einfach ein Fakt. Und das scheint nicht vereinbar zu sein.
Aber ich finde es wichtig das in sich zu vereinbaren: Wir sind auf der eine Seite Menschen und wir haben nichts getan; wir sind in einer späteren Welt geboren und erst einmal hat diese Geschichte nicht mehr so viel mit unserer Lebensrealität zu tun. Trotzdem, und es haben genug Psychologen daran gearbeitet und diese Prozesse beschrieben: Es hat andere Folgen, wenn man in seiner direkten Familienlinie eine Verfolgungs- oder eine Tätergeschichte hat.
Und ich glaube, in meiner Idealvorstellung kann man beides gleichzeitig vereinbaren: Wir sind unschuldige Erbinnen von dieser Geschichte und wir sind beide aus anderen Familienpositionen heraus Teil einer postgenozidalen Gesellschaft. Und wir haben da eine andere Position. Vielleicht ein kleines Beispiel: Wenn ich einen Film über den Holocaust sehe, habe ich Bauchschmerzen, wahrscheinlich du auch ..
HEUSER: … ja, allerdings …
FRANK: Aber seit ich klein bin habe ich auch Verfolgungsträume. Das kommt bestimmt aus meiner Familiengeschichte. Ich träum immer wieder davon, dass ich verfolgt werde und jemand will mich töten. Und ich vermute, diese Träume hast du nicht?
HEUSER: Also, ganz offen und ehrlich: Ich habe teilweise auch massive Verfolgungsträume gehabt, ganz besonders in der Kindheit. Aber die haben sicherlich einen anderen Hinter- oder besser: Untergrund. Und das ist ja das, was du meinst: Wir träumen da auf eine andere und wohl nicht zu vereinbarende Weise …
FRANK: Ja. Und vielleicht auch so: seit ich ein Kind habe, habe ich die Sorge, jemand könnte an unserer Tür klingeln und uns deportieren. Und dann wäre der schöne, gemütliche Familientraum sofort vorbei. Diese Vorstellung ist einfach in mir.
HEUSER: Ja, das ist sehr anders.
FRANK: Das ist für mich so ein Fakt, dass das alles von einem zum anderen Tag komplett zerstört sein kann. Weil, das wurde schon einmal zerstört in meiner Familiengeschichte. Und zwar auf eine riesige kollektive Art und Weise. Und ich glaube, das ist sehr wichtig das anzuerkennen: dass dies anders ist. Und vielleicht deswegen auch der Redebedarf.
Zumindest was ich mitkriege im Austausch mit Leuten, deren Familien auch aus verfolgten Gruppen kommen. Der Redebedarf ist vielleicht nicht größer – offenbar gibt es diesen Redebedarf auch bei Enkelinnen und Enkeln von Tätern und Täterinnen – aber es ist ein anderes Gespräch.
Ich habe in einer Dokumentation diesen Satz von einem Psychologen gehört, der sagte: Die Opfer brauchen immer viel länger, sich damit zu beschäftigen. Und die Täter und Täterinnen wollen das so schnell wie möglich vergessen. Ich finde, das spürt man. Vielleicht deswegen gibt es so viele Bücher und Berichte mit dieser Verfolgungsgeschichte von den Opfern und dazu im Vergleich so wenige Berichte von Leuten, die schreiben würden: Ich war Wachmann in Auschwitz. Warum habe ich das getan? Das erzählt man nicht so gerne, sondern will das vermutlich lieber vergessen.
Ich glaube, das ist der Elefant im Raum zwischen uns. Und der hebelt das aus, diese scheinbar sehr symmetrische Situation zwischen Menschen wie uns: Wir sind wie zwei Teile von einer Münze. Die Münze ist die Shoah und auf der einen Seite die Gruppe, die etwas getan hat (und da müsste man differenzieren, weil nicht alle an der Shoah teilgenommen haben) und auf der anderen die, der das Ganze zugefügt wurde. Was ja an sich nur eine Position ist. Wir wissen nicht, was das damals für Menschen waren; das macht ja nicht direkt aus einer Person eine gute oder umgekehrt eine schlechte Person. Das finde ich auch sehr wichtig, das zu sehen. Dass das heute einfach Positionen sind, die erstmal gegeben sind und die machen aber was mit den Menschen. Und das wird eben immer noch sehr asymmetrisch erlebt.
HEUSER: Wie genau meinst du das?
FRANK: Na ja, ich werde oft gefragt: Wie haben das deine Oma und dein Opa erlebt? Und ich erzähle das. Wobei, mittlerweile habe ich aufgehört das zu erzählen, denn ich denke mir: was geht dich das eigentlich an? Oder: was ist das? Warum fragt der/diejenige mich das? Befriedigt das, wenn ich sage: sie haben sich versteckt, sie hatten eine falsche Identität. – Was bringt dem das jetzt zu wissen, wie genau haben sie es geschafft nicht in der Gaskammer zu enden? Und ich erfahre fast niemals: was haben die anderen Opis und Omis gemacht? Das ist eine Asymmetrie. Die ist immer noch sehr präsent. Und das meine ich mit dem Elefant im Raum, der auch noch da ist.
