Info
10.10.2023, 16:31 Uhr
Corinne Theis
Rezensionen
images/lpbauthors/wolfsmehl_lpb.jpg
© Wolfsmehl

Wolfsmehls Erzählungen „Zeit der Unübertrefflichkeit“ und „Der Ideenfabrikant“

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/Wolfsmehl_Neuerscheinungen_500.jpg
Cover: © PalmArtPress. Die Bilder stammen von dem Maler und Schriftsteller Günter Maria Bregulla.

Michael Kumeth (*1960), unter dem Künstlernamen Wolfsmehl bekannt, verbrachte seine Kindheit auf Schloss Fronberg in Bayern und lebt derzeit am Lago di Valvestino in Italien. Seit 2020 als Hochschullehrer an der Akademie Faber-Castell aktiv, übernahm er dieses Jahr die Position des Studienleiters für den neu eingeführten Masterclass-Lehrgang für Dramatisches Schreiben. Neben seiner Funktion als Dozent hat sich Wolfsmehl einen Namen in der Literaturszene gemacht und arbeitet als Schriftsteller, Dramatiker, Drehbuchautor, Liedtexter sowie Film- und Hörspielproduzent. Nachdem seine Hörbücher Zeit der Unübertrefflichkeit (2000) und Der Ideenfabrikant (2007) von der Kritik höchste Anerkennung erfahren haben, wurden beide Werke nun im PalmArtPress Verlag neu veröffentlicht. Corinne Theis hat sie für uns gelesen.

*

Der Ideenfabrikant 

Wolfsmehl beschreibt eine Zukunft, in der Künstliche Intelligenz und „Medien-Diktatoren“ die Gesellschaft versklaven, ein ganzer Kosmos von Unterdrückung und Weltbotschaften tut sich auf.

(Christoph Lindenmeyer)

„Diese Ideenfabrik wurde von Seiner Exzellenz, dem Weltbotschafter Dr. Webwablü, am 30. Januar im Jahre 2133 in Betrieb genommen.“ Mit dieser Aufschrift wird dem Leser die Ideenfabrik in der Erzählung Der Ideenfabrikant vorgestellt. Dabei ist es vor allem das Datum, das nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesers erregt, sondern auch eine Ahnung auf die bevorstehende Handlung gibt: der 30. Januar 2133. Auch wenn die Geschichte in der Zukunft im Jahr 2139 spielt, wurde die erwähnte Fabrik bereits 2133 gegründet – genau 200 Jahre nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Nach dieser historischen Machtübernahme nutzten die Nationalsozialisten gezielte Propaganda und Gewaltmaßnahmen, die nicht nur ihren Einfluss vergrößerten, sondern auch die einstige Demokratie der Weimarer Republik unter sich begruben.

Durch diese implizite Referenz wird nicht nur eine signifikante Verbindung zwischen der sogenannten Ideenfabrik und den generellen manipulatorischen Machenschaften der NSDAP nach 1933 suggeriert, sondern vor allem auch Bezug auf die Mediendiktatur im Dritten Reich genommen. Mit dieser Verknüpfung nimmt die Erzählung einen dystopischen Charakter an, der sich mit der fortlaufenden Beschreibung der Ideenfabrik zunehmend verstärkt. Entgegen jeglicher zuversichtlichen Erwartung, die der Name einer Ideenfabrik suggerieren mag, handelt es sich bei dieser nicht um ein farbenfrohes Unternehmen, in dem Fantasie und Einfallsreichtum gefördert werden, sondern um eine Fabrik, in der jegliche Gedanken der Arbeiter strengster Kontrolle unterliegen. Viele von ihnen wurden um ihre Hoffnungen von einem besseren Leben betrogen, als sie „einstmals aus aller Herren Länder aufgebrochen [sind] [...], um im Schiffsbauch der Ideenfabrik ihr Glück zu machen.“ (S. 8)

Die daraus resultierende Diskrepanz zwischen den einstigen Erwartungen der Arbeiter und der vorzufindenden unterdrückten Stimmung wird von dem auktorialen Erzähler von Anfang an hervorgehoben. Beschrieben werden abgemühte und „erschöpfte Gestalten“ (S. 7), die sich nach getaner Schicht „wie an einer Peitschenschnur“ (S. 7) von ihrem Arbeitsplatz erheben und nur mit ein wenig Brot und Wasser versorgt werden. Allein dieser freiheitsraubende Zustand führt dazu, dass die Ideenfabrik weniger eine blühende „Produktionsstätte“ (S. 64) darstellt, sondern vielmehr einen „Friedhof der Phantasie“ (S. 64) – einen Ort, in dem nicht das Träumen, „Staunen und Begreifen“ (S. 67) zur Initiierung der Phantasie zählen, sondern lediglich das Ausschöpfen möglichst vieler profitbringender Ideen. An das Wohlergehen der Arbeiter wird dabei nicht gedacht, sie sind lediglich ein Mittel zum Zweck, um die gewünschte Rendite zu erreichen. Dies erklärt auch, weshalb von beiden Schichten niemand näher beschrieben wird: mit Ausnahme des Produktionsleiters Orplid, der als eine Art Protagonist der Erzählung fungiert, werden die Arbeitskräfte als eine homogene Gruppe gezeichnet. Die einzelnen Menschen treten hinter ihrer Rolle als Arbeiter zurück, schließlich geht es nicht um die Individuen und ihre Geschichten, sondern lediglich um das Kollektiv und die Konformität.

