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27.11.2023, 10:26 Uhr
Gerd Holzheimer
Rezensionen

Rezension zu "Alter Mann, was nun?" von Albert von Schirnding

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Buchcover © Verlag C.H. Beck

Das Alter als eigene Lebensphase mit seinen Licht- und Schattenseiten ist Gegenstand dieses gedankenvollen Buches von Albert von Schirnding. Was sich aus den Reflexionen gewinnen lässt, darüber schreibt der Herausgeber der Literatur in Bayern und Autor Gerd Holzheimer.

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Natürlich denkt man beim ersten Blick auf den Titel Alter Mann, was nun? an den 1932 erschienenen Roman Kleiner Mann – was nun?. Was sich jedoch bei Fallada als Weg durch die sozialen Untiefen der Weimarer Republik darstellt, sind bei Albert von Schirnding Gedankengänge auf späten Wegen. Gänge in doppeltem Sinne, denn was sich Schirnding schon eine ganze Weile als morgendliche Gewohnheit vorgenommen hat, dazu gehört auch der Gang durch den nahen Wald. „Wieder zu Hause, würde ich mich an die Niederschrift eines Prosastücks über ein von draußen mitgebrachtes Thema machen“, so der Vorsatz. Solchermaßen entstand dieses Buch. An den Anfang stellt er Das Märchen vom plötzlichen Reichtum des alten Mannes. Kurz nennt er einige der Gebresten: „Sein Augenlicht flackerte nur noch schwach, sein einst scharfes Gehör war stumpf geworden. Auch das Gehen fiel ihm von Tag zu Tag schwerer.“ Mit einem Mal begleitet ihn „ein Zweiter“, „ein guter Geist“. Dieser fordert ihn auf, „in die Tasche seiner abgetragenen Cordhose“ zu langen – tatsächlich fördert er „einen Klumpen reinen Goldes“ zutage. Zu einem wahren Hans im Glück soll er ihn machen: „Das Gold ist nichts anderes als das, worüber du klagst: dein Altsein. Es ist ein Schatz, der je länger du von ihm Gebauch machst, immer mehr zunimmt.“ Das Gold in der Hand besteht also darin, mit dem „Altsein etwas anzufangen“.

Einen „Lebensgrenzgänger“ nennt er sich. Dazu gehört auch, dass angeeignete Fertigkeiten wieder verloren gehen. Damit steht er weiß Gott nicht allein und zählt eine Reihe von Kollegen auf. „Was ist die Signatur von Grillparzers Leben?“, fragt er sich. Die Antwort: „Sich selber nicht besitzen.“ Resümee: „Fast alles, was zur sogenannten Natur wurde, ist mir abhandengekommen.“ Auch seelische „Störungen“ (so ein eigener Textabschnitt) bleiben nicht aus, gerade dort, wo man sie nicht vermutet, so ängstlich man sie sich auch fernhalten möchte:

Im genau geordneten Gehen, Schreiben, Lesen lauert das Chaos. Ungeahnte Turbulenzen erschüttern die innere Flugbahn. […] Ein in Jahrzehnten gewobenes Weltbild, ein Fleckerlteppich aus mündlicher und schriftlicher Belehrung, Glaubensresten, widersprüchlicher Philosophie und halbverstandener Wissenschaft, Erlebnisessenzen und Vermutungswagnissen, bekommt plötzlich Risse, droht in Fetzen zu gehen, Kronzeugen für die Wahrheit von Erkenntnissen erweisen sich als Abtrünnige; sie gestehen ihre Unzuständigkeit, wissen selbst nicht aus noch ein. […] Innen der Wirbel: Störungen, die sich zur Verstörung verdichten, Zweifel, die der Verzweiflung zutreiben, aber auch der Versuch, sich an neue Ufer zu retten.

Immer wieder offenbart Schirnding seine Neigung zu Verlierern, die er schon in sehr jungen Jahren verspürte, etwa in dem Abschnitt „Spiel und Ernst“:

Die Elemente von Hass, die in meiner Seelenlandschaft nur in Spuren und weit verstreut sich fanden, ballten sich zusammen zur Faust gegen den Sieger, die im Überfluss vorhandene Liebe strömte dem geschändeten Hektor entgegen, wie sie Siegfried und Winnetou betrauert hatte. Was mich nicht erstaunte, war das Erstaunliche, dass Hektor als der Held der Feindesmacht die ungeteilte Sympathie des Dichters genoss, die anders als im west-östlichen Weltkonflikt Partei ergreifenden Götter in den Gegnern die Menschen entdeckte.