HEUSER: Stimmt … Das, was du da sagst, hat mich auch schon etwas weiter gebracht tatsächlich, weil: wenn ich in das Gespräch gehe – im Gegensatz zu einem klassischen Interview – ist es ja das, was ich mir doch eigentlich von einem Austausch wünsche: dass wir gegenseitig offen sind. Denn jetzt haben wir ja diese gewisse Freiheit auch, als Enkel und Enkelinnen darüber zu sprechen. Wir tun es aber immer noch zu wenig, wie du sagst. Wir als Nichtjuden, die Fragen stellen, uns selbst aber bedeckt halten – das ist natürlich kein Gespräch.
Nun gibt es nichtjüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die das, mich eingeschlossen, in ihren Werken ja bereits tun. Das sollte man schon erwähnen. Aber als gesellschaftliches Phänomen – also das öffentliche und wohl größtenteils auch halböffentliche, private Gesprächsklima ist wohl noch recht weit davon entfernt.
Dabei geht es ja eigentlich um ein gemeinsames Lebensklima, ein Sichtbarsein. Und das ist mir auch für eine lebendige Gegenwart so wichtig. Wir leben ja beide auf dem Bodensatz dieser Geschichte in dieser, wie hast du das so treffend genannt: postgenozidalen Gesellschaft im Jetzt und Hier. Wir leben gemeinsam, in dieser Zeit. Wir wollen uns sehen und gesehen werden. Und das heißt ja eigentlich: wir stellen beide Fragen und befragen uns selbst; auch wenn das schmerzt. Weil auch die Vergangenheit weiterhin schmerzt …
FRANK: Ja und ich finde es muss eine Art geben, ohne diesen Schmerz gleichzustellen.
Ich glaube, das ist eine Barriere, wenn man sagt: ist ja alles dasselbe. Schmerz und Verlust gibt es auf beiden Seiten. Das fände ich respektlos so etwas wie: Ich bin ebenfalls traumatisiert, weil meine Familie auch in der NS-Zeit gelitten hat oder weil ich nicht weiß, ob meine Großeltern sich wie Arschlöcher verhalten haben oder nicht. Mag sein, aber, hey, niemand wollte die umbringen nur dafür, dass sie da waren.
Aber wenn man das schon als Basis hat: dass man unterschiedliches Terrain hat, das unterschiedliche Konsequenzen hat, dann kann man vielleicht anfangen zu sprechen und wie du sagst: zu wünschen … Ich wünsche mir einen Raum, wo alle unsere Emotionen, die mit dieser Geschichte verbunden sind, Platz haben. Von Verzweiflung und Trauer bis zu purer Wut, ohne Zwang zur Versöhnung – und dass wir das zusammen aushalten.
Ich sehe ein großes Potential in uns als dritte Generation. Wahrscheinlich durch die geschichtliche Entfernung und ganz viele andere Faktoren: dass man sich dieses Erbe auch auf Seite der Täternachkommenschaft mal genauer anzuschauen traut. Aber ich will da auch keinen Ratschlag geben. Ich bin eben nicht in dieser Position – das würde mich interessieren wie du das siehst – ich kann nur sagen: als Enkelin auf der anderen Seite der Geschichte, was ich mir leise wünsche würde: dass es viel mehr stattfindet.
HEUSER: Ein ganz klares „ja“ auch meinerseits. Es sollte viel mehr stattfinden, bitte! Nun liegt uns Autorinnen und Autoren die Selbst- und Gesellschaftsbefragung vielleicht schon von Berufswegen näher. Aber eigentlich ist es doch ein urmenschliches Bedürfnis zu wissen, woher man kommt und was einem die vorherigen Generationen mitgegeben haben. Ihre Taten, Erinnerungen und Erfahrungen bilden den Boden, auf dem wir stehen, auch wenn dies mitunter ein schmerzhaftes „Ausgraben und Erinnern“ bedeutet.
Ich habe mir diese Frage auch in meinem letzten Buch gestellt und sie betrifft eigentlich uns alle: Was muss man von einem Menschen, etwa der geliebten Oma, dem geliebten Opa, wissen, um ihn lieben zu können? Und kann man einen Menschen wirklich kennen und begreifen, von dem man nur die Gegenwart sieht?
Ich hege die leise Hoffnung, dass dieses zunehmende Interesse unserer Generation etwa an Herkunft und Ahnenforschung und dem Erstellen von Stammbäumen auch mit sich bringt, sich den möglicherweise schmerzhaften Seiten unseres Erbes zu stellen; und zwar eben nicht im Sinne von Schuld und dementsprechend reflexartiger Schuldabwehr, sondern mit Verantwortung und einem mündigen „Hinsehen“. Denn, wirklich, wir wollen uns doch selbst erkennen. Uns unterscheiden. Uns weiterentwickeln.
