Logen-Blog [166]: Im Alpenvorland
München leuchtete – nicht. Nicht allein auf der Burg Grünwald singen die Rittersleut das shakespearesche[1] Und der Regen regnet jeglichen Tag. Er sitzt in einer Kutsche, sie stürzt um, was soll das auf die alten Tage? Aber am Starnberger See ist es schön – die Sonne scheint, als hätte der liebe Gott irgendeinen Tag aus dem Sommerkalender geschnitten und in den Frühherbst geklebt – willkürlich, aber sehr, sehr schön. Jean Paul fährt mit Karl Christian von Mann, dem Präsidenten des Appellationsgerichts, an den See, er muss zwei Tage glücklich gewesen sein – wenigstens zwei Tage. Er sitzt auf dem Dampfer, der runter fährt nach Seeshaupt, vielleicht steigt er dort aus, um in ein Café zu gehen, vielleicht bleibt er auf dem Schiff; Bier bekommt er ja überall, das Schiff hat eine Restauration. Die Sonne glüht plötzlich aufs Deck, man merkt sie kaum, weil der Wind geht, auf der Rückfahrt wird er merken, wie kühl es ist. Immerhin ist es erst Frühsommer, die Alpen erscheinen im fernen Dunst – er hat noch nie die fernen, gewaltigen Tyrolerberge gesehen, die er sich doch über zwanzig Jahre zuvor im Titan erschrieben hatte. Gewiss, im letzten Jahr hatte er noch geschrieben, dass ihm die fernen Fichtelgebirge lieber seien als die nahen Alpen hinter München – aber da hatte er sie ja auch, in Bayreuth hockend, noch nicht gesehen.
Vielleicht hat er schon in Berg, bei der Anlegestelle, ein Schnitzel gegessen, er liebt diese oberbayerischen Schnitzel, die über den Tellerrand lappen (wie die populäre Formel lautet), Karoline macht sie ja auch gelegentlich, wofür sie kein Bairisches Kochbuch benötigt. Der See leuchtet, er leuchtet, der Präsident sitzt neben ihm, man schwatzt über das Leben, wie es sein sollte. Was sind ihm da die Gemälde in der Galerie? Gut, der Blaue Reiter ist wunderbar, auch wenn er nicht ganz versteht, wieso nun die Kühe gelb und die Pferde blau sind. Und dann diese Massen! Er mag das nicht: sich durch die Räume drängen und um den besten Platz kämpfen, wenn die Eltern mit ihren Klein- und Kleinstkindern so verzweifelt sind, dass sie in die Museen laufen müssen. Obwohl – denkt er, während sein Blick auf ein Mädchen fällt, das im Anblick der Vier Apostel versunken ist –: Den Dürer mögen sie. Kein Wunder, ist ja auch ein Franke.
Der See leuchtet, das Ufer glänzt. Das Leben könnte schön sein, wenn man nicht wieder diesen alten Roman unter den Fingern hätte, den man nun endlich beenden muss. Eine geborne Ruine, furchtbar. Da hilft kein See, da hilft kein König, da hilft keine Königin. Kann man sich mit den hohen Herrschaften darüber unterhalten? Das Gespräch ist windschief, er hatte es geahnt, sie kennen nicht einmal den Titan. Während er die neue Treppe zu den modernen Gemächern empor schreitet – ja, man kann hier nur schreiten, von laufen ist längst nicht mehr die Rede –, erinnert er sich plötzlich an die winzige Stube, in der er zu schreiben begann. Wie lange ist das her! Und wie wenig Zeit ist vergangen! Noch immer liegt da dieser Roman, er stört, er ist eine einzige Provokation in seiner Unvollendung. Aber hier in München – hier wirkt alles so, als sei es für die Ewigkeit gebaut. Er weiß nicht, wie es in einigen Jahren aussehen wird, schon bald wird man auch hier wieder einreißen, neu bauen, schöner, schneller, glatter bauen. Ist das Leben nicht an sich ein Fragment? Er ahnt es, als er auf die glatten Marmorflächen schaut, er spürt es, als er den Salon betritt, der einen anderen Raum zerstört hat: einen prachtvollen Raum, einen kaiserlichen Saal, der für die Ewigkeit gebaut schien. Am See war es anders: die Alpen stehen dort auch noch in 1000 Jahren, das Wasser wird sich bewegen wie ehedem – aber er weiß schon, dass auch die kleinen Dörfchen an den Ufern in hundert, zweihundert Jahren nicht mehr zu erkennen sein werden. Irgendwann werden auch sie zusammengewachsen sein zu einem einzigen, den See wie eine Riesenschlange umgreifenden, erpressenden Riesendorf.
