„Gebt uns Bücher!“ Film von Andreas Steinhöfel über die Kinder- und Jugendbuchpionierin Jella Lepman
„Gebt uns Bücher!“ – unter diesem Titel hat der erfolgreiche Jugendbuchautor und Filmer Andreas Steinhöfel das Leben der Journalistin und Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek Jella Lepman verfilmt. Am 23. Mai 2023 stellte er seinen Film in der IJB dem Publikum vor.
*
„Die Kinder tragen keine Schuld an diesem Krieg. Deshalb sollen ihre Bücher die ersten Boten des Friedens sein.“
Wie nimmt man die Fäden eines Lebens auf, das vor dreiundfünfzig Jahren zu Ende gegangen ist? Was ist zu tun, wenn dieses Leben bislang nicht die Würdigung erfahren hat, die es verdient? Am 23. Mai 2023 hat ein Dokumentarfilm seine Premiere in der Münchner Internationalen Jugendbibliothek. Ort der Uraufführung ist der Jella-Lepman-Saal. Dort sind sonst bekannte Autorinnen und Autoren zu Gast. An diesem Tage aber steht die Namensgeberin dieses Ortes im Mittelpunkt: Jella Lepman (1891-1970).
Der Film von Andreas Steinhöfel zeichnet das Leben einer Frau nach, die in sich widersprüchlich erschien, Schweres erleben und verarbeiten musste und mit äußerster Konsequenz ihre Ziele verfolgte. Die Premiere ist gut besucht. Im Publikum sitzen auch die Mitarbeitenden der IJB, die an dem Dokumentarfilm mitgewirkt haben.
Wie ist der Filmemacher zu diesem Projekt gekommen?
Im Vorgespräch mit Alexander Korb berichtet Andreas Steinhöfel, wie es zu diesem Film gekommen ist. Tatsächlich liegt der Anfang des Projekts in einem Aufenthalt Steinhöfels in München, währenddessen er auch zu Gast in der IJB war:
Für die Heimfahrt ... fehlte mir Bahnlektüre ... und ich war in einem kleinen Buchladen hier ... Da lag dieses ... Buch. ... Das Ding liest sich wie ein Abenteuerroman. Ich war total geflasht für zwei Tage. ... Und tatsächlich nach einem Viertel [des Buches] kam dieses Gefühl: Warum hat das noch keiner verfilmt, dieses Leben? Das ist so unglaublich, eben so voller Leben von einer Frau, die im Prinzip dauernd mit Tod konfrontiert war. Und das hat mich so gepackt. ... Warum lese ich irgendwelche Listen von den tollsten Frauen des 20. Jahrhunderts und dieser Name taucht da nirgends auf.
Es geht hier um Die Kinderbuchbrücke, das die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek veröffentlicht hat. Jella Lepman berichtet darin vom Aufbau einer Institution, die von Beginn an weitaus mehr ist als eine herkömmliche Bibliothek. Von Anfang an ist die IJB ein Ort, an dem Kindern jeden Alters Flügel wachsen können. Dieser Ort ist untrennbar mit der Begründerin der IJB verbunden und diesen Zusammenhang arbeiten Korb und Steinhöfel anschaulich heraus.
Der Film stellt diese beiden Aspekte in den Mittelpunkt: die Persönlichkeit Jella Lepmans und die IJB als Institution. Das Publikum wird Zeuge von Lepmans Lebensweg und der Gründungsphase der IJB, die sich letztlich über vier Jahre von 1945 bis 1949 hinzieht. Beides schildert die Dokumentation so eindrücklich, dass sich das Publikum während der Premiere immer wieder einbringt: Man lacht, man leidet mit und applaudiert stellenweise.
Was macht Jella Lepman aus?
Jella Lepman ist Jüdin und überzeugte Demokratin und zeigt und lebt dies auch. So kommt es, dass sie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ihre Anstellung als Redakteurin des Stuttgarter Neuen Tagblatts verliert und schließlich 1936 mit ihren Kindern erst nach Florenz und dann nach England emigriert. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt sie als Beraterin der US-Army nach Deutschland zurück. Dort soll sie das Reeducation-Programm in der amerikanischen Besatzungszone unterstützen. Von Anfang an konzentriert sie sich dabei auf die Kinder. 1946 initiiert sie die Internationale Jugendbuchausstellung im Haus der Kunst in München und schon hier entwickelt sie die Idee einer Bibliothek für Kinder und für Jugendliche. Es folgen die Gründung eines Vereins, die Suche nach Geldern und die mühselige Überzeugungsarbeit auf der politischen Ebene. Die IJB öffnet am 14. September 1949 ihre Türen. Jella Lepman hat ihr Ziel erreicht.
