Verleihung der 33. IBK-Förderpreise für Kulturschaffende 2023 in der Sparte ‚Comic‘
Die 33. IBK-Förderpreise für Kulturschaffende wurden am 26. Oktober 2023 an sieben Comickünstlerinnen und -künstler vergeben. Sheree Domingo, Lena Steffinger, Clara San Millán, Lea Le, Jvana Manser, Rina Jost und Dominik Wendland erhielten den mit je 10'000 Schweizer Franken dotierten Preis. Die Preise sind insgesamt mit 70'000 Schweizer Franken dotiert. Rina Jost wurde zusätzlich mit dem Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Andrea Heuser hat die Preisverleihung für uns besucht.
*
Kulturelle Grenzen überwinden, „Fantasie und Realität verschmelzen lassen“ (Melanie Huml), die starren Narrative auflösen – nicht nur der Comic als hochkreatives, flexibles Genre, sondern auch die Länder der Bodenseeregion machen dieser Tage – vor dem globalen Hintergrund all der gewaltsamen kriegerischen Grenzüberschreitungen – ganz besonders Hoffnung und Freude mit ihrem konstruktiven Austausch zwischen dem Eigenen und dem Anderen, wie im Falle dieser jahrzehntelangen gemeinsamen Preisvergabe für Kulturschaffende aus ihren jeweiligen Ländern und Kantonen.
Die Kunst der Anreise
Freude war überhaupt das vorherrschende Gefühl an diesem gut besuchten Veranstaltungsabend. Für diejenigen, die mit der Deutschen Bahn zur Lindau-Insel anreisten, war es zunächst ganz konkret die Freude, nach stundenlangen Verspätungen, den inzwischen notorischen Zugausfällen und Pannen überhaupt noch angekommen zu sein. Man fühlte sich geradezu nostalgisch an die Zeiten der Kutschen erinnert, wo man während des Pferdewechsels bei einem frischen Bier im Gasthaus wenigstens selbst etwas auftanken konnte und letztlich wohl nur ungleich länger von Augsburg nach Ulm brauchte wie heutzutage. Nähe und Ferne bleiben nun einmal relative Kategorien. Der Anreise in erlebter Pferdestärken-„Geschwindigkeit“ fiel für diesen Veranstaltungsbericht daher leider das Intro „Heldinnenreise“ der Illustratorin und Comiczeichnerin Barbara Yelin zum Opfer. Sehr schade!
Barbara Yelin mit ihrem Intro „Heldinnenreise“ © StMWK
Reisen ist Kunst, ist Comic, ist Musik!
Dass man die schönen Seiten des kreativen, inneren Unterwegsseins den ganzen Abend aber nicht nur vor Augen, sondern auch höchst klangvoll im Ohr behielt, verdankte die Zuhörerschaft dem Ensemble „Le Voyage“ unter Leitung des Trompeters und Komponisten Bastien Rieser. Wer den eindringlich- sanften Klängen seines Jazzensembles weiter nachlauschen möchte, kann dies unter www.bastienrieser.com tun.
Grenzenlos – kreativ – vernetzt
Freude machte es dafür, die preisgewürdigte Formenvielfalt der Sparte Comic bereits auf Ebene der formellen Grußworte sowie in der vielfältigen Art der Werkpräsentationen selbst gespiegelt zu sehen. Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Markus Blume, MdL, entschied sich für eine ansprechende Videogrußbotschaft, die Oberbürgermeisterin der Stadt Lindau, Dr. Claudia Alfons, für eine engagierte Begrüßungsrede.
V.l.o.n.r.u.: Trompeter Bastian Rieser mit Le Voyage, Kunstminister Markus Blume, MdL, OB Dr. Claudia Alfons, IBK-Kommissionsvorsitzender Dr. Roland Hofer, Moderatorin Christine Knödler und Juryvorsitzende Dr. Elisabeth Donoughue, MRn © StMWK
Und auch die Preisträgerinnen und der Preisträger gestalteten ihre jeweiligen Comicpräsentationen höchst unterschiedlich: von der klassischen Lesung über das Werkgespräch bis hin zur Videoinstallation mit performativen Elementen war alles dabei. Kreativ unterfüttert und gerahmt wurden die Werke mit eigens für diesen Abend produzierten Podcasts, einer gemeinsam von den Künstlerinnen und Künstlern gestalteten Postkarte, informativ-anregenden Gesprächen mit Jurymitgliedern sowie einer auf die großen Saal-Bildschirme gebeamten Zitat-Auswahl, der man auch das obige, treffende Wort von Melanie Huml, Europaministerin Bayern und diesjährige Vorsitzende der IBK, entnehmen konnte: „Comics eröffnen uns mit ihrer einzigartigen Kombination aus Texten und Bildern eine Welt, in der Fantasie und Realität miteinander verschmelzen, sich kulturelle Grenzen auflösen und neue Formen des Erzählens und Erklärens erprobt werden. Comic ist experimentell und hoch kreativ!“
Der Comic – wirkungsmächtig und so jung & alt wie die Menschheit selbst
Freude strahlten neben den Laudatorinnen und Laudatoren, über die noch zu sprechen sein wird, dann auch die Juryvorsitzende Dr. Elisabeth Donoughue und der Kommissionsvorsitzende der IBK für Kultur, Dr. Roland E. Hofer, aus. Als sie gemeinsam die Preise vor über 200 Zuschauerinnen und Zuschauern den jungen Künstlerinnen und Künstlern übergaben, wurde deutlich spürbar, dass es ihnen dabei sichtlich um mehr ging, als um eine schöne Pflichterfüllung. Donoughue rückte neben der Wirkungsmächtigkeit des Comics auch noch einmal die oft ignorierte Tatsache ins Licht, dass dieses Medium ebenso alt wie vielschichtig ist. Schließlich gab es sein Kernelement, das Bild, schon vor der Schrift.