In Berg kommt mir plötzlich die Idee, dass es völlig hybrid war, Jean Paul als den „größten bayerischen Schriftsteller“ zu bezeichnen. Wir vom Jean-Paul-Weg Oberfranken haben uns zweifellos vergaloppiert, als wir auf diese sinnlose Formel kamen – denn was ist das Größte? Eine undefinierbare Kategorie des Irrealen, die Jean Paul selbst als erster abgelehnt hätte. In Berg nämlich stoße ich auf Graf, Oskar Maria Graf, dessen Leben meiner Mutter schon ausreichen würde, ihn in die erste Reihe der bayerischen Autoren zu stellen. Sein Geburtshaus steht noch im Ort, man hat ihn, den einstigen Störenfried, auf die Fassade gemalt (worüber die Mutter verständnislos den Kopf schütteln würde).
Auch ein Geburtshaus: das des Schriftstellers Oskar Maria Graf in Berg. (Fotos: Frank Piontek, 28.5. 2013)
Ich stehe vor dem heute geschlossenen Haus und denke: Graf und Brecht und Thoma und Valentin und ich weißnichtnochwer: Haben diese sprachmächtigen Wirklichkeitsbeobachter nicht auch den Anspruch auf einen Titel, der so überflüssig ist wie schlechtes Bier? Immerhin haben sie Brecht – den bayerischen Schwaben – und Thoma in die Ruhmeshalle gestellt, wo auch Jean Paul steht. Immerhin hat Bernhard Setzwein, der gerade ein schönes Abecedarium über Jean Paul veröffentlichte und sich immer schon um die etwas anderen bayerischen Dichter kümmerte, einmal den Wunsiedler und den Berger in einen Satz und Zusammenhang gebracht: „Dazu kommen dann noch Autoren wie Oskar Maria Graf und Jean Paul, über die wir schon gesprochen haben, aber auch Einzelgänger wie Carl Amery und Paul Wühr.“ Kann sich noch jemand an die Bayreuther Lesung Carl Amerys erinnern? Paul Wühr: einer der Matadoren des Bielefelder Colloquiums, ich kann mich noch gut an den älteren Herren erinnern, der damals aus dem monumentalen Faulen Strick las. 700 Seiten Prosa – ein jeanpaulsches Projekt.
Drei größte bayerische Dichter: Brecht, Valentin, Thoma, teilweise anzutreffen in der Ruhmeshalle, auch in Grünwald (Fotos: Frank Piontek, 29. und 30.5. 2013)
Nein, Jean Paul ist groß, aber er ist nicht der Größte. Über Graf und sein Mutterbuch nachdenkend – und es mit zunehmender Spannung lesend – wird mir der Unsinn des vermeintlichen Ehrentitels bewusst, der ihn zu einem Olympier macht, der er nicht war: allen olympischen Überflügelungen zum Trotz. Man hat ihn in die Ruhmeshalle gestellt, gut – aber es beweist nichts. Der Akt der Pietät beweist allein, dass Ludwig I. wollte, dass die Büste des Dichters in der Halle ausgestellt wird. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Als ich zur Halle gehe und schließlich im Gang stehe, regnet es. In Berg, am See und beim kleinen Dichtergeburtshaus, scheint die Sonne, die Alpen leuchten in der zauberischen, lockenden Ferne. Mehr kann man nicht erwarten in diesen Tagen, da selbst die Rittersleut vom Regen singen.
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[1] Ich spare mir an dieser Stelle wirklich den allfälligen Hinweis auf den wahren Shakespeare – oder schenke ich ihn mir? – aber ist Sparen und Schenken in diesem Fall nicht dasselbe? „Wenn man es nur wüsste, wenn man es nur wüsste“, wie es so schön und traurig in den Drei Schwestern heißt.