Zur Entstehung der IJB haben viele Menschen beigetragen. Die Frage, die alle an dem Film beteiligten Wissenschaftler, Zeitzeugen, die Film-Crew und das Team der IJB wie auch das Premierenpublikum bewegt, lautet: Was macht Jella Lepman aus? Andreas Steinhöfel sagt dazu im Vorgespräch:
Sie hat so eine verhaltene Emotionalität. ... Das macht die Lektüre (des Buches) auch so doppelbödig ... emotional spannend für einen selber. Die redet wenig über Gefühle ... Sie tut, was sie meint tun zu müssen. Und sie macht da nicht viel Aufhebens drum ... Die war schon ein harter Knochen ... Was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, was sie haben wollte ... Dann hat die auch nicht eher lockergelassen, bis sie es hatte. Wie sie sich dann konkret gefühlt hat? Sie stellte das immer hinter das, was sie wollte.
Dank des Dokumentarfilms wird wohl vor allem die Hartnäckigkeit im Gedächtnis bleiben, mit der sie ihre Ziele in der von Männern dominierten Welt verfolgt. Sie konnte nerven, heißt es von ihr. Und das scheint auch bitter nötig gewesen zu sein. Denn sie findet sich 1945 in einem Land wieder, das materiell und moralisch am Boden liegt und mit seiner jüngsten Vergangenheit nur noch abschließen will. Auf ihrer Reise durch die amerikanische Besatzungszone (1945-46) macht Jella Lepman auch in ihrer Heimatstadt Stuttgart halt. Dort besucht sie ihre ehemaligen Kollegen vom Neuen Stuttgarter Tagblatt. Sie ist über die Leichtigkeit, mit der diese die Wechsel vollzogen haben, von einer demokratisch verfassten Zeitung über die gleichgeschaltete Zeitung der Nazi-Diktatur hin zu einem Blatt, das nun zum Aufbau einer neuen Demokratie beitragen soll. Die Eindrücke, die sie hier und anderswo auf ihrer Rundreise sammelt, fasst ein Zitat aus ihrem Buch Die Kinderbuchbrücke zusammen:
Schwarz war nicht Schwarz und Weiß nicht Weiß. Es gab ungezählte und ungeahnte Zwischentöne. Man war Mitglied der Partei gewesen, um gerade in dieser abgesicherten Stellung zu einer Hilfe für die Bedrängten zu werden. Man hatte niemals ein Parteiabzeichen getragen und trotzdem Schuld auf sich geladen.
Wie geht man mit der Angst um, dass sich alles wiederholt?
Der Film orientiert sich fortan an der Entstehungsgeschichte der IJB: Er verweist auf eine Szene, die wohl als Initialzündung für Lepmans Idee gelten kann, einen Bücherort für Kinder in Deutschland zu schaffen. Gleich am Anfang ihrer Rundreise kommt es zu einer Begegnung, die für sie entscheidend ist. Sie schaut aus einem fahrenden Zug und beobachtet:
Einmal winkte ein Kind. Es stand auf einer halbzerbombten Treppe und hatte, oh Wunder, eine Herbstblume in der Hand. An dieses Kind habe ich oft gedacht. Ich begann mir vorzustellen, dass, wenn keine Hilfe von außen kam, die Kinder leicht in falsche Hände geraten würden. Waren die Kinder Deutschlands nicht genauso schuldlos wie die Kinder überall auf der Welt? Wehrlose Opfer furchtbarer Ereignisse?
