Rezension zu Birgit Müller-Wielands „Im Blick der beschämten Bäume“
„Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Brechts Appell An die Nachgeborenen im Ohr, wird die Herausforderung, eine Erwiderung auf die unsäglichen menschlichen Untaten zu finden, im Blick der beschämten Bäume auf uns zurückgeworfen: Welche Antwort geben wir? Wie menschlich inmitten des Unmenschlichen können, müssen wir sein? Dies ist eine der bohrenden Fragen, die durch die Lektüre dieses jüngsten Gedichtbandes der Autorin Birgit Müller-Wieland in einem aufgerufen wird und nachhallt. Ein ebenso sprachmächtiges wie feinsinniges, berührendes lyrisches Werk.
*
„… letzter Vorschlag / Ein Gedicht“
Gedichte, so die Autorin, sind umso fordernder, je größer die Erschütterung ist.
Mit „Brutkästen in Mariupol“ eröffnet dieser Band einen Echo-Raum tiefster Erschütterung. Die verwaiste und zerstörte ukrainische Neugeborenen-Station erscheint als ein Geburtsort des Schreckens, tief versehrt von der Gewalt des Krieges; sie wird in einer drastischen symbolischen Umkehrung zum memento mori. Die zerbrochenen Brutkästen: „zerrissenes Wurzelwerk, schwarz wie die Monitore / welche Leben anzeigen wollen“.
Leben anzeigen wollen: Den Spuren des sich dennoch behaupten wollenden „atemzarten“ Lebens folgen diese hellsichtigen Gedichte.
Sie blicken hinein in die pulsierenden Zentren des Lebens: in die Herzen; in das Herz einer europäischen Orts- und Städtelandschaft zunächst, in ihre moderne, ambige Topologie aus menschlichem Alltag und Gedächtnisraum, in dem wir unsere Laptops gleich Augenlidern auf- und zuklappen, unsere Hunde herbeirufen und Weihnachten mit dem gezähmten, zur Vergebung begabten Festbaum feiern und die Auferstehung des Frühlings mit feuchten Füßen, während wir alldieweil mit der Angst Umgang haben: „Sag, wo geht die Angst hin / in diesem Monat ohne Ende, der Explosion von Schneeglöckchen / und Schützengräben“.
Die Autorin setzt hier kein Fragezeichen, aber es hallt in einem nach, diese Frage nach dem „wohin“?
Schneeglöckchen und Schützengräben – Sch… derselbe Anlaut, der so Gegensätzliches miteinander in unerträglicher Weise verzahnt: das Keimen, Blühen der Natur, und das Zementieren, Explodieren menschlicher Gewalt; sch… eigentlich will es einem da die Sprache verschlagen.
Dennoch fordern diese Gedichte, entsprechend der aufgerufenen universalen Erschütterungen, umso nachdrücklicher das Sprechen ein. Kein selbstreflexives, in sich gekehrtes Monologisieren findet hier also statt; vielmehr suchen die Gedichte selbst das Gespräch, wollen Im Blick der beschämten Bäume einen solchen Raum eröffnen, sie halten, mit Paul Celan gesprochen, „auf ein Gegenüber zu“.
Wo geht sie hin, unsere Angst, und was macht sie mit uns? Was macht sie aus uns?
„… und besiegen werden wir uns komplett / allein“
Müller-Wielands Gedichte halten es aus, wunde Fragen zu stellen, ohne ihre heilende Antwort zu kennen. Wobei die Wahrheit dessen, so heißt es im Gedicht „Untertan Untergang“, sie ist ja schon längst in uns hineingekrochen. Bei „manchen stürzte sie ins Herz oder benebelt / das Denken“.
Und da, wo die Menschheit verrückt geworden ist und wir so tun, als wüssten wir es nicht, nehmen diese Gedichte nicht von ungefähr auch die kreatürliche, unverstellte Tierseele in den Blick – der Hund, der eigene, der fremde, ist ein stetiger Begleiter, der leuchtende „rote Faden“ durch diese von Menschen entstellte, vergiftete äußere und innere Natur, die die Leser bis nach Japan und in die großartigen Landschaftsdimensionen der USA führt; wo einen, wie etwa im Yosemite Nationalpark, die Natur jenseits des Menschen in ihrer überrumpelnden Rührung gewissermaßen hinterrücks zu berühren versteht und uns in Hinblick darauf sehend werden lässt, wie viel besser diese Schöpfung doch ohne uns Menschen dran wäre:
Zwischen den Riesenbäumen / plötzlich dies Richter-Bild: / Schwarzbärin und Junges / rauchigverwischt – / wir winseln vor Entzücken.
„Wo es keine Menschen gibt, bemühe dich, menschlich zu sein“ – Dieser Ausspruch aus der Mischna, den der israelische Philosoph Omri Boehm als eine Art Leitsatz auf der Suche eines heutzutage noch tragfähigen Humanismus zitiert, könnte auch ein implizites Motto dieser Gedichte sein.