Und Freude vermittelte last but not least die charmante und zugewandte Moderation der Kulturjournalistin Christine Knödler, deren intensive Auseinandersetzung mit den jeweiligen Werken nicht nur in den oben erwähnten, von ihr erarbeiteten Podcasts mit den Preisträgerinnen und dem Preisträger mündete, sondern die jeder der sechs Preisträgerinnen sowie dem Preisträger zudem das Gefühl vermittelte, dass dieser Abend gerade wegen ihr und ihm ein so besonderer sei. Und damit hatte sie auch jeweils vollkommen recht.
Comic als Spurensuche und Gedächtnis
Aufwühlend war der Auftakt, den die 1989 in Böblingen geborene und vom Land Baden-Württemberg nominierte Künstlerin Sheree Domingo mit ihrem „Portrait of a Street“ präsentierte. Im wahrsten Wortsinne „ausgehend“ von den Stolpersteinen folgt Domingo in ihrer Spurensuche, im Blick aus dem Fenster ihrer Berliner Wohnung, einer im Holocaust verschleppten, jüdischen Familie, insbesondere dem Mädchen Gisela, deren Akte 1950 ergebnislos geschlossen wurde. Weit öffnen tat sich den Zuhörern dieses Abends dafür ein von Leerstellen, Rissen und Alltagsleben gezeichnetes Gesicht dieser Straße, in der sich das Erfundene und das Faktische wie die tieferen und dünneren Schichten einer Haut überlagern. Die Zuhörerschaft wurde dabei immer wieder mit der Frage konfrontiert: wer war Gisela, das Mädchen, der Schemen? Und es ging darum, diese Frage als eine offene, unlösbare auszuhalten.
Domingos Laudator, der 1965 in Altdorf geborene Illustrator, Zeichner und Dozent Diego Balli, betonte das Ineinanderfließen von Fiktionalem und Autobiographischem und hob hervor wie gekonnt Sheree Domingo Leichtigkeit und Virtuosität in ihren Arbeiten zu verbinden weiß. Domingos klares und explizites Erinnerungsprojekt „Geschichte einer Straße“ vor Augen erschloss sich mir Ballis Beschreibung ihrer Erzählungen als „mystisch“ und „archetypisch“ nicht so ganz – aber vielleicht waren damit ihre anderen Werke gemeint. Der Kontrast, die Reibung zwischen schimmerndem, transparentem Aquarell und dem Nachzeichnen einer „steinharten“ Gewaltgeschichte entwickelte jedenfalls einen ganz besonders eindringlichen Sog.
Gefragt habe ich mich allerdings, warum Sheree Domingo, anders als bei Ferngespräch (2019), gerade für diese ja im zweifachen Sinne „deutsche Geschichte“ einen englischen Titel gewählt hat? Auf jeden Fall führt einem dies noch einmal die grenzüberschreitende Sprache von Bildern vor Augen, die anders als das Wort per se global anschlussfähiger sind.
Die Geschichte ist schmerz-weiß
Dieses Wort kam mir beim Betrachten der Bilder von Jvana Mansers Comic „Diese Leute“ in den Sinn. Bewegend schichtet und fügt sie in einer kunstvoll überlagerten Bildersprache von schwarz-weißer Erzähl-Innensicht und farbiger fiktionaler Außensicht die Geschichte des Eritreas Eri Bild um Bild zusammen, der auf einer Mauer sitzend seine Fluchtgeschichte und sein Ankommen in der Schweiz erzählt.
„Meerwasser enthält viel Salz…“ – Erwin Krottenthaler, Kulturmanager und stellvertretender Leiter des Literaturhauses Stuttgart, hob in seiner Laudatio auf die Arbeiten der im Tessin geborenen und vom Kanton Innerrhoden nominierten Illustratorin und Comic-Zeichnerin Jvana Manser genau dieses Sprachbild als besonders sprechend für „Diese Leute“ hervor: „In diesem einen abgebrochenen Satz und in Eris Körperhaltung wird die Grenze zwischen Verlust und Hoffnung, zwischen gemachter Erfahrung und dem Erzählen darüber mehr als deutlich.“
Man musste auch sofort an das Tränenmeer denken ebenso wie an das „Salz in der Suppe“, die Essenz – Assoziationen, die sich mit der salz-weißen Schrift als mögliche Ankerpunkte anbieten, die aber jede fixierte Deutung, jedes Festzurren der Geschichte in gesättigten Bildern und klaren Setzungen aus Respekt vor dem nicht selbst Erlebten verweigern.
Das von Krottenthaler attestierte feine Gespür Jvana Mansers für die sensiblen Ebenen und Grenzlinien von Nähe und Distanz wurde auch im Gespräch deutlich, als Manser bekannte, dass dieses als Abschlussarbeit entstandene Werk, für das sie viel recherchiert und mit den Betroffenen gesprochen hatte, sie bis heute nicht losließe. Auch wenn sie sich inzwischen anderen Themen zugewandt hat, unter anderem der Herausforderung, die sich den kreativ arbeitenden Müttern in der Kunstszene stellt. Interessant war es auch zu erfahren, dass sie ansonsten eher lieblich und „herzig“ zeichnet – was für den großen Grad an Einfühlung in die Form ihres jeweiligen Projektes spricht.