FRANK: Ja, wie du sagst, und dazu gehört, finde ich, sich ehrlich komplexe und schmerzhafte Fragen zu stellen: Wie können Menschen, die meine liebe Großeltern waren, an so einem kollektiven Verbrechen irgendwie teilgenommen haben, warum waren sie antisemitisch oder rassistisch, haben daran geglaubt und das mit verbreitet? Wie passiert so was?
Da könnte noch viel mehr passieren. Auch als eine wichtige Lehre für die Menschheit. Ich meine, kollektiver Hass ist ja leider nicht vorbei auf dieser Welt, in den verschiedensten Kontexten. Und ich glaube da an diese postgenozidale Gesellschaft, die sich aufrichtig auseinandersetzt mit ihrem Erbe – da liegt noch viel Potential.
Und noch ganz wichtig: Verständnis heißt ja nicht entschuldigen. Denn vergeben können nur die Toten. Das geht uns nichts an, darum geht’s überhaupt nicht. Es ist keine moralische Frage. Klar, es gibt ganz viele moralische Aspekte. Aber wenn wir uns jetzt jenseits von diesen moralischen Aspekten bewegen, was können wir darüber über uns Menschen lernen, was können wir verstehen? Und selbst wenn das Verstehen nicht möglich ist – wir können uns annähern als Leute, die das selbst nicht erlebt haben.
HEUSER: Ja. Ich glaube, was uns schwerfällt und was ich mir aber wünschen würde, ist dieses Aushalten des Unvereinbaren, Widersprüchlichen. Wir wollen ja doch zusammenleben …
FRANK: Aushalten … ja…
HEUSER: Auch auszuhalten eben, dass wir nicht alles glätten, begreifen oder beantworten können. Auszuhalten, sich dennoch und vielleicht gerade deswegen diese Fragen zu stellen, die du hier als Beispiele ja auch angeführt hast. Getragen ja doch von dem Wunsch, dass wir miteinander sein wollen. Denn wenn du sagst, dass du dich nicht sicher fühlen kannst hier, dann ist das ja auch mein Problem und ein großer Schmerz: dass dieses Land, dem ich mich zugehörig fühle, diese Atmosphäre erzeugt. Da gilt es sich zu rühren, laut zu werden.
Dich betrifft es natürlich elementarer. – Ich wiederum habe ja immerhin den Luxus der Wahl; zu sagen: ich könnte mich da raushalten und bliebe unbehelligt. Die Frage lautet: Wie möchte ich, wie wollen wir denn heute leben? Ich wünsche mir mein Land so, dass Menschen sich hier nicht fürchten müssen. Denn was gedeiht auf Furcht und Angst? Sehen wir ja fatalerweise …
Und das bedeutet, dass ich mich auch befrage: Wie kann das sein, dass mein geliebter Opa Dinge getan hat, in denen ich ihn nicht wiedererkenne als den Mann, der so liebevoll war und mir sehr nah stand. Auszuhalten, dass ich nicht sofort, und trotz jener Transformationen des autobiographischen Schreibens, vielleicht sogar nie eine befriedigende Antwort darauf finde. Aber dennoch darum ringen, halt …
FRANK: Ich finde, das ist ein sehr wichtiges Wort, dieses aushalten.
HEUSER: Nicht aufzugeben …
FRANK: Und weiter fragen. Aber eben nicht mit dem Ziel, darin bequem zu werden. Sondern weiter probieren. Zu begreifen, woher Hass kommt und sich verbreitet. Wir haben die zeitliche Distanz für uns – wir sind ja Enkelinnen. Und diese zeitliche Distanz gibt uns eine gewisse Ruhe für diese Betrachtung, die man mitten in den Ereignissen nicht hat, wenn man selber existentiell bedroht wird. In dieser zeitlichen Distanz, Ruhe und dem Willen, sich zu begegnen, sehe ich das Potential von unseren Enkelinnen-Gesprächen.
HEUSER: Gespräche, die unabschließbar bleiben - umso wichtiger! Ja, ich glaube nach wie vor, dass diese Gesprächsversuche gerade jetzt bei all dem viralen Hass und trotz ihrer Fragilität so immens wichtig sind. Das ist immerhin etwas, also nicht nichts. Denn zu sprechen und sich zu befragen, auch wenn dies mangelhaft bleibt, ist immer noch so viel besser als zu verstummen oder gar nicht mehr zu fragen.
Dies ist nämlich leider eine große Gefahr, die ich gerade sehe in dieser toxischen Gemengelage aus Ressentiments und Resignation. Mir wird sehr oft gesagt, auch von Freunden, man könne eigentlich gar nichts mehr sagen, es sei alles viel zu komplex und unübersichtlich. Aber, was bliebe uns dann?
FRANK: Ja, was bliebe uns dann?