„… tanzende Kopfflügel / immer und jetzt“
Die Bemühungen menschlich zu sein – jenen Spuren des Humanen zu folgen und sie auch zu finden, ist die lichte Perspektive, die stärkende und bestärkende Seite, die in diesen Gedichten gerade inmitten der Erschütterungen umso zarter und nachhaltiger aufleuchtet.
Sie leuchtet etwa auf im Gedicht „Rituale“: ein Paar, in Krankheit und Pflege verbunden; jeder in seiner eigenen inneren Perspektive und doch gibt es da diese gemeinsame Welt. Innigkeit wird über die Freude an den kleinen Dingen vermittelt, einer Abendmahlzeit und dem gemeinsamen Glas, das, auch mit nur Wasser gefüllt, auf das Leben zu erheben eine tapfere, zärtliche Würde hat; das gemeinsame krankheitsbedingt notwendige Staubwischen, die Geste des Zudeckens, das Halten der Hände im Dunkeln („Cortison 1“ und „Cortison 2“). Die Freundinnen im gemeinsamen Haus, die Frühstücke auf dem Balkon, die Tochter, „in ihren Genen schlummert das Glück“.
Und nicht zuletzt findet das Lichte seinen aufwirbelnden, hellen Ausdruck in dem abschließenden Gedicht „Schneehund, Sommer“, das die Gegensätze zusammenbindet in einem ewig anmutenden frohen Augenblick vor dem Horizont des Abschieds: der Ahnung von Schneewolken, die die Schneeglöckchen erinnernd aufrufen und die Schützengräben: „halten wir uns an den Händen hüpfen / Falter über diese Löwenzahnwiese“, dort im Sommerlicht, „wo Schneewolken wirbelweißen / die Hundeohren tanzende Kopfflügel / immer und jetzt“. Wirbelweißen: das Adjektiv wird zum Verb; das Wie wird zur Tätigkeit.
„Sag, wo geht die Angst hin“, sagt/fragt jenes so zentral anmutende Gedicht „Im Blick der beschämten Bäume“ und eine mögliche Antwort gibt uns Hölderlins vielzitierter Vers, der in den Versen Müller-Wielands nicht nur spürbar, sondern auch Gedicht um Gedicht ‚sagbar‘ wird: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Birgit Müller-Wielands Gedichte spenden diesen Trost, ohne die Untröstlichkeit zu glätten. Insofern sind Gedichte immer auch eine unabschließbare Arbeit an dem, was uns vielleicht zu retten, erlösen vermag.
Birgit Müller-Wieland: Im Blick der beschämten Bäume. Gedichte. Otto Müller Verlag, Salzburg 2023, 84 S., ISBN 978-3-7013-1312-9.
Rezension zu Birgit Müller-Wielands „Im Blick der beschämten Bäume“>
„Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Brechts Appell An die Nachgeborenen im Ohr, wird die Herausforderung, eine Erwiderung auf die unsäglichen menschlichen Untaten zu finden, im Blick der beschämten Bäume auf uns zurückgeworfen: Welche Antwort geben wir? Wie menschlich inmitten des Unmenschlichen können, müssen wir sein? Dies ist eine der bohrenden Fragen, die durch die Lektüre dieses jüngsten Gedichtbandes der Autorin Birgit Müller-Wieland in einem aufgerufen wird und nachhallt. Ein ebenso sprachmächtiges wie feinsinniges, berührendes lyrisches Werk.
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„… letzter Vorschlag / Ein Gedicht“
Gedichte, so die Autorin, sind umso fordernder, je größer die Erschütterung ist.
Mit „Brutkästen in Mariupol“ eröffnet dieser Band einen Echo-Raum tiefster Erschütterung. Die verwaiste und zerstörte ukrainische Neugeborenen-Station erscheint als ein Geburtsort des Schreckens, tief versehrt von der Gewalt des Krieges; sie wird in einer drastischen symbolischen Umkehrung zum memento mori. Die zerbrochenen Brutkästen: „zerrissenes Wurzelwerk, schwarz wie die Monitore / welche Leben anzeigen wollen“.
Leben anzeigen wollen: Den Spuren des sich dennoch behaupten wollenden „atemzarten“ Lebens folgen diese hellsichtigen Gedichte.
Sie blicken hinein in die pulsierenden Zentren des Lebens: in die Herzen; in das Herz einer europäischen Orts- und Städtelandschaft zunächst, in ihre moderne, ambige Topologie aus menschlichem Alltag und Gedächtnisraum, in dem wir unsere Laptops gleich Augenlidern auf- und zuklappen, unsere Hunde herbeirufen und Weihnachten mit dem gezähmten, zur Vergebung begabten Festbaum feiern und die Auferstehung des Frühlings mit feuchten Füßen, während wir alldieweil mit der Angst Umgang haben: „Sag, wo geht die Angst hin / in diesem Monat ohne Ende, der Explosion von Schneeglöckchen / und Schützengräben“.
Die Autorin setzt hier kein Fragezeichen, aber es hallt in einem nach, diese Frage nach dem „wohin“?
Schneeglöckchen und Schützengräben – Sch… derselbe Anlaut, der so Gegensätzliches miteinander in unerträglicher Weise verzahnt: das Keimen, Blühen der Natur, und das Zementieren, Explodieren menschlicher Gewalt; sch… eigentlich will es einem da die Sprache verschlagen.