Nach ihrer Präsentation leuchtete der Zuhörerschaft die Ansicht der Jury jedenfalls ein: dass hier ein „Rohdiamant“ zu funkeln beginnt.
WEG aus der Schwärze – Eine bewegende Heldinnenreise von schaurig-schöner Präzision
Mitreißend war das Wort, das mir beim Zuhören und vor allem beim Eintauchen in die Bilderwelt von „WEG“ als erstes zufiel. Und zwar so, dass ich eigentlich sofort nach der sehr eindrücklichen Lesung aufspringen wollte, damit „WEG“ ja nicht weg ist: Ich wollte es nämlich unbedingt meiner Tochter mitbringen. Dass gerade diese Lesung einem so „Beine machte“, war nun aber alles andere als selbstverständlich; handelte es sich bei dem Comic der in Frauenfeld geborenen und vom Kanton Thurgau nominierten Comicautorin und Illustratorin Rina Jost doch um die Geschichte einer Depression.
Rina Jost erzählt darin die autobiographisch fundierte Geschichte der an einer Depression erkrankten Sybil. Berührt folgen wir dem Mädchen durch einen beklemmenden Alltags-Bilderreigen der Schwärze, des zusehenden Verstummens und Verblassens, bis sie schließlich kindlich zusammengerollt auf ihrer Matratze zu Stein wird, um durch diese zu versinken/versickern und im Land der Depressionen zu verschwinden. Ihre Schwester Mani macht sich auf die Suche nach ihr und folgt der Schwester durch eine in schaurig-schöner Präzision erschaffene Seelen-Albtraumlandschaft, um sie zu befreien.
„Die Depression als Ökosystem“ – so hatte die Laudatorin Kati Rickenbach diese „bis zur Perfektion ausgearbeiteten Bilder“ treffend charakterisiert. Die Comiczeichnerin, Illustratorin und Publizistin Rickenbach hob außerdem Josts einfühlsamen „Metaphern für die Abgründe der Seele“, ihre ungewöhnliche und ausgeprägte Sorgfalt sowie die Vielschichtigkeit ihrer Bildkompositionen hervor.
Der in diesem Werk so spürbare persönliche Einsatz überzeugte zugleich noch eine zweite Jury, sodass Rina Jost an diesem Abend für „WEG“ auch noch von der Internationalen Jugendfachjury ausgezeichnet wurde, deren Statement neben der Zugänglichkeit und dem Lesefluss auch die Brisanz und die Wichtigkeit des Themas betonte: „In einer Zeit, in welcher immer mehr Menschen von dieser Krankheit betroffen sind, ist es sehr wichtig, diesem Tabuthema eine Stimme zu geben.“
Ich möchte noch hinzufügen: Liebevoll-präziser kann man die Schwärze der kindlichen Seele wohl kaum in Bilder fassen.
Dynamischer Sog und poetische Dramatik
Komplex und auch intellektuell herausfordernd-anregend boten sich die Arbeiten der vom Kanton Zürich nominierten und bekannten Comic-Autorin und Illustratorin Clara San Millán der Zuhörerschaft an. Der Künstler und Musiker Roman Maeder brachte dies in seiner Laudatio folgendermaßen auf den Punkt: „Der verspielte Umgang mit Zeit- und Raumverhältnissen, die geheimnisvollen Details und das unkonventionelle Zusammenspiel von Text- und Bildebenen verlangen unsere volle Aufmerksamkeit.“
So erging es mir auch. Die auf der Videoleinwand projektierten Arbeiten über die Tomaten als Tischgesellschaft zogen mich gerade noch in ihren Bann und ließen mich umgehend den „unaufdringlichen Charme“ und San Milláns „subtiles und erfrischend eigenwilliges Humorverständnis“, welche ihr die Jury attestierte, verstehen, als sie uns Zuhörerinnen und Zuhörern mit einer gänzlich anders gearbeiteten Storyboard-Projektskizze überraschte, zu der ich so schnell nicht den rechten Zugang fand. Man spürte zwar sofort, dass es sich bei diesen Arbeiten um ebenso stilistisch-ausgeklügelte wie visionär-verspielte Imaginationen handelte - aber wovon genau nochmal? Ich hätte mir hier mehr Zeit gewünscht, die diese Arbeit von San Millán verdient hätte. Denn es spricht für ja sie, ihre Kunst, dass ich sie so schnell nicht „konsumieren“ konnte. Aber das treffendste Wort hatte sie, im Gespräch mit Barbara Yelin, eh selbst gefunden: „Ich lerne von meinen eigenen Comics.“
„How can I get out of my own head?“ – Wenn Bilder Worte schlucken
Mitten drin – In den Comics von Dominik Wendland ist man sofort mitten drin. Sie kommen so schlicht und harmlos um die Ecke, aber dann packen sie einen – ja, wo eigentlich, im Hirn, im Herz, bei der guten Laune – und lassen einen nicht mehr so leicht los.
Seine einfache Strichfigur nahm uns auch an diesem Abend mit in sein „Anti-Depri-Tagebuch“, aus dem der vom Freistaat Bayern nominierte Illustrator und Mitbegründer des Netzwerks „Comic in Bayern“ so lässig und wie aus etwas willkürlich Aufgeschlagenem vorlas, als handele es sich dabei um eine gerade erst erstellte „to-do-Notiz“. Aber dann, sich im entspannten Modus der spröden Tagebuchnotiz recht sicher wähnend, holte einen das Tiefsinnige und auch Schmerzvolle hinterrücks ein.