Jella Lepmans Aufgabe in der amerikanischen Besatzungszone war die Unterstützung des Reeducation-Programms. Die flüchtige Begegnung aus der Ferne mit jenem Kind bestärkt sie darin, genau dort anzusetzen: bei den Kindern. Für sie und mit ihnen will sie ein neues Land aufbauen. Und das Mittel ihrer Wahl sind Bücher. Die Dokumentation zeichnet ihren Weg anschaulich nach. Unermüdlich überzeugt sie Verleger sowie Autoren und Vertreter von Gesellschaft und Politik, an ihrem Vorhaben mitzuwirken:
Man muss eine Möglichkeit schaffen, die Verleger über die Kinder- und Jugendliteratur anderer Nationen zu unterrichten. Dies musste einer meine ersten Unternehmungen sein. Als eine der Hauptmaßnahmen schlug ich eine Ausstellung der besten Kinder- und Jugendbücher verschiedener Nationen vor. Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.
Nahrung für den Geist
Damit ist die Gründung der IJB filmisch aufbereitet. Es folgen nun die wichtigsten Stationen eines Weges, der am 14. September mit der Eröffnung des Hauses endet.
Der erste große Schritt ist die Organisation der Internationalen Jugendbuchausstellung am 3. Juni 1946 im Haus der Kunst in München. Die Ausstellung ist hier und in anderen Städten ein großer Erfolg. Und bereits bei der Eröffnung hat Lepman den Entschluss gefasst, dass aus der Ausstellung eine Bibliothek erwachsen soll. Sie macht sich mit der ihr eigenen Energie und Kompromisslosigkeit daran, diese Idee wahr werden zu lassen.
So unternimmt sie 1948 eine ausgedehnte Reise durch die USA und hält Vorträge, um für ihr Projekt zu werben. Dabei trifft sie auch mit Eleanor Roosevelt zusammen, die mit ihren Verbindungen u.a. zur Rockefeller Foundation maßgeblich zur Gründung der IJB beiträgt. Am 27. Mai 1948 veröffentlich Roosevelt in ihrer Kolumne My Day einen Artikel über ihre Begegnung mit der späteren IJB-Gründerin (Food for Thought – Nahrung für den Geist). Im selben Jahr folgt die Gründung des Vereins der Freunde der Internationalen Jugendbibliothek e.V., an dem u.a. auch Erich Kästner und Hildegard Brücher beteiligt waren.
Zwischenzeitlich scheinen politische Widerstände sowie die Währungsreform das Projekt zu gefährden. Dennoch – wie es im Film heißt – „hielt Lepman Kurs“: „Ich aber bin bereits mit vollen Segeln auf das Meer hinausgefahren. Es gab kein Zurück mehr. Vermochten die anderen mir nicht zu helfen, musste ich es selbst tun.“
Als es darum geht, einen Ort für die IJB zu finden, kommt es zu einer Begegnung Lepmans mit dem damals amtierenden bayerischen Minister für Unterricht und Kultus Alois Hundhammer (1900-1974). Lepman gibt in Die Kinderbuchbrücke zwar nicht allzu viel über dieses Gespräch preis. Es muss aber einen für sie wenig akzeptablen Verlauf genommen haben, wie folgende Zitat zeigt:
Generationen von Kindern werden Sie verfluchen, wenn Sie den Aufbau der Internationalen Jugendbibliothek verhindern. Er erbleichte sichtlich bei dieser Prophezeiung und plötzlich ahnte ich meine Vermessenheit. Hier focht ein Mann einen Gewissenskonflikt in sich aus, der ihm trotz allem zur Ehre gereichte. So streckte ich ihm versöhnlich die Hand entgegen, in die er einschlug. Am nächsten Tag kam ein Brief, in dem er uns die Zusage für das Haus gab.
Gemeint ist die Villa in der Kaulbachstraße 11a. Sie wird zum ersten Standort der IJB. Dort sollen sich bald unerhörte Dinge abspielen, die sich nach damaliger allgemein geteilter Ansicht so gar nicht für Bibliotheken schicken: das eine oder andere Buch-Quiz, Vorführungen im Kasperl-Theater, Sprachkurse ... und eine Filmpremiere am 23. Mai 2023. Die IJB, längst in der Münchner Blutenburg ansässig, ist heute ebenso lebendig wie zu Zeiten ihrer Begründerin Jella Lepman. Und sie ist wichtiger denn je.
Jella Lepman: Die Kinderbuchbrücke, hg. von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarbeit von Anna Becchi. Verlag Antje Kunstmann, München 2020.
