Warum begeistert Preußler nach wie vor? Ein Antwortversuch
Am 20. Oktober 2023 wäre der Verfasser des Räuber Hotzenplotz und vieler anderer weltberühmter Kinderbücher Otfried Preußler 100 Jahre alt geworden. Seine Werke scheinen nicht in die Jahre zu kommen, bis heute begeistern sie in vielen Ländern der Welt Jung und Alt. Zu Ehren des böhmisch-bayerischen Schriftstellers stellt die derzeitige Volontärin der Stiftung Internationale Jugendbibliothek einige Überlegungen an.
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Wenn mich meine Recherchen für diesen Artikel eines gelehrt haben, dann, dass die Erwähnung des Namens Otfried Preußler ausnahmslos Augenleuchten hervorruft. Egal, mit wem man spricht – ob jung oder alt – der Autor von Büchern wie Der Räuber Hotzenplotz, Das kleine Gespenst oder Krabat bringt viele zum Schwärmen. Die meisten Werke von Otfried Preußler gelten längst als Kinderbuchklassiker und sind aus den deutschsprachigen Bücherregalen nicht wegzudenken. Auch im Ausland finden sie großen Anklang. Laut Thienemann Verlag, bei dem die meisten von Preußlers Büchern erscheinen, existieren Übersetzungen der Werke in über fünfzig Sprachen. In Japan ist Der Räuber Hotzenplotz ein echter Verkaufsschlager. Die Beliebtheit des preußlerschen Werks zeigt sich zudem an den Preisen, mit denen der im Jahr 2013 verstorbene Autor ausgezeichnet wurde. Neben zahlreichen weiteren in- und ausländischen Ehrungen erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland und den Eichendorff-Literaturpreis.
Konsens ist stets: Preußler-Bücher sind toll. Fesselnd. Prägend. Doch was löst bei Erwachsenen gleichermaßen wie bei jungen Leserinnen und Lesern diese Begeisterung aus? Eine einfache Antwort darauf ist kaum möglich. Einige Besonderheiten von Preußlers Werk und der Schaffensweise des Autors kann dieser Artikel aber beleuchten. Vielleicht lösen sie bei der einen oder dem anderen ja einen kleinen Aha-Moment aus.
Sagentradition und Erzählcharakter
Otfried Preußler betonte in verschiedenen Interviews, dass er sich selbst in erster Linie als Geschichtenerzähler sah und viele Inspirationen für seine Bücher aus verschiedenen Sagenstoffen zog. Der Autor ist also einer oralen Erzähltradition verpflichtet. Er verweist außerdem auf seine Berührungspunkte mit Literatur als Kind. Denn das mündliche Weitertragen von traditionellen Erzählungen wurde ihm regelrecht in die Wiege gelegt.
Als junger Bub begab Preußler sich regelmäßig mit seinem Vater auf Nachtwanderungen in den Wald. Letzterer unterhielt den jungen Otfried dabei mit Sagen, Mythen und Geschichten. Auch die Großmutter des Autors war eine begnadete Geschichtenerzählerin und bekannt für ihre Eigeninterpretationen von regionalen Sagen, die sie gerne abwandelte. Das mündliche Erzählen in der Familie wurde für Otfried Preußler prägend.
Bevor er sich eine Existenz als freischaffender Autor zutraute, war er im Schuldienst tätig. Wenn seine Klassen zu laut waren, beruhigte er sie mit selbst erdachten Erzählungen und Geschichten. Zuhause erfand er für seine Töchter Gute-Nacht-Geschichten. Bei einer dieser Märchenstunden entstand die Idee zur Kleinen Hexe: Um seinen Töchtern die Angst vor bösen Hexen zu nehmen, beteuerte er, dass es diese gar nicht mehr gebe. Prompt kam die Frage, wie dies möglich sei. Preußlers Antwort lässt sich in dem mittlerweile weltbekannten Bestseller nachlesen.
Wie sehr er sich als Erzähler verstand, zeigt seine Arbeitsweise sehr anschaulich. Otfried Preußler verfasste seine Geschichten nicht mit Stift und Papier am Schreibtisch (oder an einer Schreibmaschine), sondern sprach seine Einfälle auf langen Spaziergängen in ein Diktiergerät. Seine langjährige Sekretärin Christine Annies schrieb diese anschließend ab.