Dominik Wendland findet kluge und eindringliche Sprachbilder für den zutiefst verstörenden Zustand der Depression und scheut auch vor klaren Kraftworten nicht zurück. „Depression ist ein Arschloch.“ Dieser Satz eines depressiven Freundes kam mir bei Dominik Wendlands Lesungsschnipsel in den Sinn; er könnte von ihm stammen. Dafür aber stammt dieses ebenso schlichte wie tief-poetische Sprachbild von Wendland: „Ich stapel alle meine Gefühle in Kartons & lad sie ein. Der Transporter fährt nach morgen.“
Die Laudatorin Barbara Yelin brachte die Preiswürdigkeit seiner künstlerischen Arbeiten wunderbar auf den Punkt: „Dominiks Comics sind ungeheuer klug, sie enthalten große Menschenliebe, tiefe Gedanken und eine gute Portion Quatsch.“ Ja, könnte ich da nur ergänzend sagen, die Comics von Dominik Wendland will man ‚haben‘.
Interessant allerdings, dass zwei der sieben ausgezeichneten Werke das Thema Depression behandelten. Das wäre noch vor einigen Jahren ganz anders gewesen. Insofern ist der Comic sicherlich auch ein Seismograph seiner Zeit.
Wenn Comics träumen
Hingebungsvoll – Lea Le, im Kanton Thurgau aufgewachsen und vom Kanton St. Gallen nominiert, hat schon mal 24 Stunden lang durchgezeichnet. „Es geht einfach auf Seite eins los“, sagte die Illustratorin und Comic-Zeichnerin ihrem ungläubig staunenden Publikum. Das klingt erfrischend offen, pragmatisch. „Ich liebe die Nähe und Intensität meiner Arbeit.“
Der Sommernachtstraum, aus dem sie uns vorträgt, ist ebenso erfrischend. Frech, grenzüberschreitend, „tierisch“. Pubertät ist zudem eines ihrer zentralen Themen, die Angst, abnormal zu sein. Ihr Laudator, der Lehrer und Comiczeichner Beni Merk, fasst die spürbare, konstruktive Spannung zwischen Thematik und Umsetzung in Lea Les Werken in folgende Worte: „Les feiner, poetischer Strich und die filigranen, zerbrechlich schlaksigen Figuren stehen im Gegensatz zu tiefgründigen Inhalten: Thematisch geht sie in die Tiefe und schreckt auch vor schwierigen Themenfeldern nicht zurück.“
Ganz versunken in die fette Elefanten-„Turteltäubelei“ hätte ich von Lea Le gerne noch mehr Arbeiten gesehen. Aber ich nahm mir fest vor, nach der Lesung draußen am Büchertisch nach zerbrechlich schlaksigen Figuren Ausschau zu halten.
Fragend erkennen – Das Vexierbild, das begeistert
Wau! – Entfuhr es mir gottseidank leise, als ich „Sommer“ von Lena Steffinger lauschte und – als sei es wieder einmal zum ersten Male – plötzlich erneut begriff, wie hochliterarisch der Comic eben sein kann. Neben der „Sommernacht“ von Lea Le beschäftigt sich nun also noch eine zweite preisgekrönte Arbeit an diesem Abend mit dem Thema „Sommer“.
Lena Steffinger, nominiert vom Land Baden-Württemberg, studierte Psychologie und arbeitet heute als Autorin und Zeichnerin. In „Sommer“ erzählt sie, so die Zusammenfassung der Laudatio, „die Sommererinnerung an die Freundschaft zweier Frauen im Vexierbild einer enttäuschten Liebe.“
Ich muss gestehen, dass ich die von der Jury so gelobte bildliche Visualisierung erst verzögert wahrnahm, da mich der Sog ihrer poetischen und tiefgründigen Sprache zunächst ganz und gar einnahm. Aber schließlich bemerkte ich dann auch die „feinsten Nuancen“, die „gedämpften Gelbtöne“, Skizzen, Licht- und Schattenspiele, die „zu groben Mustern verschwimmen“ und „in die Gefühlsmomente der Protagonistin einladen“.
„Sommer“ ist eine Comic-Erzählung, die bereits nach den ersten Worten, Tönen die emotionale Tiefe und Vielschichtigkeit dieser Liebes- und Freundschaftsgeschichte spürbar macht, sodass ich eigentlich in dem Moment nur eins wollte: weiterlesen! Leider war der Comic am Büchertisch später dann nicht zu haben, aber dafür wird dann eben die Lieblingsbuchhandlung daheim in München aufgesucht.
Zurück zum Abend: Die Kulturmanagerin Frauke Kühn hat die Begeisterung der Jury, Steffingers Mut zur Aussparung und den leisen Tönen stellvertretend so formuliert: „‘Sommer‘ überzeugt und begeistert bis zum letzten Wort, mit dem Lena Steffinger ein eindrückliches Zeichen setzt, wenn es eben nicht die Antwort, sondern die Frage ist, die das Geahnte in die Nähe des Erkennens rückt.“
Der Frust der Abreise …
So ging ein rundum freudiger, anregend-anspruchsvoller Abend zu Ende, der noch lange inspirierend nachklingen wird. Das einzig Betrübliche, das zu berichten ist: Nachdem auch das hervorragende Catering die Wertschätzung des Abends kulinarisch spiegelte, wollte man eigentlich unbedingt nur eins: noch schmausend und in Gespräche vertieft verweilen. Aber die letzten Züge der Deutschen Bahn fahren nun einmal viel zu früh. Und dann pünktlich …
Verleihung der 33. IBK-Förderpreise für Kulturschaffende 2023 in der Sparte ‚Comic‘>
Die 33. IBK-Förderpreise für Kulturschaffende wurden am 26. Oktober 2023 an sieben Comickünstlerinnen und -künstler vergeben. Sheree Domingo, Lena Steffinger, Clara San Millán, Lea Le, Jvana Manser, Rina Jost und Dominik Wendland erhielten den mit je 10'000 Schweizer Franken dotierten Preis. Die Preise sind insgesamt mit 70'000 Schweizer Franken dotiert. Rina Jost wurde zusätzlich mit dem Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Andrea Heuser hat die Preisverleihung für uns besucht.