Wer dieser Mentalität entgegenstrebt oder dem geforderten Arbeitspensum nicht nachkommt, findet nicht nur in der eingerichteten Hinrichtungsstätte seinen Tod; auch wird sein Gehirn – wie das der anderen Hingerichteten – zu Mehl verarbeitet und in der Manege der Produktionshalle verstreut. Sinnbild dieser menschenentwürdigenden Arbeitspolitik ist der erkrankte Tortengraphiker, der, während er auf seine eigene Hinrichtung wartet, noch die der anderen erfasst. (S. 54) Verantwortlich für diese Institution, oder wie Orplid sie beschreibt, „grausam-gefräßige Gedankenmaschine“ (S. 26), ist dabei der namenlose Ideenfabrikant, „Urheber und Seele der Fabrik. Wobei diese Seele, so man sie denn eine Seele nennen konnte, da man dahinter eine Verglühung erahnte, im Ganzen wie die Verkrustung eines Steines anmutete.“ (S. 14) Mit bildhaften Umschreibungen wie diesen gelingt es dem Erzähler, die cholerischen und kalten Züge des zum Teil furchteinflößenden Ideenfabrikanten gekonnt in den Vordergrund zu rücken. Ebenso ist auch die konstante Fokussierung auf die Augen hervorzuheben, die als Pars pro toto für die Figuren zu verstehen sind: Erscheint nämlich das Augenpaar des Protagonisten Orplids „so sanftmütig“ wie „aus Moos beschaffen“, „blitzten und flackerten“ die Augen seines Antagonisten wie „Beutelichter“, „Feuerflecken“ und „pechschwarze Glutaugen“. Allein dieser Kontrast unterstreicht die unversöhnliche Divergenz zwischen den beiden Figuren. Während sich der eine durch die Errichtung einer Bibliothek um eine Wiederherstellung der Fantasie bemüht, hat der Ideenfabrikant durch seine „Gier die Phantasie ruiniert“, die „Leere verankert“ und die „humane Gesellschaft entwertet“ (S. 27).

Zeit der Unübertrefflichkeit

Ein Stoff, der Erinnerungen weckt: an große Bilder großer Filme, an Szenen wie bei Schindlers Liste, und doch ganz anders, nicht kafkaesk, sondern Wolfsmehl-typisch in seiner Mischung aus Endzeiterfahrung und ironischer Hoffnung.

(Christoph Lindenmeyer)

Eine ähnlich menschenentwürdigende und freiheitsraubende Szenerie findet der Leser auch in der Erzählung Zeit der Unübertrefflichkeit vor. Obwohl hier die gleichen Motive wie in Der Ideenfabrikant verfolgt werden, ereignet sich die Geschichte in einem Konzentrationslager – ein Ort, der unweigerlich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und damit einhergehend dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte verknüpft ist. Als kurzer Briefroman konzipiert, wendet sich einer der Lagerinsassen, Herr Schadrach, in zehn Briefen an einen Kommandanten. Aus der Ich-Perspektive, oder wie er es betont, „aus der Sicht des Opfers“ (S. 17) berichtet er retrospektiv von seinen Erlebnissen im Lager und von Foltermaßnahmen, die ihn beinahe das Leben gekostet hätten.