Oft bewähren sich gottlob doch auch die „alten Ufer“, die Welt der Antike – oder die Musik der Klassik: „ Wenn ich Schuberts Sonate D 960 höre, sind mir alle diese Umstände, ohne die es sie nicht gäbe, herzlich gleichgültig. Nun kommt der Kairos ins Spiel: die andere Seite des Werks, seine Unbedingtheit, Absolutheit, Augenblickshaftigkeit. Die zweihundert Jahre, die sich zwischen uns ausgebreitet haben, sind spätestens mit dem ersten Basstriller ausgelöscht. Nichts trennt uns mehr.“ Und wenn Schirnding im Münchner Waldfriedhof einem Sarg hinterhergeht, taucht hundert Meter nach der Aussegnungshalle das Grabmal von Hilde Gueden auf. „Ihr Name prangt überdeutlich auf dem Stein und ist mit dem Titel einer Kammersängerin geschmückt. […] am liebsten ist mir der Figaro, in dem sie die Susanna singt. Wenn ich beim Hören des Duettino zwischen Susanna und der Gräfin „Che soave zeffiretto“ in Wonne zerfließe, taucht das Bild des Gueden-Grabmals vor mir auf.“ Im Alter von siebzehn Jahren erlebt er die Münchner Philharmoniker im überfüllten Neuhaussaal in Regensburg, sie führen Bruckners Siebte auf. „Mir wurde heiß, ich hatte das Gefühl, als würde ich aus dem Schlaf einer langen gleichgültigen Vergangenheit in einer anderen Welt erwachen.“

Dem unerhört Tröstlichen in Schirndings Buch, dieser gleichsam überzeitlichen Zeitlichkeit, die auch über den Tod hinausreicht, steht freilich die Endlichkeit gegenüber. Diese Entwicklung bahnt sich schon seit etlichen Jahren an, die Titel seiner Bücher zeigen es: War ich da? Letztes Wegstück. Vorläufige Ankunft. Jugend gestern. Empfindlich trifft ihn, der seinen festen Platz im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hatte, als der Online-Journalismus seinen Lauf nahm.

Was ich seinerzeit noch nicht begriff: der Untergang der alten Welt des Feuilletons und der Tod des gewohnten Theaters und wie viele Abschiede noch gehörten zusammen. Die „herrschende“ Kultur war eine über die Köpfe von Tausenden von Kulturarbeitern hinweg zustande gekommene Vereinbarung gewesen, von der ich geglaubt hatte, sie sei unumstößlich. Auch die Subkulturen hatten ihren Ort in ihr, auch für die radikalen Opponenten war ein bestimmter Platz vorgesehen. Jetzt aber, gegen Ende meiner Lebenszeit, wurde diese Vereinbarung vom freien Willen der Individuen aufgekündigt. Es wird noch lange über meinen Tod hinaus dauern, bis alle Elemente des ehemaligen Zusammenhangs ersetzt sein werden. Aber das Netzwerk, das die Zonen meines (partiellen) Zuhauseseins umschlossen hatte, war für immer zerrissen.

Das Verlorene ist unersetzlich. In dem gar nicht so umfänglichen Buch Alter Mann, was nun? von Albert von Schirnding wird noch einmal so viel aufbewahrt. Wir wünschen uns von ihm – und damit auch uns –, dass noch viele Bücher von ihm folgen, die uns dieses unschätzbare Kulturgut, das einmal lebendig gewesen ist in der „Mitte unserer Gesellschaft“, wie es jetzt immer heißt, wenigstens in unserem Gedächtnis bleiben, wenn es auch kein kollektives mehr ist. Und so müssen wir ihm doch einmal widersprechen, wenn er schreibt: „Meine Schüler haben ihr Griechisch vergessen, meine Bücher sind in den Schoß des Ungeschriebenen zurückgesunken. Ein Stein wurde ins Wasser geworfen, hat ein paar Ringe erzeugt; jetzt ist der Wasserspiegel wieder glatt!“ Stimmt ja gar nicht: Kehrt man mit Albert von Schirnding in das von ihm geliebte Wirtshaus „Lacherdinger“ im nahen Ascholding ein, ruft ihm schon fröhlich die Wirtin entgegen: „Griaß di, Baron! I hob grod in Deim Weiher badt!“

Kalte Zimmer, sind es, in denen er schreibt: „In einem alten Haus wohnen heißt in kalten Zimmern leben […] Ich heize vergeblich die bis zur Decke reichenden Kachelöfen und schweige dazu.“ Ohne dass er es benennt, ist damit natürlich sein Schloss in Harmating gemeint.

Alter Mann, was nun? ist ein bleibender Schatz für Geist, Herz und Seele. „Das Ich altert nicht, wir sterben jung.“

 

Albert von Schirnding: Alter Mann, was nun? München, C.H. Beck Verlag, 176 S., ISBN 978-3-406-80840-1, € 22,00.

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