Magische Welten
Otfried Preußler war der festen Überzeugung, dass einem Text eine gewisse Magie, ein gewisser Zauber innewohnen müsse. Diesen Effekt erzeugte er in seinen Büchern unter anderem, indem er die Erzähltechnik des magischen Realismus einsetzte. So spannt er in seinen Geschichten literarische Räume auf, die mit zahlreichen fantastischen Elementen versehen sind und dennoch eine Brücke zu der uns bekannten Welt schlagen. Die kleine Hexe mit ihren magischen Fähigkeiten lebt beispielsweise im gleichen Kosmos wie Vroni und Thomas, zwei „normale“ Kinder. Ähnlich ist es beim Wassermann, der mit den an Land lebenden Kindern Freundschaft schließt. Den Lesenden bleibt nichts Anderes übrig, als diese Welten ohne klare Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion zu akzeptieren, wie sie sind. So lassen sie sich von der preußlerschen Magie verzaubern.
Otfried Preußler fängt seine Leserinnen und Leser nicht nur mithilfe der von ihm entworfenen Welten, Figuren und Handlungssträngen ein. Er lässt auch ihrer eigenen Fantasie reichlich Raum. Preußler-Biograf Tilman Spreckelsen hebt hervor, dass der Autor zumeist auf ausführliche Beschreibungen verzichte und stattdessen mit einfacher, aber wirkungsvoller Sprache arbeite. Seine Texte sind vergleichbar mit Strichzeichnungen, die den Betrachtenden die Möglichkeit geben, sie mit Farbe und eigenen Vorstellungen zu ergänzen und auszugestalten. Zu Lebzeiten setzte Preußler zudem aktiv Anreize, seine Geschichten außerhalb der literarischen Werke fortzuführen, indem er geschickt die Linie zwischen seiner Person und seinen Figuren verwischte. So beantwortete er Briefe seiner Leserinnen und Leser des Öfteren mit der Erzählstimme des Räuber Hotzenplotz, und hatte Spaß daran, dessen ausbaufähige Rechtschreibung zu verwenden.
Zeitlose Themen
Freundschaft, Abenteuer, der Kampf zwischen Gut und Böse – diese Themen sind universell und sind für das Gesamtwerk Preußlers grundlegend. Doch auch jene seiner Bücher, die spezifischere Themen behandeln, bestehen den Test der Zeit: Während der Autor in Die dumme Augustine die Gleichberechtigung von Frauen und Männern aufgreift, lässt sich sein Jugendroman Krabat als Metapher für die negativen Auswirkungen einer Diktatur interpretieren. Beide Beispiele sind nach wie vor aktuell. Otfried Preußler hatte ein Gespür für die Interessen seiner Leserinnen und Leser aller Altersstufen. Die tschechische Literaturwissenschaftlerin Tereza Hrubešová bekräftigt diese Intention der Doppelcodierung: „Sein Ziel [war] es, ein Buch zu schreiben, das zwar für Kinder bestimmt ist, aber an dem auch Erwachsene Vergnügen finden können“.
Ernst und Spaß
Dieses Ziel erreichte Otfried Preußler auch, weil er seinen Leserinnen und Lesern Respekt entgegenbrachte. Er sprach zu seinen Leserinnen und Lesern nicht von oben herab, wie es in anderen Kinderbüchern des 20. Jahrhunderts häufig geschah, sondern begegnete ihnen auf Augenhöhe. Obwohl der Autor lange Lehrer war, haben seine Geschichten keine prominenten didaktischen Züge. Für Otfried Preußler stand der Spaß an und mit der Literatur klar im Vordergrund. Seine Werke sah er als fiktive Schonräume für Kinder. Ja, es gibt sie, die bösen Hexen, den machtsüchtigen Müllermeister oder den fiesen Räuber, doch am Ende steht stets ein Happy End. Der Weg dorthin ist in jedem Preußler-Buch auf seine eigene Weise unterhaltsam. Was sie alle bieten, ist eine kleine Flucht vor der oft grauen Wirklichkeit. Das können wir alle hin und wieder gebrauchen – egal ob Kinder oder Erwachsene.