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München leuchtete – nicht. Nicht allein auf der Burg Grünwald singen die Rittersleut das shakespearesche[1] Und der Regen regnet jeglichen Tag. Er sitzt in einer Kutsche, sie stürzt um, was soll das auf die alten Tage? Aber am Starnberger See ist es schön – die Sonne scheint, als hätte der liebe Gott irgendeinen Tag aus dem Sommerkalender geschnitten und in den Frühherbst geklebt – willkürlich, aber sehr, sehr schön. Jean Paul fährt mit Karl Christian von Mann, dem Präsidenten des Appellationsgerichts, an den See, er muss zwei Tage glücklich gewesen sein – wenigstens zwei Tage. Er sitzt auf dem Dampfer, der runter fährt nach Seeshaupt, vielleicht steigt er dort aus, um in ein Café zu gehen, vielleicht bleibt er auf dem Schiff; Bier bekommt er ja überall, das Schiff hat eine Restauration. Die Sonne glüht plötzlich aufs Deck, man merkt sie kaum, weil der Wind geht, auf der Rückfahrt wird er merken, wie kühl es ist. Immerhin ist es erst Frühsommer, die Alpen erscheinen im fernen Dunst – er hat noch nie die fernen, gewaltigen Tyrolerberge gesehen, die er sich doch über zwanzig Jahre zuvor im Titan erschrieben hatte. Gewiss, im letzten Jahr hatte er noch geschrieben, dass ihm die fernen Fichtelgebirge lieber seien als die nahen Alpen hinter München – aber da hatte er sie ja auch, in Bayreuth hockend, noch nicht gesehen.
Vielleicht hat er schon in Berg, bei der Anlegestelle, ein Schnitzel gegessen, er liebt diese oberbayerischen Schnitzel, die über den Tellerrand lappen (wie die populäre Formel lautet), Karoline macht sie ja auch gelegentlich, wofür sie kein Bairisches Kochbuch benötigt. Der See leuchtet, er leuchtet, der Präsident sitzt neben ihm, man schwatzt über das Leben, wie es sein sollte. Was sind ihm da die Gemälde in der Galerie? Gut, der Blaue Reiter ist wunderbar, auch wenn er nicht ganz versteht, wieso nun die Kühe gelb und die Pferde blau sind. Und dann diese Massen! Er mag das nicht: sich durch die Räume drängen und um den besten Platz kämpfen, wenn die Eltern mit ihren Klein- und Kleinstkindern so verzweifelt sind, dass sie in die Museen laufen müssen. Obwohl – denkt er, während sein Blick auf ein Mädchen fällt, das im Anblick der Vier Apostel versunken ist –: Den Dürer mögen sie. Kein Wunder, ist ja auch ein Franke.
Der See leuchtet, das Ufer glänzt. Das Leben könnte schön sein, wenn man nicht wieder diesen alten Roman unter den Fingern hätte, den man nun endlich beenden muss. Eine geborne Ruine, furchtbar. Da hilft kein See, da hilft kein König, da hilft keine Königin. Kann man sich mit den hohen Herrschaften darüber unterhalten? Das Gespräch ist windschief, er hatte es geahnt, sie kennen nicht einmal den Titan. Während er die neue Treppe zu den modernen Gemächern empor schreitet – ja, man kann hier nur schreiten, von laufen ist längst nicht mehr die Rede –, erinnert er sich plötzlich an die winzige Stube, in der er zu schreiben begann. Wie lange ist das her! Und wie wenig Zeit ist vergangen! Noch immer liegt da dieser Roman, er stört, er ist eine einzige Provokation in seiner Unvollendung. Aber hier in München – hier wirkt alles so, als sei es für die Ewigkeit gebaut. Er weiß nicht, wie es in einigen Jahren aussehen wird, schon bald wird man auch hier wieder einreißen, neu bauen, schöner, schneller, glatter bauen. Ist das Leben nicht an sich ein Fragment? Er ahnt es, als er auf die glatten Marmorflächen schaut, er spürt es, als er den Salon betritt, der einen anderen Raum zerstört hat: einen prachtvollen Raum, einen kaiserlichen Saal, der für die Ewigkeit gebaut schien. Am See war es anders: die Alpen stehen dort auch noch in 1000 Jahren, das Wasser wird sich bewegen wie ehedem – aber er weiß schon, dass auch die kleinen Dörfchen an den Ufern in hundert, zweihundert Jahren nicht mehr zu erkennen sein werden. Irgendwann werden auch sie zusammengewachsen sein zu einem einzigen, den See wie eine Riesenschlange umgreifenden, erpressenden Riesendorf.