Bei der Lektüre dieser Briefe kristallisieren sich vor allem einerseits die maßlose Hybris der Menschen in einer Machtposition sowie andererseits das stillschweigende Ausführen ihrer inhumanen Befehle als wesentliche Kernaspekte der Erzählung heraus. Frei nach dem „unantastbaren“ Grundsatz des Lagers „Was Ihr tut, das ist wohlgetan!“ (S. 7) – eine abgewandelte Version der 1724 von Johann Sebastian Bach komponierten Kirchenkantate Was Gott tut, das ist wohlgetan – behalten sich die Verantwortlichen und Wachen das Recht vor, gottesähnlich über das Leben anderer zu bestimmen. Sinnbild dieser Denkweise ist vor allem Dr. Skindal, der sich mit regem Eifer der Gestaltung des Kommandantenzimmers widmet: „Wir Menschen sind Geschöpfe, die auf die seltsamsten Dinge stolz sein können. Mein ganzer Stolz ist dieses Zimmer hier! Etwas Vergleichbares hat die Welt noch nicht gesehen.“ (S. 51) Dass es bei der Renovierung vor allem darum geht, die Wände im wahrsten Sinne des Wortes mit den Häuten der Folteropfer zu tapezieren, scheint ihn dabei weniger zu stören, als vielmehr sein Wesen mit Stolz zu erfüllen. Tritt mit dieser außergewöhnlichen Häutungspraxis bereits ein Moment des Phantastischen ein, so verstärkt sich dieses umso mehr bei der Verschmelzung des Arztes mit seinem Rasiermesser: „Bald wusste ich nicht, was mehr glänzte und funkelte, die Klinge des Rasiermessers oder die stahlgrauen stechenden Augen des Mediziners. Beide verschmolzen geheimnisvoll miteinander, zu einem glänzenden Gebilde, dessen Strukturen sich in eine seelenlose Apparatur verwandelten, deren Dynamik ein tief verwurzelter Gehorsam zugrunde lag.“ (S. 16) Symbolisieren die fast schon unheimlich erscheinenden Augen die frevelnde Selbstüberhebung Skindals, so erinnert die dargestellte Einswerdung von Mensch und maschinellen Instrumenten gewissermaßen an E.T.A. Hoffmanns Phantastik in Der Sandmann oder Der Automat. Eine solche Gleichsetzung symbolisiert, inwiefern Skindal, einer Maschine ähnlich, einfach nur ‚funktioniert‘: Ohne jegliche moralische Empathie für seine Mitmenschen setzt er wahllos die Aufträge seiner Vorgesetzten durch.

Als ähnliche, wenn nicht sogar ausgeprägtere Mitläufer offenbaren sich auch beide anwesenden Wachen. Vor allem die jüngere erinnert dabei „in ihrer ganzen Statur an einen schlanken, hochmütigen Spielzeugprinzen, den man aufgezogen zur Hand nimmt und ihn dann mit seinem spöttischen, faltenlosen Lachen in einer ganz bestimmten Richtung durch die Kinderstube spazieren lässt.“ (S. 42) Obwohl an manchen Stellen unterschwellig der Anschein inneren Missmutes spürbar ist, verstricken sich beide durch die blinde Umsetzung menschenverachtender Befehle in die Mittäterschaft. Ebenso wie die Vorgesetzten tragen auch sie Schuld am Vergehen an „vielen pochenden Seelen [...], die all ihr blühendes Wesen ungeteilt zu opfern hatten, dort wo das Warten auf den Tod für den Normalzustand menschlicher Existenz gehalten wird“ (S. 93). Obwohl in der Erzählung die Folter fortwährend aufgeschoben und folglich keine physische Gewalt angewendet wird, evoziert die detaillierte Szenenschilderung eine erdrückende, fast schon unheimliche Stimmung. Vor allem durch seine Sprachfertigkeit gelingt es Wolfsmehl, die Todesangst des Opfers und die Hektik der Täter derart intensiv zum Ausdruck zu bringen, dass die inhärente Spannung für den Leser zum Greifen nahe ist. Indem bewusst auf einen auktorialen Erzähler verzichtet und die Erzählung stattdessen aus der Ich-Perspektive eines Lagerinsassen geschildert wird, rückt das Schicksal all jener Menschen in den Vordergrund, die in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Auch wenn er der Folter entkommen konnte, symbolisiert die Figur Schadrach die „endlose Kette Namenloser, Vergessener“ (S. 94) – Opfer, die dem Tod wehrlos ausgesetzt waren und bei denen allein „schon das geringste Wort genügt, uns [die Opfer, Anm. d. Red.] gänzlich zu zermalmen.“ (S. 93)

Fazit

Wenngleich Zeit der Unübertrefflichkeit und Der Ideenfabrikant trotz jeglicher Dystopie und Pessimismus letztlich ein gutes Ende finden, dürften diese Werke nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in erster Linie als Denkmal für die verstorbenen NS-Opfer und Mahnmal für kommende Generationen zu verstehen sind. Durch gekonnt eingesetzte Ironie und sein teilweise von fantastischen Elementen durchzogenen, metaphorischen Erzählstil gelingt es Wolfsmehl, die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft auf das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zu lenken. Die Botschaft, die sich hinter seinen Erzählungen verbirgt, ist klar: Keine Lebenssituation rechtfertigt es jemals, das Böse über das eigene ethische Urteilsvermögen obsiegen zu lassen. Die Leser Wolfsmehls werden durch die Lektüre nicht nur daran erinnert, was es bedeutet, Rückgrat zu besitzen und für moralische Grundwerte einzustehen, sondern auch darüber belehrt, welche Folgen es hat, wenn diese verlorengehen.

 

Wolfsmehl: der ideenfabrikant. PalmArtPress, Berlin 2023, 80 S., ISBN 978-3-96258-139-8, € 15,00.

Wolfsmehl: zeit der unübertrefflichkeit. PalmArtPress, Berlin 2023, 107 S., ISBN 978-3-96258-137-4, € 15,00.