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Kulturelle Grenzen überwinden, „Fantasie und Realität verschmelzen lassen“ (Melanie Huml), die starren Narrative auflösen – nicht nur der Comic als hochkreatives, flexibles Genre, sondern auch die Länder der Bodenseeregion machen dieser Tage – vor dem globalen Hintergrund all der gewaltsamen kriegerischen Grenzüberschreitungen – ganz besonders Hoffnung und Freude mit ihrem konstruktiven Austausch zwischen dem Eigenen und dem Anderen, wie im Falle dieser jahrzehntelangen gemeinsamen Preisvergabe für Kulturschaffende aus ihren jeweiligen Ländern und Kantonen.
Die Kunst der Anreise
Freude war überhaupt das vorherrschende Gefühl an diesem gut besuchten Veranstaltungsabend. Für diejenigen, die mit der Deutschen Bahn zur Lindau-Insel anreisten, war es zunächst ganz konkret die Freude, nach stundenlangen Verspätungen, den inzwischen notorischen Zugausfällen und Pannen überhaupt noch angekommen zu sein. Man fühlte sich geradezu nostalgisch an die Zeiten der Kutschen erinnert, wo man während des Pferdewechsels bei einem frischen Bier im Gasthaus wenigstens selbst etwas auftanken konnte und letztlich wohl nur ungleich länger von Augsburg nach Ulm brauchte wie heutzutage. Nähe und Ferne bleiben nun einmal relative Kategorien. Der Anreise in erlebter Pferdestärken-„Geschwindigkeit“ fiel für diesen Veranstaltungsbericht daher leider das Intro „Heldinnenreise“ der Illustratorin und Comiczeichnerin Barbara Yelin zum Opfer. Sehr schade!
Barbara Yelin mit ihrem Intro „Heldinnenreise“ © StMWK
Reisen ist Kunst, ist Comic, ist Musik!
Dass man die schönen Seiten des kreativen, inneren Unterwegsseins den ganzen Abend aber nicht nur vor Augen, sondern auch höchst klangvoll im Ohr behielt, verdankte die Zuhörerschaft dem Ensemble „Le Voyage“ unter Leitung des Trompeters und Komponisten Bastien Rieser. Wer den eindringlich- sanften Klängen seines Jazzensembles weiter nachlauschen möchte, kann dies unter www.bastienrieser.com tun.
Grenzenlos – kreativ – vernetzt
Freude machte es dafür, die preisgewürdigte Formenvielfalt der Sparte Comic bereits auf Ebene der formellen Grußworte sowie in der vielfältigen Art der Werkpräsentationen selbst gespiegelt zu sehen. Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Markus Blume, MdL, entschied sich für eine ansprechende Videogrußbotschaft, die Oberbürgermeisterin der Stadt Lindau, Dr. Claudia Alfons, für eine engagierte Begrüßungsrede.
V.l.o.n.r.u.: Trompeter Bastian Rieser mit Le Voyage, Kunstminister Markus Blume, MdL, OB Dr. Claudia Alfons, IBK-Kommissionsvorsitzender Dr. Roland Hofer, Moderatorin Christine Knödler und Juryvorsitzende Dr. Elisabeth Donoughue, MRn © StMWK
Und auch die Preisträgerinnen und der Preisträger gestalteten ihre jeweiligen Comicpräsentationen höchst unterschiedlich: von der klassischen Lesung über das Werkgespräch bis hin zur Videoinstallation mit performativen Elementen war alles dabei. Kreativ unterfüttert und gerahmt wurden die Werke mit eigens für diesen Abend produzierten Podcasts, einer gemeinsam von den Künstlerinnen und Künstlern gestalteten Postkarte, informativ-anregenden Gesprächen mit Jurymitgliedern sowie einer auf die großen Saal-Bildschirme gebeamten Zitat-Auswahl, der man auch das obige, treffende Wort von Melanie Huml, Europaministerin Bayern und diesjährige Vorsitzende der IBK, entnehmen konnte: „Comics eröffnen uns mit ihrer einzigartigen Kombination aus Texten und Bildern eine Welt, in der Fantasie und Realität miteinander verschmelzen, sich kulturelle Grenzen auflösen und neue Formen des Erzählens und Erklärens erprobt werden. Comic ist experimentell und hoch kreativ!“
Der Comic – wirkungsmächtig und so jung & alt wie die Menschheit selbst
Freude strahlten neben den Laudatorinnen und Laudatoren, über die noch zu sprechen sein wird, dann auch die Juryvorsitzende Dr. Elisabeth Donoughue und der Kommissionsvorsitzende der IBK für Kultur, Dr. Roland E. Hofer, aus. Als sie gemeinsam die Preise vor über 200 Zuschauerinnen und Zuschauern den jungen Künstlerinnen und Künstlern übergaben, wurde deutlich spürbar, dass es ihnen dabei sichtlich um mehr ging, als um eine schöne Pflichterfüllung. Donoughue rückte neben der Wirkungsmächtigkeit des Comics auch noch einmal die oft ignorierte Tatsache ins Licht, dass dieses Medium ebenso alt wie vielschichtig ist. Schließlich gab es sein Kernelement, das Bild, schon vor der Schrift.