„Gebt uns Bücher!“ Film von Andreas Steinhöfel über die Kinder- und Jugendbuchpionierin Jella Lepman>
„Gebt uns Bücher!“ – unter diesem Titel hat der erfolgreiche Jugendbuchautor und Filmer Andreas Steinhöfel das Leben der Journalistin und Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek Jella Lepman verfilmt. Am 23. Mai 2023 stellte er seinen Film in der IJB dem Publikum vor.
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„Die Kinder tragen keine Schuld an diesem Krieg. Deshalb sollen ihre Bücher die ersten Boten des Friedens sein.“
Wie nimmt man die Fäden eines Lebens auf, das vor dreiundfünfzig Jahren zu Ende gegangen ist? Was ist zu tun, wenn dieses Leben bislang nicht die Würdigung erfahren hat, die es verdient? Am 23. Mai 2023 hat ein Dokumentarfilm seine Premiere in der Münchner Internationalen Jugendbibliothek. Ort der Uraufführung ist der Jella-Lepman-Saal. Dort sind sonst bekannte Autorinnen und Autoren zu Gast. An diesem Tage aber steht die Namensgeberin dieses Ortes im Mittelpunkt: Jella Lepman (1891-1970).
Der Film von Andreas Steinhöfel zeichnet das Leben einer Frau nach, die in sich widersprüchlich erschien, Schweres erleben und verarbeiten musste und mit äußerster Konsequenz ihre Ziele verfolgte. Die Premiere ist gut besucht. Im Publikum sitzen auch die Mitarbeitenden der IJB, die an dem Dokumentarfilm mitgewirkt haben.
Wie ist der Filmemacher zu diesem Projekt gekommen?
Im Vorgespräch mit Alexander Korb berichtet Andreas Steinhöfel, wie es zu diesem Film gekommen ist. Tatsächlich liegt der Anfang des Projekts in einem Aufenthalt Steinhöfels in München, währenddessen er auch zu Gast in der IJB war:
Für die Heimfahrt ... fehlte mir Bahnlektüre ... und ich war in einem kleinen Buchladen hier ... Da lag dieses ... Buch. ... Das Ding liest sich wie ein Abenteuerroman. Ich war total geflasht für zwei Tage. ... Und tatsächlich nach einem Viertel [des Buches] kam dieses Gefühl: Warum hat das noch keiner verfilmt, dieses Leben? Das ist so unglaublich, eben so voller Leben von einer Frau, die im Prinzip dauernd mit Tod konfrontiert war. Und das hat mich so gepackt. ... Warum lese ich irgendwelche Listen von den tollsten Frauen des 20. Jahrhunderts und dieser Name taucht da nirgends auf.
Es geht hier um Die Kinderbuchbrücke, das die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek veröffentlicht hat. Jella Lepman berichtet darin vom Aufbau einer Institution, die von Beginn an weitaus mehr ist als eine herkömmliche Bibliothek. Von Anfang an ist die IJB ein Ort, an dem Kindern jeden Alters Flügel wachsen können. Dieser Ort ist untrennbar mit der Begründerin der IJB verbunden und diesen Zusammenhang arbeiten Korb und Steinhöfel anschaulich heraus.
Der Film stellt diese beiden Aspekte in den Mittelpunkt: die Persönlichkeit Jella Lepmans und die IJB als Institution. Das Publikum wird Zeuge von Lepmans Lebensweg und der Gründungsphase der IJB, die sich letztlich über vier Jahre von 1945 bis 1949 hinzieht. Beides schildert die Dokumentation so eindrücklich, dass sich das Publikum während der Premiere immer wieder einbringt: Man lacht, man leidet mit und applaudiert stellenweise.
Was macht Jella Lepman aus?
Jella Lepman ist Jüdin und überzeugte Demokratin und zeigt und lebt dies auch. So kommt es, dass sie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ihre Anstellung als Redakteurin des Stuttgarter Neuen Tagblatts verliert und schließlich 1936 mit ihren Kindern erst nach Florenz und dann nach England emigriert. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt sie als Beraterin der US-Army nach Deutschland zurück. Dort soll sie das Reeducation-Programm in der amerikanischen Besatzungszone unterstützen. Von Anfang an konzentriert sie sich dabei auf die Kinder. 1946 initiiert sie die Internationale Jugendbuchausstellung im Haus der Kunst in München und schon hier entwickelt sie die Idee einer Bibliothek für Kinder und für Jugendliche. Es folgen die Gründung eines Vereins, die Suche nach Geldern und die mühselige Überzeugungsarbeit auf der politischen Ebene. Die IJB öffnet am 14. September 1949 ihre Türen. Jella Lepman hat ihr Ziel erreicht.
