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21.06.2013, 10:12 Uhr
Frank Piontek
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [179]: Metaphysischer Garten mit böhmischem Appendix und Postskriptlein

Seelenlandschaften: die böhmischen Gebirge, gesehen mit den Augen Caspar David Friedrichs

Was hilft gegen die Hysterie? Die Ruhe, die eine schöne Landschaft zu geben vermag. In diesem Fall ist es eine stille Landschaft, ja: die beiden Freunde gehen in das Stille Land. Eine schöne Bezeichnung für einen Ort, der offensichtlich halb Natur, halb Kultur ist: eine Seelenlandschaft, wie der populäre Begriff lautet, der mir von Theaterstücken (des Heiligen Anton) und Gemälden (des C. D. F.) vertraut ist. Das Grimmsche Wörterbuch kennt den Begriff noch nicht, obwohl die Sache merklich älter ist. Jean Paul parallelisiert die Landschaft und die Seele, wenn er nach ihrer Darstellbarkeit fragt: „du stille Seele, die du es noch in der deinigen bewachst und nur ein irdisches Bild davon auf die Erde geworfen hast?“

Das klingt ein wenig kryptisch, aber der Brief, den die unglückliche[1] Beata an ihre Freundin Philippine schickt, macht klar, wessen Seele hier gemeint ist: es ist die des verstorbenen Fürsten, der dieses „stille Land“ gestalten ließ, denn auch Beata wandelt gern durch diesen Landstrich, diesen Fluchtort für verletzte Seelen: „dann seh' ich den Geist der trauernden Fürstin einsam durch seine Werke wandeln, und ich gehe mit ihm und fühle, was er fühlet, und ich weine noch eher als er.“ Man sieht: auch Fürstens haben das Talent zur tiefsten Empfindsamkeit. Sie sind in diesem Roman nicht allein die Objekte satirisch-realistischen Spotts und harter Kritik, sie repräsentieren auch das Bessere im Menschen: den Hang zu einer vergeistigten Existenz. In der gestalteten Empfindungslandschaft, die wir uns als einen englischen Garten vorstellen müssen, scheinen sie endlich, seelenvoll, zu sich selbst gekommen zu sein, ja: sie wirken noch über ihren Tod hinaus auf Wesen wie Gustav und Beata, die sich in deren Seelenlandschaften wohl zu fühlen scheinen. Es handelt sich also eher um metaphysische als um physische Gärten.

 

Böhmischer Appendix

Fragt mich doch gestern Abend eine tschechische Germanistin, was man von der Unsichtbaren Loge zu halten habe – sie wäre im Selektionsverfahren darauf gekommen, gerade diesen Roman als ersten Jean-Paul-Roman zu lesen. Ein großartiges Buch, sage ich, ein reiches Buch – und vielleicht ist es deshalb gut, gerade diesen Roman zu lesen, weil es Jean Pauls erster war. Sich das Werk eines Autors systematisch zu erarbeiten ist ja nicht dumm, sondern verhilft zu ungeahnten Aufschlüssen über die Ideen und den Stil eines Autors. Anderes Beispiel: ein guter Freund hat bereits zweimal Prousts Recherche komplett gelesen. Dann nahm er sich den Jean Santeuil vor – ein Fehler, wie er sagte, denn in diesem Romanfragment ist die Recherche schon in nuce enthalten, nur nicht so raffiniert. Hätte er zuerst den Santeuil gelesen, hätte er mehr Freude an ihm gehabt, denn das Fragment ist nicht schlecht, aber in Hinblick auf das vollendete Großwerk nur eine ermüdende Wiederholung.

Ich kann also der tschechischen Germanistin nur raten, die Loge als ersten Roman zu lesen – und nicht so ein Monster wie den Titan, an dem man vielleicht, wenn's eine jeanpaulsche Erstlektüre ist, nur scheitern kann (auch von diesem Fall habe ich gestern gehört). Schade also, dass es keine preiswerte Einzel- und/oder Taschenbuchausgabe der Loge gibt. Je länger ich sie lese, desto mehr merke ich, wie reich an Kontrasten, Szenen, Bildern, Details, Gefühlslagen und Meinungen dieses Fragment doch ist. Dass der Autor selbst über der Unübersichtlichkeit seines Werkes stolperte und, äußerlich betrachtet, am Sujet scheiterte: es scheint mir eher ein Vor- als ein Nachteil für den gegenwärtigen Leser zu sein, dem ein derartiger Fragmentarismus nichts Neues mehr sein sollte. Moderne war schließlich immer – die Jeanpaulianer wissen das.

Jean Paul und Böhmen – dies wäre im Übrigen des Geflechts von Abschweifungen ein eigenes Thema. Leider hat er nur Franzensbad besucht. Wie schön wäre es gewesen, wenn er die große Stadt Prag oder das entzückende Pilsen gesehen hätte – wie schön hätte er über das alte Zauberland und die stille Landschaft der böhmischen Wälder schreiben können...

 

Postskriptlein zum Appendix

Nur mal ein bisschen recherchiert – und schon finde ich den Hinweis im Register der Jean-Paul-Briefe, dass er an einer Stelle (Bd. IV/1, S. 173, Z. 25) die mythische Fürstin Libussa erwähnt. Statt nun den Monstervortrag hier einzurücken, den ich mal über Libussa / Libuše in der Deutsch-Tschechischen Gesellschaft Bayreuth gehalten habe, kann ich nur raten, sich einmal näher mit dieser faszinierenden Gestalt zu befassen. Es lohnt sich, wie der Blogger zu sagen pflegt.

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[1] Unglücklich ist sie, weil sie sich am Hof furchtbar unwohl fühlt – den Abstand messend, der sie von den Hofschranzen trennt.