Und Freude vermittelte last but not least die charmante und zugewandte Moderation der Kulturjournalistin Christine Knödler, deren intensive Auseinandersetzung mit den jeweiligen Werken nicht nur in den oben erwähnten, von ihr erarbeiteten Podcasts mit den Preisträgerinnen und dem Preisträger mündete, sondern die jeder der sechs Preisträgerinnen sowie dem Preisträger zudem das Gefühl vermittelte, dass dieser Abend gerade wegen ihr und ihm ein so besonderer sei. Und damit hatte sie auch jeweils vollkommen recht.
Comic als Spurensuche und Gedächtnis
Aufwühlend war der Auftakt, den die 1989 in Böblingen geborene und vom Land Baden-Württemberg nominierte Künstlerin Sheree Domingo mit ihrem „Portrait of a Street“ präsentierte. Im wahrsten Wortsinne „ausgehend“ von den Stolpersteinen folgt Domingo in ihrer Spurensuche, im Blick aus dem Fenster ihrer Berliner Wohnung, einer im Holocaust verschleppten, jüdischen Familie, insbesondere dem Mädchen Gisela, deren Akte 1950 ergebnislos geschlossen wurde. Weit öffnen tat sich den Zuhörern dieses Abends dafür ein von Leerstellen, Rissen und Alltagsleben gezeichnetes Gesicht dieser Straße, in der sich das Erfundene und das Faktische wie die tieferen und dünneren Schichten einer Haut überlagern. Die Zuhörerschaft wurde dabei immer wieder mit der Frage konfrontiert: wer war Gisela, das Mädchen, der Schemen? Und es ging darum, diese Frage als eine offene, unlösbare auszuhalten.
Domingos Laudator, der 1965 in Altdorf geborene Illustrator, Zeichner und Dozent Diego Balli, betonte das Ineinanderfließen von Fiktionalem und Autobiographischem und hob hervor wie gekonnt Sheree Domingo Leichtigkeit und Virtuosität in ihren Arbeiten zu verbinden weiß. Domingos klares und explizites Erinnerungsprojekt „Geschichte einer Straße“ vor Augen erschloss sich mir Ballis Beschreibung ihrer Erzählungen als „mystisch“ und „archetypisch“ nicht so ganz – aber vielleicht waren damit ihre anderen Werke gemeint. Der Kontrast, die Reibung zwischen schimmerndem, transparentem Aquarell und dem Nachzeichnen einer „steinharten“ Gewaltgeschichte entwickelte jedenfalls einen ganz besonders eindringlichen Sog.
Gefragt habe ich mich allerdings, warum Sheree Domingo, anders als bei Ferngespräch (2019), gerade für diese ja im zweifachen Sinne „deutsche Geschichte“ einen englischen Titel gewählt hat? Auf jeden Fall führt einem dies noch einmal die grenzüberschreitende Sprache von Bildern vor Augen, die anders als das Wort per se global anschlussfähiger sind.
Die Geschichte ist schmerz-weiß
Dieses Wort kam mir beim Betrachten der Bilder von Jvana Mansers Comic „Diese Leute“ in den Sinn. Bewegend schichtet und fügt sie in einer kunstvoll überlagerten Bildersprache von schwarz-weißer Erzähl-Innensicht und farbiger fiktionaler Außensicht die Geschichte des Eritreas Eri Bild um Bild zusammen, der auf einer Mauer sitzend seine Fluchtgeschichte und sein Ankommen in der Schweiz erzählt.
„Meerwasser enthält viel Salz…“ – Erwin Krottenthaler, Kulturmanager und stellvertretender Leiter des Literaturhauses Stuttgart, hob in seiner Laudatio auf die Arbeiten der im Tessin geborenen und vom Kanton Innerrhoden nominierten Illustratorin und Comic-Zeichnerin Jvana Manser genau dieses Sprachbild als besonders sprechend für „Diese Leute“ hervor: „In diesem einen abgebrochenen Satz und in Eris Körperhaltung wird die Grenze zwischen Verlust und Hoffnung, zwischen gemachter Erfahrung und dem Erzählen darüber mehr als deutlich.“
Man musste auch sofort an das Tränenmeer denken ebenso wie an das „Salz in der Suppe“, die Essenz – Assoziationen, die sich mit der salz-weißen Schrift als mögliche Ankerpunkte anbieten, die aber jede fixierte Deutung, jedes Festzurren der Geschichte in gesättigten Bildern und klaren Setzungen aus Respekt vor dem nicht selbst Erlebten verweigern.
Das von Krottenthaler attestierte feine Gespür Jvana Mansers für die sensiblen Ebenen und Grenzlinien von Nähe und Distanz wurde auch im Gespräch deutlich, als Manser bekannte, dass dieses als Abschlussarbeit entstandene Werk, für das sie viel recherchiert und mit den Betroffenen gesprochen hatte, sie bis heute nicht losließe. Auch wenn sie sich inzwischen anderen Themen zugewandt hat, unter anderem der Herausforderung, die sich den kreativ arbeitenden Müttern in der Kunstszene stellt. Interessant war es auch zu erfahren, dass sie ansonsten eher lieblich und „herzig“ zeichnet – was für den großen Grad an Einfühlung in die Form ihres jeweiligen Projektes spricht.