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Am 20. Oktober 2023 wäre der Verfasser des Räuber Hotzenplotz und vieler anderer weltberühmter Kinderbücher Otfried Preußler 100 Jahre alt geworden. Seine Werke scheinen nicht in die Jahre zu kommen, bis heute begeistern sie in vielen Ländern der Welt Jung und Alt. Zu Ehren des böhmisch-bayerischen Schriftstellers stellt die derzeitige Volontärin der Stiftung Internationale Jugendbibliothek einige Überlegungen an.
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Wenn mich meine Recherchen für diesen Artikel eines gelehrt haben, dann, dass die Erwähnung des Namens Otfried Preußler ausnahmslos Augenleuchten hervorruft. Egal, mit wem man spricht – ob jung oder alt – der Autor von Büchern wie Der Räuber Hotzenplotz, Das kleine Gespenst oder Krabat bringt viele zum Schwärmen. Die meisten Werke von Otfried Preußler gelten längst als Kinderbuchklassiker und sind aus den deutschsprachigen Bücherregalen nicht wegzudenken. Auch im Ausland finden sie großen Anklang. Laut Thienemann Verlag, bei dem die meisten von Preußlers Büchern erscheinen, existieren Übersetzungen der Werke in über fünfzig Sprachen. In Japan ist Der Räuber Hotzenplotz ein echter Verkaufsschlager. Die Beliebtheit des preußlerschen Werks zeigt sich zudem an den Preisen, mit denen der im Jahr 2013 verstorbene Autor ausgezeichnet wurde. Neben zahlreichen weiteren in- und ausländischen Ehrungen erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland und den Eichendorff-Literaturpreis.
Konsens ist stets: Preußler-Bücher sind toll. Fesselnd. Prägend. Doch was löst bei Erwachsenen gleichermaßen wie bei jungen Leserinnen und Lesern diese Begeisterung aus? Eine einfache Antwort darauf ist kaum möglich. Einige Besonderheiten von Preußlers Werk und der Schaffensweise des Autors kann dieser Artikel aber beleuchten. Vielleicht lösen sie bei der einen oder dem anderen ja einen kleinen Aha-Moment aus.
Sagentradition und Erzählcharakter
Otfried Preußler betonte in verschiedenen Interviews, dass er sich selbst in erster Linie als Geschichtenerzähler sah und viele Inspirationen für seine Bücher aus verschiedenen Sagenstoffen zog. Der Autor ist also einer oralen Erzähltradition verpflichtet. Er verweist außerdem auf seine Berührungspunkte mit Literatur als Kind. Denn das mündliche Weitertragen von traditionellen Erzählungen wurde ihm regelrecht in die Wiege gelegt.
Als junger Bub begab Preußler sich regelmäßig mit seinem Vater auf Nachtwanderungen in den Wald. Letzterer unterhielt den jungen Otfried dabei mit Sagen, Mythen und Geschichten. Auch die Großmutter des Autors war eine begnadete Geschichtenerzählerin und bekannt für ihre Eigeninterpretationen von regionalen Sagen, die sie gerne abwandelte. Das mündliche Erzählen in der Familie wurde für Otfried Preußler prägend.
Bevor er sich eine Existenz als freischaffender Autor zutraute, war er im Schuldienst tätig. Wenn seine Klassen zu laut waren, beruhigte er sie mit selbst erdachten Erzählungen und Geschichten. Zuhause erfand er für seine Töchter Gute-Nacht-Geschichten. Bei einer dieser Märchenstunden entstand die Idee zur Kleinen Hexe: Um seinen Töchtern die Angst vor bösen Hexen zu nehmen, beteuerte er, dass es diese gar nicht mehr gebe. Prompt kam die Frage, wie dies möglich sei. Preußlers Antwort lässt sich in dem mittlerweile weltbekannten Bestseller nachlesen.
Wie sehr er sich als Erzähler verstand, zeigt seine Arbeitsweise sehr anschaulich. Otfried Preußler verfasste seine Geschichten nicht mit Stift und Papier am Schreibtisch (oder an einer Schreibmaschine), sondern sprach seine Einfälle auf langen Spaziergängen in ein Diktiergerät. Seine langjährige Sekretärin Christine Annies schrieb diese anschließend ab.