Dennoch fordern diese Gedichte, entsprechend der aufgerufenen universalen Erschütterungen, umso nachdrücklicher das Sprechen ein. Kein selbstreflexives, in sich gekehrtes Monologisieren findet hier also statt; vielmehr suchen die Gedichte selbst das Gespräch, wollen Im Blick der beschämten Bäume einen solchen Raum eröffnen, sie halten, mit Paul Celan gesprochen, „auf ein Gegenüber zu“.
Wo geht sie hin, unsere Angst, und was macht sie mit uns? Was macht sie aus uns?
„… und besiegen werden wir uns komplett / allein“
Müller-Wielands Gedichte halten es aus, wunde Fragen zu stellen, ohne ihre heilende Antwort zu kennen. Wobei die Wahrheit dessen, so heißt es im Gedicht „Untertan Untergang“, sie ist ja schon längst in uns hineingekrochen. Bei „manchen stürzte sie ins Herz oder benebelt / das Denken“.
Und da, wo die Menschheit verrückt geworden ist und wir so tun, als wüssten wir es nicht, nehmen diese Gedichte nicht von ungefähr auch die kreatürliche, unverstellte Tierseele in den Blick – der Hund, der eigene, der fremde, ist ein stetiger Begleiter, der leuchtende „rote Faden“ durch diese von Menschen entstellte, vergiftete äußere und innere Natur, die die Leser bis nach Japan und in die großartigen Landschaftsdimensionen der USA führt; wo einen, wie etwa im Yosemite Nationalpark, die Natur jenseits des Menschen in ihrer überrumpelnden Rührung gewissermaßen hinterrücks zu berühren versteht und uns in Hinblick darauf sehend werden lässt, wie viel besser diese Schöpfung doch ohne uns Menschen dran wäre:
Zwischen den Riesenbäumen / plötzlich dies Richter-Bild: / Schwarzbärin und Junges / rauchigverwischt – / wir winseln vor Entzücken.
„Wo es keine Menschen gibt, bemühe dich, menschlich zu sein“ – Dieser Ausspruch aus der Mischna, den der israelische Philosoph Omri Boehm als eine Art Leitsatz auf der Suche eines heutzutage noch tragfähigen Humanismus zitiert, könnte auch ein implizites Motto dieser Gedichte sein.
„… tanzende Kopfflügel / immer und jetzt“
Die Bemühungen menschlich zu sein – jenen Spuren des Humanen zu folgen und sie auch zu finden, ist die lichte Perspektive, die stärkende und bestärkende Seite, die in diesen Gedichten gerade inmitten der Erschütterungen umso zarter und nachhaltiger aufleuchtet.
Sie leuchtet etwa auf im Gedicht „Rituale“: ein Paar, in Krankheit und Pflege verbunden; jeder in seiner eigenen inneren Perspektive und doch gibt es da diese gemeinsame Welt. Innigkeit wird über die Freude an den kleinen Dingen vermittelt, einer Abendmahlzeit und dem gemeinsamen Glas, das, auch mit nur Wasser gefüllt, auf das Leben zu erheben eine tapfere, zärtliche Würde hat; das gemeinsame krankheitsbedingt notwendige Staubwischen, die Geste des Zudeckens, das Halten der Hände im Dunkeln („Cortison 1“ und „Cortison 2“). Die Freundinnen im gemeinsamen Haus, die Frühstücke auf dem Balkon, die Tochter, „in ihren Genen schlummert das Glück“.
Und nicht zuletzt findet das Lichte seinen aufwirbelnden, hellen Ausdruck in dem abschließenden Gedicht „Schneehund, Sommer“, das die Gegensätze zusammenbindet in einem ewig anmutenden frohen Augenblick vor dem Horizont des Abschieds: der Ahnung von Schneewolken, die die Schneeglöckchen erinnernd aufrufen und die Schützengräben: „halten wir uns an den Händen hüpfen / Falter über diese Löwenzahnwiese“, dort im Sommerlicht, „wo Schneewolken wirbelweißen / die Hundeohren tanzende Kopfflügel / immer und jetzt“. Wirbelweißen: das Adjektiv wird zum Verb; das Wie wird zur Tätigkeit.
„Sag, wo geht die Angst hin“, sagt/fragt jenes so zentral anmutende Gedicht „Im Blick der beschämten Bäume“ und eine mögliche Antwort gibt uns Hölderlins vielzitierter Vers, der in den Versen Müller-Wielands nicht nur spürbar, sondern auch Gedicht um Gedicht ‚sagbar‘ wird: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Birgit Müller-Wielands Gedichte spenden diesen Trost, ohne die Untröstlichkeit zu glätten. Insofern sind Gedichte immer auch eine unabschließbare Arbeit an dem, was uns vielleicht zu retten, erlösen vermag.
Birgit Müller-Wieland: Im Blick der beschämten Bäume. Gedichte. Otto Müller Verlag, Salzburg 2023, 84 S., ISBN 978-3-7013-1312-9.