Nach ihrer Präsentation leuchtete der Zuhörerschaft die Ansicht der Jury jedenfalls ein: dass hier ein „Rohdiamant“ zu funkeln beginnt.
WEG aus der Schwärze – Eine bewegende Heldinnenreise von schaurig-schöner Präzision
Mitreißend war das Wort, das mir beim Zuhören und vor allem beim Eintauchen in die Bilderwelt von „WEG“ als erstes zufiel. Und zwar so, dass ich eigentlich sofort nach der sehr eindrücklichen Lesung aufspringen wollte, damit „WEG“ ja nicht weg ist: Ich wollte es nämlich unbedingt meiner Tochter mitbringen. Dass gerade diese Lesung einem so „Beine machte“, war nun aber alles andere als selbstverständlich; handelte es sich bei dem Comic der in Frauenfeld geborenen und vom Kanton Thurgau nominierten Comicautorin und Illustratorin Rina Jost doch um die Geschichte einer Depression.
Rina Jost erzählt darin die autobiographisch fundierte Geschichte der an einer Depression erkrankten Sybil. Berührt folgen wir dem Mädchen durch einen beklemmenden Alltags-Bilderreigen der Schwärze, des zusehenden Verstummens und Verblassens, bis sie schließlich kindlich zusammengerollt auf ihrer Matratze zu Stein wird, um durch diese zu versinken/versickern und im Land der Depressionen zu verschwinden. Ihre Schwester Mani macht sich auf die Suche nach ihr und folgt der Schwester durch eine in schaurig-schöner Präzision erschaffene Seelen-Albtraumlandschaft, um sie zu befreien.
„Die Depression als Ökosystem“ – so hatte die Laudatorin Kati Rickenbach diese „bis zur Perfektion ausgearbeiteten Bilder“ treffend charakterisiert. Die Comiczeichnerin, Illustratorin und Publizistin Rickenbach hob außerdem Josts einfühlsamen „Metaphern für die Abgründe der Seele“, ihre ungewöhnliche und ausgeprägte Sorgfalt sowie die Vielschichtigkeit ihrer Bildkompositionen hervor.
Der in diesem Werk so spürbare persönliche Einsatz überzeugte zugleich noch eine zweite Jury, sodass Rina Jost an diesem Abend für „WEG“ auch noch von der Internationalen Jugendfachjury ausgezeichnet wurde, deren Statement neben der Zugänglichkeit und dem Lesefluss auch die Brisanz und die Wichtigkeit des Themas betonte: „In einer Zeit, in welcher immer mehr Menschen von dieser Krankheit betroffen sind, ist es sehr wichtig, diesem Tabuthema eine Stimme zu geben.“
Ich möchte noch hinzufügen: Liebevoll-präziser kann man die Schwärze der kindlichen Seele wohl kaum in Bilder fassen.
Dynamischer Sog und poetische Dramatik
Komplex und auch intellektuell herausfordernd-anregend boten sich die Arbeiten der vom Kanton Zürich nominierten und bekannten Comic-Autorin und Illustratorin Clara San Millán der Zuhörerschaft an. Der Künstler und Musiker Roman Maeder brachte dies in seiner Laudatio folgendermaßen auf den Punkt: „Der verspielte Umgang mit Zeit- und Raumverhältnissen, die geheimnisvollen Details und das unkonventionelle Zusammenspiel von Text- und Bildebenen verlangen unsere volle Aufmerksamkeit.“
So erging es mir auch. Die auf der Videoleinwand projektierten Arbeiten über die Tomaten als Tischgesellschaft zogen mich gerade noch in ihren Bann und ließen mich umgehend den „unaufdringlichen Charme“ und San Milláns „subtiles und erfrischend eigenwilliges Humorverständnis“, welche ihr die Jury attestierte, verstehen, als sie uns Zuhörerinnen und Zuhörern mit einer gänzlich anders gearbeiteten Storyboard-Projektskizze überraschte, zu der ich so schnell nicht den rechten Zugang fand. Man spürte zwar sofort, dass es sich bei diesen Arbeiten um ebenso stilistisch-ausgeklügelte wie visionär-verspielte Imaginationen handelte - aber wovon genau nochmal? Ich hätte mir hier mehr Zeit gewünscht, die diese Arbeit von San Millán verdient hätte. Denn es spricht für ja sie, ihre Kunst, dass ich sie so schnell nicht „konsumieren“ konnte. Aber das treffendste Wort hatte sie, im Gespräch mit Barbara Yelin, eh selbst gefunden: „Ich lerne von meinen eigenen Comics.“
„How can I get out of my own head?“ – Wenn Bilder Worte schlucken
Mitten drin – In den Comics von Dominik Wendland ist man sofort mitten drin. Sie kommen so schlicht und harmlos um die Ecke, aber dann packen sie einen – ja, wo eigentlich, im Hirn, im Herz, bei der guten Laune – und lassen einen nicht mehr so leicht los.
Seine einfache Strichfigur nahm uns auch an diesem Abend mit in sein „Anti-Depri-Tagebuch“, aus dem der vom Freistaat Bayern nominierte Illustrator und Mitbegründer des Netzwerks „Comic in Bayern“ so lässig und wie aus etwas willkürlich Aufgeschlagenem vorlas, als handele es sich dabei um eine gerade erst erstellte „to-do-Notiz“. Aber dann, sich im entspannten Modus der spröden Tagebuchnotiz recht sicher wähnend, holte einen das Tiefsinnige und auch Schmerzvolle hinterrücks ein.
