„sie steht“. Von Tania Rupel Tera

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Bild von Julian Garces von Pixabay

Tania Rupel Tera (* 1969 in Blagoevgrad) studierte bulgarische Philologie und Journalistik in Sofia und lebt als Malerin und Schriftstellerin seit 2005 in München. Seit 2013 ist sie Mitglied im Freien Deutschen Autorenverband Bayern und in der Autoren Galerie 1, seit 2017 zudem Mitglied der Kulturplattform „jourfixe-muenchen e.V.“. Zuletzt erschienen von Tania Rupel Tera die Erzählungen und Impressionen Plötzliche Hunde (2018), die Lyrik- und Jazz Audio-CD Wundebar (2019) und der Lyrik- und Prosaband WellenSplitter (2023). 2020 errang die Künstlerin den 1. Platz beim Landschreiber-Wettbewerb „Sprache und Flucht“ in der Sparte Lyrik sowie den Europeans in art-Award beim Münchner Europa-Mai 2020 in der Kategorie „Künstlerinnen und Künstler für Europa“. 2023 erhielt sie den Jurypreis beim 4. Wettbewerb „Autorinnen und Autoren für Europa“ für das Gedicht „kannst du sie sehen“.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Gedicht beteiligt sich Tania Rupel Tera an der Fortsetzung von „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.

*

sie steht   

 

I

 

sie führt die Kleine / die schon die Junge genannt werden könnte 

an den Haaren ins Wohnzimmer / lässt das Wasser frei laufen

Teppich, Möbel, große Vase, Stuhl / alles verrückt

und schwimmt

 

WorteWirbel zieht beide nach unten / sie haben Angst / dort können sie

kaum Luft holen / das wilde Wasser schießt aus einem wahnsinnig 

steilen Rand / wirft die Welt um sich

 

zwei Körper umschlungen / dicht an einander / fremder Atem

nah ans eigene Gesicht / panischer Vogel stößt gegen die Brustwand

der Strom rasend, die Zeit lahm

 

Hände fallen mehrmals / abgesägte Äste auf verschiedenen Körperteilen

Hände machen Dach über dem Kopf / RückenBrücke / Schmerzen werden

geographisch wahrgenommen / irgendwo in den unerwarteten Ecken des

KörperLands

 

die Junge / die nicht mehr so klein ist / denkt nach, ob sie was sagt / und

schweigt / hin und wieder schreit sie / nach innen / sie stöhnt, die Ältere

zischt / Strom rasend, Zeit lahm

 

allmählich reduziert sich die Energie der Strömung / es wird wie aus einem

Schlauch / gezielt, kontrolliert / die Großgewordene überlegt wie sooft:

jetzt auf den Balkon / jetzt! / und ertrinkt in der Tiefe / der Liebe

 

Silben tröpfeln / aus den Augen / schmelzen auf den Lippen / der blinde Regen

tröpfelt herab / auf den vorne? / dort, wo die Sonne aufgeht und alle Nachbarn

herausgehen und zurückkehren / oder besser auf den Anderen?

 

die Frage stellt sich automatisch / in der Nähe von der Tür der Strafen

besser hinten, denkt sie / dort sind weniger Nachbarn / dort hört das Licht auf

du hörst nie zu! / er ist da / der sichere Satz / nun steht die Eine in seiner Mitte

wie auf einem Floß

 

und wird selbst wieder klein / die andere zerrt zu sich Buchstaben / du-du, st-st

zu-zu / versucht darauf zu klettern / will an einem Paddel bauen / um zu lenken

wie oft muss ich es dir sagen? / die aufblasbare Frage / bald ist es vorbei

 

nur ein wenig noch / nach unten blicken / noch ein bisschen / sich nach innen

beugen / nur ein wenig noch / die Stimme an den Ohren ziehen / sich noch ein bisschen

abflachen / die beide spüren / etwas ist aufgetaucht / schwimmt an der Oberfläche

 

bitte, wir können nichts Eigenes denken / flüstern von früher vergessene Buchstaben

in der Kleinen / ob sich Haare dehnen? / vielleicht habe ich jetzt Längere

es wird nicht gelenkt / es ist zu spät

 

 

II

 

dort, auf dem westlichen Balkon / wo die Sonne in den Boden versinkt / sitzt

die erwachsene Frau lange / sehr lange sucht sie ihre verlorenen Augen / am Berg

gegenüber / sie geht schwankend / in den Hochwald hinein / er bleibt unberührt

wechselt nur seine Farben mit der Zeit

 

die Jüngere sitzt in ihrer Nische / hinter einem Lehrbuch / schminkt sich langsam Ruhe

ins Gesicht / langsam finden Finger zu sich / basteln an eine TränenfesteMaskara

Finger fahren durch verworrene Haare / halten vorsichtig chaotische Gedanken auseinander

falten sie

 

reglos sitzt die Ältere gegenüber dem Abend / wandert schleichend nach oben / steigt

auf Knien empor / noch blind von Erinnerungen / bis sie endlich im Wald ein Auge findet

damit sucht sie den Weg zum Anderen / das noch irgendwo zurück herumirrt / das sich noch

auf dem Weg ausweint

 

irgendwann erreicht sie den Gipfel / während das Mädchen / die einsamste Wolke durchs

Fenster beobachtet / und sich an sie schmiegt / die Frau schaut noch keuchend von oben

auf all jene winzigen Dinge / auf die größeren / sie betrachtet die unbeweglichen Sachen

und die Unsichtbare / erahnt ihre Bewegungen

 

in der Dämmerung hält sie sich fest / an einigen sicheren Konturen / wie an Seilen

und irgendwann / irgendwann kommt sie unten an / dann nimmt sie ihre Kleine

an die Hand / führt sie ins Wortezimmer

 

dort trinken beide / aus jenem speziellen Cocktail / eine gewaltige Mischung

aus Stille / aus ihrem quälenden Nachklang / mit einem Nachgeschmack

von irgendwelchen roten Beeren / bitter und warm

 

sie schlucken herunter / Blicke hilflose Fliegen / gefangen im Glas / Frauen

schlucken und schlucken / verschlucken sich / an der gewaltigen Mischung

an ihrem quälenden Nachklang / aus uralten Schreien / knochige Trauer

und Scham

 

die Stille verschluckt sie / Frauen flackern in ihr / sie bebt / sie schluckt

schlägt und verschlingt weiter / alles / ihr Nachlass / fort / fort

irgendwo wartet wund / das erste Wort / wartet / wie lange noch?

 

Strom fließt, Zeit rast / fort / fort / weiter fließt der Strom, die Zeit steht / jemand

schleift wieder jemanden in die dunkelsten Ecken / der Stille / die Zeit steht

Wache