Zur Entstehung der IJB haben viele Menschen beigetragen. Die Frage, die alle an dem Film beteiligten Wissenschaftler, Zeitzeugen, die Film-Crew und das Team der IJB wie auch das Premierenpublikum bewegt, lautet: Was macht Jella Lepman aus? Andreas Steinhöfel sagt dazu im Vorgespräch:
Sie hat so eine verhaltene Emotionalität. ... Das macht die Lektüre (des Buches) auch so doppelbödig ... emotional spannend für einen selber. Die redet wenig über Gefühle ... Sie tut, was sie meint tun zu müssen. Und sie macht da nicht viel Aufhebens drum ... Die war schon ein harter Knochen ... Was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, was sie haben wollte ... Dann hat die auch nicht eher lockergelassen, bis sie es hatte. Wie sie sich dann konkret gefühlt hat? Sie stellte das immer hinter das, was sie wollte.
Dank des Dokumentarfilms wird wohl vor allem die Hartnäckigkeit im Gedächtnis bleiben, mit der sie ihre Ziele in der von Männern dominierten Welt verfolgt. Sie konnte nerven, heißt es von ihr. Und das scheint auch bitter nötig gewesen zu sein. Denn sie findet sich 1945 in einem Land wieder, das materiell und moralisch am Boden liegt und mit seiner jüngsten Vergangenheit nur noch abschließen will. Auf ihrer Reise durch die amerikanische Besatzungszone (1945-46) macht Jella Lepman auch in ihrer Heimatstadt Stuttgart halt. Dort besucht sie ihre ehemaligen Kollegen vom Neuen Stuttgarter Tagblatt. Sie ist über die Leichtigkeit, mit der diese die Wechsel vollzogen haben, von einer demokratisch verfassten Zeitung über die gleichgeschaltete Zeitung der Nazi-Diktatur hin zu einem Blatt, das nun zum Aufbau einer neuen Demokratie beitragen soll. Die Eindrücke, die sie hier und anderswo auf ihrer Rundreise sammelt, fasst ein Zitat aus ihrem Buch Die Kinderbuchbrücke zusammen:
Schwarz war nicht Schwarz und Weiß nicht Weiß. Es gab ungezählte und ungeahnte Zwischentöne. Man war Mitglied der Partei gewesen, um gerade in dieser abgesicherten Stellung zu einer Hilfe für die Bedrängten zu werden. Man hatte niemals ein Parteiabzeichen getragen und trotzdem Schuld auf sich geladen.
Wie geht man mit der Angst um, dass sich alles wiederholt?
Der Film orientiert sich fortan an der Entstehungsgeschichte der IJB: Er verweist auf eine Szene, die wohl als Initialzündung für Lepmans Idee gelten kann, einen Bücherort für Kinder in Deutschland zu schaffen. Gleich am Anfang ihrer Rundreise kommt es zu einer Begegnung, die für sie entscheidend ist. Sie schaut aus einem fahrenden Zug und beobachtet:
Einmal winkte ein Kind. Es stand auf einer halbzerbombten Treppe und hatte, oh Wunder, eine Herbstblume in der Hand. An dieses Kind habe ich oft gedacht. Ich begann mir vorzustellen, dass, wenn keine Hilfe von außen kam, die Kinder leicht in falsche Hände geraten würden. Waren die Kinder Deutschlands nicht genauso schuldlos wie die Kinder überall auf der Welt? Wehrlose Opfer furchtbarer Ereignisse?