In Berg kommt mir plötzlich die Idee, dass es völlig hybrid war, Jean Paul als den „größten bayerischen Schriftsteller“ zu bezeichnen. Wir vom Jean-Paul-Weg Oberfranken haben uns zweifellos vergaloppiert, als wir auf diese sinnlose Formel kamen – denn was ist das Größte? Eine undefinierbare Kategorie des Irrealen, die Jean Paul selbst als erster abgelehnt hätte. In Berg nämlich stoße ich auf Graf, Oskar Maria Graf, dessen Leben meiner Mutter schon ausreichen würde, ihn in die erste Reihe der bayerischen Autoren zu stellen. Sein Geburtshaus steht noch im Ort, man hat ihn, den einstigen Störenfried, auf die Fassade gemalt (worüber die Mutter verständnislos den Kopf schütteln würde).
Auch ein Geburtshaus: das des Schriftstellers Oskar Maria Graf in Berg. (Fotos: Frank Piontek, 28.5. 2013)
Ich stehe vor dem heute geschlossenen Haus und denke: Graf und Brecht und Thoma und Valentin und ich weißnichtnochwer: Haben diese sprachmächtigen Wirklichkeitsbeobachter nicht auch den Anspruch auf einen Titel, der so überflüssig ist wie schlechtes Bier? Immerhin haben sie Brecht – den bayerischen Schwaben – und Thoma in die Ruhmeshalle gestellt, wo auch Jean Paul steht. Immerhin hat Bernhard Setzwein, der gerade ein schönes Abecedarium über Jean Paul veröffentlichte und sich immer schon um die etwas anderen bayerischen Dichter kümmerte, einmal den Wunsiedler und den Berger in einen Satz und Zusammenhang gebracht: „Dazu kommen dann noch Autoren wie Oskar Maria Graf und Jean Paul, über die wir schon gesprochen haben, aber auch Einzelgänger wie Carl Amery und Paul Wühr.“ Kann sich noch jemand an die Bayreuther Lesung Carl Amerys erinnern? Paul Wühr: einer der Matadoren des Bielefelder Colloquiums, ich kann mich noch gut an den älteren Herren erinnern, der damals aus dem monumentalen Faulen Strick las. 700 Seiten Prosa – ein jeanpaulsches Projekt.
Drei größte bayerische Dichter: Brecht, Valentin, Thoma, teilweise anzutreffen in der Ruhmeshalle, auch in Grünwald (Fotos: Frank Piontek, 29. und 30.5. 2013)
Nein, Jean Paul ist groß, aber er ist nicht der Größte. Über Graf und sein Mutterbuch nachdenkend – und es mit zunehmender Spannung lesend – wird mir der Unsinn des vermeintlichen Ehrentitels bewusst, der ihn zu einem Olympier macht, der er nicht war: allen olympischen Überflügelungen zum Trotz. Man hat ihn in die Ruhmeshalle gestellt, gut – aber es beweist nichts. Der Akt der Pietät beweist allein, dass Ludwig I. wollte, dass die Büste des Dichters in der Halle ausgestellt wird. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Als ich zur Halle gehe und schließlich im Gang stehe, regnet es. In Berg, am See und beim kleinen Dichtergeburtshaus, scheint die Sonne, die Alpen leuchten in der zauberischen, lockenden Ferne. Mehr kann man nicht erwarten in diesen Tagen, da selbst die Rittersleut vom Regen singen.
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[1] Ich spare mir an dieser Stelle wirklich den allfälligen Hinweis auf den wahren Shakespeare – oder schenke ich ihn mir? – aber ist Sparen und Schenken in diesem Fall nicht dasselbe? „Wenn man es nur wüsste, wenn man es nur wüsste“, wie es so schön und traurig in den Drei Schwestern heißt.