Magische Welten
Otfried Preußler war der festen Überzeugung, dass einem Text eine gewisse Magie, ein gewisser Zauber innewohnen müsse. Diesen Effekt erzeugte er in seinen Büchern unter anderem, indem er die Erzähltechnik des magischen Realismus einsetzte. So spannt er in seinen Geschichten literarische Räume auf, die mit zahlreichen fantastischen Elementen versehen sind und dennoch eine Brücke zu der uns bekannten Welt schlagen. Die kleine Hexe mit ihren magischen Fähigkeiten lebt beispielsweise im gleichen Kosmos wie Vroni und Thomas, zwei „normale“ Kinder. Ähnlich ist es beim Wassermann, der mit den an Land lebenden Kindern Freundschaft schließt. Den Lesenden bleibt nichts Anderes übrig, als diese Welten ohne klare Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion zu akzeptieren, wie sie sind. So lassen sie sich von der preußlerschen Magie verzaubern.
Otfried Preußler fängt seine Leserinnen und Leser nicht nur mithilfe der von ihm entworfenen Welten, Figuren und Handlungssträngen ein. Er lässt auch ihrer eigenen Fantasie reichlich Raum. Preußler-Biograf Tilman Spreckelsen hebt hervor, dass der Autor zumeist auf ausführliche Beschreibungen verzichte und stattdessen mit einfacher, aber wirkungsvoller Sprache arbeite. Seine Texte sind vergleichbar mit Strichzeichnungen, die den Betrachtenden die Möglichkeit geben, sie mit Farbe und eigenen Vorstellungen zu ergänzen und auszugestalten. Zu Lebzeiten setzte Preußler zudem aktiv Anreize, seine Geschichten außerhalb der literarischen Werke fortzuführen, indem er geschickt die Linie zwischen seiner Person und seinen Figuren verwischte. So beantwortete er Briefe seiner Leserinnen und Leser des Öfteren mit der Erzählstimme des Räuber Hotzenplotz, und hatte Spaß daran, dessen ausbaufähige Rechtschreibung zu verwenden.
Zeitlose Themen
Freundschaft, Abenteuer, der Kampf zwischen Gut und Böse – diese Themen sind universell und sind für das Gesamtwerk Preußlers grundlegend. Doch auch jene seiner Bücher, die spezifischere Themen behandeln, bestehen den Test der Zeit: Während der Autor in Die dumme Augustine die Gleichberechtigung von Frauen und Männern aufgreift, lässt sich sein Jugendroman Krabat als Metapher für die negativen Auswirkungen einer Diktatur interpretieren. Beide Beispiele sind nach wie vor aktuell. Otfried Preußler hatte ein Gespür für die Interessen seiner Leserinnen und Leser aller Altersstufen. Die tschechische Literaturwissenschaftlerin Tereza Hrubešová bekräftigt diese Intention der Doppelcodierung: „Sein Ziel [war] es, ein Buch zu schreiben, das zwar für Kinder bestimmt ist, aber an dem auch Erwachsene Vergnügen finden können“.
Ernst und Spaß
Dieses Ziel erreichte Otfried Preußler auch, weil er seinen Leserinnen und Lesern Respekt entgegenbrachte. Er sprach zu seinen Leserinnen und Lesern nicht von oben herab, wie es in anderen Kinderbüchern des 20. Jahrhunderts häufig geschah, sondern begegnete ihnen auf Augenhöhe. Obwohl der Autor lange Lehrer war, haben seine Geschichten keine prominenten didaktischen Züge. Für Otfried Preußler stand der Spaß an und mit der Literatur klar im Vordergrund. Seine Werke sah er als fiktive Schonräume für Kinder. Ja, es gibt sie, die bösen Hexen, den machtsüchtigen Müllermeister oder den fiesen Räuber, doch am Ende steht stets ein Happy End. Der Weg dorthin ist in jedem Preußler-Buch auf seine eigene Weise unterhaltsam. Was sie alle bieten, ist eine kleine Flucht vor der oft grauen Wirklichkeit. Das können wir alle hin und wieder gebrauchen – egal ob Kinder oder Erwachsene.