Jella Lepmans Aufgabe in der amerikanischen Besatzungszone war die Unterstützung des Reeducation-Programms. Die flüchtige Begegnung aus der Ferne mit jenem Kind bestärkt sie darin, genau dort anzusetzen: bei den Kindern. Für sie und mit ihnen will sie ein neues Land aufbauen. Und das Mittel ihrer Wahl sind Bücher. Die Dokumentation zeichnet ihren Weg anschaulich nach. Unermüdlich überzeugt sie Verleger sowie Autoren und Vertreter von Gesellschaft und Politik, an ihrem Vorhaben mitzuwirken:
Man muss eine Möglichkeit schaffen, die Verleger über die Kinder- und Jugendliteratur anderer Nationen zu unterrichten. Dies musste einer meine ersten Unternehmungen sein. Als eine der Hauptmaßnahmen schlug ich eine Ausstellung der besten Kinder- und Jugendbücher verschiedener Nationen vor. Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen.
Nahrung für den Geist
Damit ist die Gründung der IJB filmisch aufbereitet. Es folgen nun die wichtigsten Stationen eines Weges, der am 14. September mit der Eröffnung des Hauses endet.
Der erste große Schritt ist die Organisation der Internationalen Jugendbuchausstellung am 3. Juni 1946 im Haus der Kunst in München. Die Ausstellung ist hier und in anderen Städten ein großer Erfolg. Und bereits bei der Eröffnung hat Lepman den Entschluss gefasst, dass aus der Ausstellung eine Bibliothek erwachsen soll. Sie macht sich mit der ihr eigenen Energie und Kompromisslosigkeit daran, diese Idee wahr werden zu lassen.
So unternimmt sie 1948 eine ausgedehnte Reise durch die USA und hält Vorträge, um für ihr Projekt zu werben. Dabei trifft sie auch mit Eleanor Roosevelt zusammen, die mit ihren Verbindungen u.a. zur Rockefeller Foundation maßgeblich zur Gründung der IJB beiträgt. Am 27. Mai 1948 veröffentlich Roosevelt in ihrer Kolumne My Day einen Artikel über ihre Begegnung mit der späteren IJB-Gründerin (Food for Thought – Nahrung für den Geist). Im selben Jahr folgt die Gründung des Vereins der Freunde der Internationalen Jugendbibliothek e.V., an dem u.a. auch Erich Kästner und Hildegard Brücher beteiligt waren.
Zwischenzeitlich scheinen politische Widerstände sowie die Währungsreform das Projekt zu gefährden. Dennoch – wie es im Film heißt – „hielt Lepman Kurs“: „Ich aber bin bereits mit vollen Segeln auf das Meer hinausgefahren. Es gab kein Zurück mehr. Vermochten die anderen mir nicht zu helfen, musste ich es selbst tun.“
Als es darum geht, einen Ort für die IJB zu finden, kommt es zu einer Begegnung Lepmans mit dem damals amtierenden bayerischen Minister für Unterricht und Kultus Alois Hundhammer (1900-1974). Lepman gibt in Die Kinderbuchbrücke zwar nicht allzu viel über dieses Gespräch preis. Es muss aber einen für sie wenig akzeptablen Verlauf genommen haben, wie folgende Zitat zeigt:
Generationen von Kindern werden Sie verfluchen, wenn Sie den Aufbau der Internationalen Jugendbibliothek verhindern. Er erbleichte sichtlich bei dieser Prophezeiung und plötzlich ahnte ich meine Vermessenheit. Hier focht ein Mann einen Gewissenskonflikt in sich aus, der ihm trotz allem zur Ehre gereichte. So streckte ich ihm versöhnlich die Hand entgegen, in die er einschlug. Am nächsten Tag kam ein Brief, in dem er uns die Zusage für das Haus gab.
Gemeint ist die Villa in der Kaulbachstraße 11a. Sie wird zum ersten Standort der IJB. Dort sollen sich bald unerhörte Dinge abspielen, die sich nach damaliger allgemein geteilter Ansicht so gar nicht für Bibliotheken schicken: das eine oder andere Buch-Quiz, Vorführungen im Kasperl-Theater, Sprachkurse ... und eine Filmpremiere am 23. Mai 2023. Die IJB, längst in der Münchner Blutenburg ansässig, ist heute ebenso lebendig wie zu Zeiten ihrer Begründerin Jella Lepman. Und sie ist wichtiger denn je.
Jella Lepman: Die Kinderbuchbrücke, hg. von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarbeit von Anna Becchi. Verlag Antje Kunstmann, München 2020.