Dominik Wendland findet kluge und eindringliche Sprachbilder für den zutiefst verstörenden Zustand der Depression und scheut auch vor klaren Kraftworten nicht zurück. „Depression ist ein Arschloch.“ Dieser Satz eines depressiven Freundes kam mir bei Dominik Wendlands Lesungsschnipsel in den Sinn; er könnte von ihm stammen. Dafür aber stammt dieses ebenso schlichte wie tief-poetische Sprachbild von Wendland: „Ich stapel alle meine Gefühle in Kartons & lad sie ein. Der Transporter fährt nach morgen.“
Die Laudatorin Barbara Yelin brachte die Preiswürdigkeit seiner künstlerischen Arbeiten wunderbar auf den Punkt: „Dominiks Comics sind ungeheuer klug, sie enthalten große Menschenliebe, tiefe Gedanken und eine gute Portion Quatsch.“ Ja, könnte ich da nur ergänzend sagen, die Comics von Dominik Wendland will man ‚haben‘.
Interessant allerdings, dass zwei der sieben ausgezeichneten Werke das Thema Depression behandelten. Das wäre noch vor einigen Jahren ganz anders gewesen. Insofern ist der Comic sicherlich auch ein Seismograph seiner Zeit.
Wenn Comics träumen
Hingebungsvoll – Lea Le, im Kanton Thurgau aufgewachsen und vom Kanton St. Gallen nominiert, hat schon mal 24 Stunden lang durchgezeichnet. „Es geht einfach auf Seite eins los“, sagte die Illustratorin und Comic-Zeichnerin ihrem ungläubig staunenden Publikum. Das klingt erfrischend offen, pragmatisch. „Ich liebe die Nähe und Intensität meiner Arbeit.“
Der Sommernachtstraum, aus dem sie uns vorträgt, ist ebenso erfrischend. Frech, grenzüberschreitend, „tierisch“. Pubertät ist zudem eines ihrer zentralen Themen, die Angst, abnormal zu sein. Ihr Laudator, der Lehrer und Comiczeichner Beni Merk, fasst die spürbare, konstruktive Spannung zwischen Thematik und Umsetzung in Lea Les Werken in folgende Worte: „Les feiner, poetischer Strich und die filigranen, zerbrechlich schlaksigen Figuren stehen im Gegensatz zu tiefgründigen Inhalten: Thematisch geht sie in die Tiefe und schreckt auch vor schwierigen Themenfeldern nicht zurück.“
Ganz versunken in die fette Elefanten-„Turteltäubelei“ hätte ich von Lea Le gerne noch mehr Arbeiten gesehen. Aber ich nahm mir fest vor, nach der Lesung draußen am Büchertisch nach zerbrechlich schlaksigen Figuren Ausschau zu halten.
Fragend erkennen – Das Vexierbild, das begeistert
Wau! – Entfuhr es mir gottseidank leise, als ich „Sommer“ von Lena Steffinger lauschte und – als sei es wieder einmal zum ersten Male – plötzlich erneut begriff, wie hochliterarisch der Comic eben sein kann. Neben der „Sommernacht“ von Lea Le beschäftigt sich nun also noch eine zweite preisgekrönte Arbeit an diesem Abend mit dem Thema „Sommer“.
Lena Steffinger, nominiert vom Land Baden-Württemberg, studierte Psychologie und arbeitet heute als Autorin und Zeichnerin. In „Sommer“ erzählt sie, so die Zusammenfassung der Laudatio, „die Sommererinnerung an die Freundschaft zweier Frauen im Vexierbild einer enttäuschten Liebe.“
Ich muss gestehen, dass ich die von der Jury so gelobte bildliche Visualisierung erst verzögert wahrnahm, da mich der Sog ihrer poetischen und tiefgründigen Sprache zunächst ganz und gar einnahm. Aber schließlich bemerkte ich dann auch die „feinsten Nuancen“, die „gedämpften Gelbtöne“, Skizzen, Licht- und Schattenspiele, die „zu groben Mustern verschwimmen“ und „in die Gefühlsmomente der Protagonistin einladen“.
„Sommer“ ist eine Comic-Erzählung, die bereits nach den ersten Worten, Tönen die emotionale Tiefe und Vielschichtigkeit dieser Liebes- und Freundschaftsgeschichte spürbar macht, sodass ich eigentlich in dem Moment nur eins wollte: weiterlesen! Leider war der Comic am Büchertisch später dann nicht zu haben, aber dafür wird dann eben die Lieblingsbuchhandlung daheim in München aufgesucht.
Zurück zum Abend: Die Kulturmanagerin Frauke Kühn hat die Begeisterung der Jury, Steffingers Mut zur Aussparung und den leisen Tönen stellvertretend so formuliert: „‘Sommer‘ überzeugt und begeistert bis zum letzten Wort, mit dem Lena Steffinger ein eindrückliches Zeichen setzt, wenn es eben nicht die Antwort, sondern die Frage ist, die das Geahnte in die Nähe des Erkennens rückt.“
Der Frust der Abreise …
So ging ein rundum freudiger, anregend-anspruchsvoller Abend zu Ende, der noch lange inspirierend nachklingen wird. Das einzig Betrübliche, das zu berichten ist: Nachdem auch das hervorragende Catering die Wertschätzung des Abends kulinarisch spiegelte, wollte man eigentlich unbedingt nur eins: noch schmausend und in Gespräche vertieft verweilen. Aber die letzten Züge der Deutschen Bahn fahren nun einmal viel zu früh. Und dann pünktlich …